Protokoll der Sitzung vom 09.07.2009

Wer von Realität spricht, sollte dann schon in der Realität sein, Herr Kerstan. Die Bürger machen sich eher darum Sorgen, dass die Politiker jeglichen Realitätsbezug verlieren, als dass hier von merkwürdigen hohen Zahlungen gesprochen wird, die woanders ohne Weiteres möglich sind.

Frau Badde, Fachanweisungen gibt es nicht nur von Seiten der Bundesagentur für Arbeit, es gibt sie auch im Land Hamburg und wenn Sie einmal googeln wollen, Paragraph 22, Fachliche Vorgaben, dann werden Sie das dort finden und feststellen, das ist Hamburg-bezogen.

Tatsache ist, dass vielen Hartz-IV-Geschädigten der für eine wirkliche Teilhabe nicht ausreichende Regelsatz von 359 Euro inzwischen gar nicht mehr zur Verfügung.

(Olaf Ohlsen CDU: Unglaublich!)

Sehr viele dieser Menschen leben von Beträgen – hören Sie gut zu, Herr Ohlsen – zwischen 200 und 300 Euro im Monat. Das können Sie sich ganz sicher nicht vorstellen. Es gibt auch solche, die sogar von Beträgen unter 200 Euro monatlich leben müssen. Die ARGEn spielen virtuos auf der Klaviatur von Anrechnungen und Sanktionen, um die von Ihnen geforderten Einsparungen rigoros und häufig rechtswidrig zu gewährleisten. Das können Sie sich einmal hinter die Ohren schreiben, Herr Ohlsen.

(Olaf Ohlsen CDU und Karl-Heinz Warnholz CDU: Na, na, na!)

Da wird das Recht auf Existenz sehr schnell zur Bitte um Barmherzigkeit, zur Bitte um einen Platz an einer der berühmt-berüchtigten Tafeln und das Recht weicht da dem Bettelstab. Das ist die armselige Bilanz einer Politik der Ausgrenzung und Stigmatisierung, die die sogenannten Hartz-Gesetze, auch Schröder-Gesetze genannt, kennzeichnen.

(Beifall bei Christiane Schneider DIE LINKE)

Viele Hartz-IV-Geschädigte wurden von der ARGE aufgefordert, ihre Miete zu senken, weil die sogenannte angemessene Miete überschritten werde. Wenn die Betroffenen es nicht schaffen, innerhalb eines halben Jahres eine billigere Wohnung zu finden, werden die Kosten der Unterkunft gekürzt. Den Rest müssen die Leute dann aus dem Regelsatz zahlen. Dabei sind sie auch noch darauf angewiesen, im Wohnungsbestand der SAGA zu suchen, da die ARGE Makler- und Courtagekosten und so weiter zumindest vordergründig nicht übernimmt und meistens auch keine Zusage gibt, Genossenschaftsanteile zu übernehmen. Der in Frage kommende Wohnungsbestand schrumpft also auf einige wenige Wohnungen zusammen. Das ist die Realität, Herr Kerstan. Der freie Wohnungsmarkt ist komplett versperrt, würde in der Preisklasse aber auch nicht so viel hergeben, wie die Schüler vom Gymnasium Ohmoor jüngst wieder festgestellt haben. Die Wohnungsmieten und -preise bei Neuvermietungen sind danach gegenüber dem Vergleichszeitraum von 2008 um 3,6 Prozent gestiegen, das heißt, innerhalb der letzten drei Jahre sind die Mieten bei Neuvermietung um sage und schreibe 17,3 Prozent angestiegen.

Wenn wir uns einmal die Angebote der SAGA vom letzten Montag, dem 6. Juli, ansehen, sind genau 27 Wohnungen in ganz Hamburg im Angebot, davon nur zwei, die für Singles in Frage kommen könnten. Eine davon hat gerade einmal 18 Quadratmeter. Vielleicht wollen Sie da einziehen, Herr Ohlsen?

(Olaf Ohlsen CDU: Aber gerne!)

18 Quadratmeter, können Sie sich das vorstellen? Gerade einmal sieben Wohnungen kommen für

(Jens Kerstan)

zwei Personen in Frage. Die restlichen 18 Wohnungen sind relativ große Wohnungen für mindestens dreiköpfige Familien, aber hinzu kommt, dass selbst die SAGA GWG ungern an Hartz-IVGeschädigte vermietet. Jetzt kommen wir zum Punkt: Es ist ein Unding, dass die Menschen einen Teil ihrer Miete aus ihrem Regelsatz zahlen müssen, obwohl die Chance, eine billigere Wohnung zu finden, gegen null tendiert.

(Beifall bei der LINKEN)

Solange nicht durch ein Wohnungsbauprogramm, das den sozialen Wohnungsbau massiv fördert, genügend preiswerter Wohnraum fertig gestellt ist, muss in einer Fachanweisung – da sind wir wieder – klargestellt werden, dass keine weiteren Forderungen, die Mietkosten abzusenken, mehr ergehen. Nicht mehr und nicht weniger.

Was die Ein-Euro-Jobs angeht, habe ich mich dazu erst auf der letzten Sitzung der Bürgerschaft vor wenigen Wochen ausführlich geäußert. Sie gehören abgeschafft, jawohl, Frau Badde, sie gehören abgeschafft.

(Beifall bei der LINKEN)

Stattdessen brauchen wir reguläre Arbeitsplätze in den Bereichen, die wirklich jeder Hamburger braucht, im Bereich der Bildung, der Gesundheit und der Pflege. Dort liegen die Arbeitsplätze, die Sinn für unsere Gesellschaft machen und nicht nur Beschäftigungsmaßnahmen darstellen, Frau Badde. Wir können und dürfen es uns nicht leisten, Menschen ohne jede Perspektive zu beschäftigen, nur weil es vielen offensichtlich schwerfällt mit anzusehen, dass jemand morgens um 8 Uhr vielleicht noch in Federn liegt. Sprechen Sie einmal mit den Leuten, die in den Beschäftigungsmaßnahmen sind. Fragen Sie sie einmal, wie sie ihre Perspektiven sehen. Sie sagen, dass sie froh sind, den Job zu haben, aber eine Perspektive sehen sie für sich nicht. Das ist nicht nur hochgradiger Unsinn, was da passiert, sondern – Frau Badde, hören Sie gut zu – es zeugt von einem Menschenbild und einem Kontrollanspruch, den wir doch eigentlich überwunden glaubten.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kollegen, so manchem unter uns – auch Ihnen, Frau Badde, denn Sie vertreten doch die Meinung, dass die Leute eine Struktur brauchen, die sie durch den Ein-Euro-Job bekommen – spreche ich die so viel gerühmte Arbeitsstruktur ebenso ab, wie Sie das bei den Langzeiterwerbslosen tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Es muss versucht werden, so viele Menschen wie möglich, insbesondere natürlich junge Menschen, für die Gesundheits- und Pflegebranche zu gewinnen, was umso leichter sein wird, je angemessener die Bezahlung ausfällt. Dort liegt unsere Zukunft und dort muss investiert werden. Falls Sie wieder

einmal fragen wollten, wie man das denn bezahlen solle – wir haben das vorhin schon von Herrn von Frankenberg gehört, auf dessen Redebeitrag ich wirklich nicht eingehe, weil er ohne jede Substanz war –,

(Beifall bei der LINKEN)

dann antworte ich Ihnen: Machen Sie sich nicht lächerlich angesichts der enormen Finanzspritzen, die die Bürgerschaft für das Bankgewerbe beschlossen hat.

(Jens Kerstan GAL: Da haben wir aber ge- sagt, wo's herkommt!)

Da wäre Ihre Frage eher angebracht gewesen, aber da ging es um Höheres, es ging nicht um Pflege, Gesundheit oder Bildung. In diesen Branchen und natürlich auch in anderen müssen so viele Ausbildungsplätze wie möglich geschaffen werden, und zwar nicht nur für Abiturienten, die inzwischen den Realschülern und sogar den Hauptschülern die Ausbildungsplätze wegnehmen, sondern auch für junge Menschen mit Hauptschulabschluss und mit nicht so gutem Realschulabschluss muss es wieder Perspektiven geben. Wenn man die Angebote bei der Bundesagentur für Arbeit, bei Jobbörse.de, online einmal aufmerksam durchsieht – das empfehle ich übrigens auch Ihnen, Herr von Frankenberg –, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass sehr viele der Ausbildungsangebote, die Sie so gelobt haben, gar keine sind, sondern Fälschungen. Da suchen einige Arbeitgeber gar keine Azubis, sondern sie tun nur so. Hinterher wird behauptet, man hätte gesucht, aber die jungen Leute heutzutage wären alle nicht so richtig zu gebrauchen. Ich nenne das Menschenverachtung, Ausgrenzung, Arroganz und Ignoranz.

(Beifall bei der LINKEN)

Diesen selbsternannten Nichtlehrherren oder meinethalben auch Nichtlehrdamen gehört an die eigene Nase gefasst, und das sehr kräftig. Wieso zum Beispiel muss ein Koch Abitur haben? Wieso muss ein Parkettleger einen Realschulabschluss haben,

(Olaf Ohlsen CDU: Wer sagt denn das?)

möglichst mit Notendurchschnitt Zwei? Und wieso bitte schön muss ein Gebäudereiniger einen Realschulabschluss haben und in Chemie mindestens eine Zwei? Das können Sie dort alles nachlesen. Ist diesen Arbeitgebern eigentlich klar, was in einer Realschulprüfung in Chemie abgefragt wird? Muss ein Gebäudereiniger tatsächlich die chemische Struktur von anionischen Tensiden draufhaben oder geht's vielleicht eine Nummer kleiner? Wozu muss ein Fleischerazubi nach Willen seines zukünftigen Lehrherrens oder seiner Lehrdame Realschule haben und in Deutsch unbedingt eine Zwei? Ist einem solchen Arbeitgeber eigentlich klar, was die Voraussetzungen dafür sind, dass je

mand eine Zwei in Deutsch bei einem Realschulabschluss erwirbt,

(Zuruf von Andy Grote SPD)

welche Bücher diese junge Mensch gelesen und interpretiert haben muss? Nein, vermutlich hat man dort nicht die geringste Ahnung, Herr Grote. Die meisten Arbeitgeber haben nämlich keinen blassen Dunst, wie die Lehrpläne aussehen. Ich bezweifle, dass die meisten dieser Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen Kleists "Zerbrochenen Krug" überhaupt lesen können, von einer Interpretation ganz zu schweigen.

(Olaf Ohlsen CDU: Erzählen Sie hier nicht so 'nen Blödsinn! – Andy Grote SPD: Was erzählen Sie denn da? – Zurufe von der CDU)

Von ihren Azubis erwarten sie dies. Den Unternehmerverbänden muss die Durchsicht der Lehrpläne – das ist ein Teil des Antrags – dringend ans Herz gelegt werden, mit der Aufforderung, ihre Bewerbungsvoraussetzungen auf ein vernünftiges Maß herunterzuschrauben, sodass auch Schüler mit Hauptschulabschluss die Möglichkeit zu einer Ausbildung bekommen. Wir brauchen Leute mit handwerklichem Geschick und Sinn für die Praxis. Da dürfen Schulnoten nicht allein entscheidend sein, denn sonst haben sie gar keine Perspektiven mehr. Wir fordern den Senat auf, massiv in die Sicherung und Schaffung von Ausbildungsplätzen zu investieren, für unsere Jugend, für unsere Zukunft und nicht gegen sie.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun zur Arbeits- und Sozialverwaltung: Wir fordern, wie vorhin schon einmal angeführt, sozialrechtliche Sanktionen gemäß Paragraf 31 Absatz 1 bis 3 im Bereich der Integration in den Arbeitsmarkt inklusive der sogenannten Ein-Euro-Jobs per Fachanweisung auszusetzen, und das ist möglich.

(Jens Kerstan GAL: Aber nicht in Hamburg!)

Die dringend benötigten Fachkräfte in den hochsensiblen Bereichen Bildung und Soziales können nur durch ein Höchstmaß an selbstbestimmter Motivation gewonnen werden. Wir sehen uns mit einem konjunkturellen und strukturellen Problem mangelnder Lohnarbeitsplätze konfrontiert und nicht mit der mangelnden Motivation der Menschen, sinnvolle Arbeiten zu verrichten. Man sollte meinen, dass nicht ausdrücklich per Fachanweisung angewiesen werden müsste, dass die Grundsicherungsträger die Betroffenen beraten und über ihre Rechte und Pflichten aufklären müssen. Schließlich ist das im Gesetz, das haben Sie erwähnt, nämlich im Sozialgesetzbuch I, deutlich geregelt. Aber aus unserer Erfahrung heraus scheint dieses Erste Buch bei den Grundsicherungsträgern offenbar weitgehend unbekannt zu sein. Tatsache

ist, dass man seine Rechte schon selbst kennen muss, um sich gegen die Rechtswidrigkeiten der ARGE zu wehren. Aber verwunderlich ist dies nicht. Der ehemalige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Herr Clement, beschuldigte Autoren eines SGB-II-Leitfadens, dass sie durch ihre Ratschläge eine Art Beihilfe zum Betrug begehen würden. Er selbst war auch der Ansicht, dass es im Bereich des SGB II mindestens 20 Prozent Missbrauch gebe. Später stellte sich heraus, es handelte sich um 2 Prozent. Auch da konnte man nicht rechnen.

Es kann nicht sein, dass Behördenmitarbeiter nicht ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen, sondern sich ihr eigenes Recht zusammenstricken und Betroffene regelrecht über deren Rechte täuschen. Daher muss eine weitere fachliche Anweisung her, die die Pflicht zur Beratung noch einmal ganz ausdrücklich bekräftigt. Eine umfassende richtige Beratung würde wahrscheinlich auch dazu führen, dass die Schuldnerberatungsstellen mittelfristig entlastet würden. Derzeit sind sie erheblich überlastet und bedürfen der personellen Aufstockung. Die durchschnittliche Wartezeit für eine Beratung betrug 2008 bereits 234 Tage. Dies ist nicht hinnehmbar. Hier muss investiert werden,

(Olaf Ohlsen CDU: Woher denn?)

damit die Menschen nicht noch weiter in die Schuldenfalle hineingeraten.

Meine Damen und Herren, meine Fraktion wirbt um Ihre Stimme für einen Schutzschirm für alle Menschen. Lassen Sie die, die gerade jetzt am schlimmsten betroffen sind, nicht im Regen stehen, aber wenn ich Ihre Zwischenrufe und vorherigen Reden höre, bin ich sehr im Zweifel, dass Sie das tun werden. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Vereinzelter Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir kommen jetzt zur Abstimmung.

Wer stimmt einer Überweisung der Drucksache 19/3350 federführend an den Wirtschaftsausschuss und mitberatend an den Sozial- und Gleichstellungsausschuss zu? – Gegenprobe. – Stimmenthaltungen? – Das ist mehrheitlich abgelehnt.

Dann lasse ich in der Sache abstimmen. Wer möchte sich dem Antrag der Fraktion DIE LINKE aus der Drucksache 19/3350 anschließen? – Gegenprobe. – Stimmenthaltungen? – Das ist mit großer Mehrheit abgelehnt.

Ich rufe dann Punkt 13 der Tagesordnung auf, Drucksache 19/3179, Große Anfrage der CDUFraktion: Bilanz nach zwei Jahren Schulinspektion.