Protokoll der Sitzung vom 03.09.2009

Dennoch möchte ich zu einem Thema etwas sagen, was meines Erachtens noch diskussionswürdig ist und nicht nur Protestansatz der LINKEN, nämlich die Frage der Klagewellen gegen Rechtsbescheide der ARGE. Zum Teil haben diese Klagen eine hohe Erfolgsquote und das muss schon diskutiert werden. Das ist ein bundesweites Phänomen, ich glaube, die meisten Klagen gibt es in Berlin. Es ist jedoch ein Ausführungsproblem der Verwaltung und kein Gesetzesproblem. Ich habe deshalb bei der Verwaltung der ARGE einmal nachgefragt, was die Gründe sind, warum die Klagen so hohe Erfolgsquoten haben. Die Antworten fand ich ganz interessant, ich werde zwei Ausschnitte davon wiedergeben. Mir wurde gesagt, dass die Entscheide der ARGE oft gar nicht rechtsfehlerhaft seien, sondern es werde einem Widerspruch auch dann stattgegeben, wenn der Arbeitslose im Nachhinein einen wichtigen Grund für sein damaliges Verhalten angibt. Hätten die Betroffenen dieses bereits vor dem gesetzlich vorgeschriebenen Anhörverfahren dargelegt, wären die Leistungen oftmals gar nicht erst gekürzt worden.

(Christiane Schneider DIE LINKE: In welcher Welt leben Sie?)

Das ist die Auskunft der Verwaltung und es tut immer ganz gut, bevor man Vorwürfe austeilt, erst einmal zu fragen, wie was zustande kommt,

(Dora Heyenn DIE LINKE: Das kommt dar- auf an, wen man fragt!)

das würde auch der LINKEN gut tun.

(Beifall bei der CDU)

Des Weiteren wird das SGB II häufig durch die Politik im Detail geändert, diese geänderten Rechtslagen führen ebenfalls zu Klageerfolgen. Die ARGE versucht durch ständige Fortbildungen ihrer Mitarbeiter darauf zu reagieren. Ich fand diese Antworten recht erhellend, dennoch sollte das Thema Klagewellen vor Sozialgerichten von uns weiter beobachtet und diskutiert werden. Dafür brauchen wir aber nicht Ihren fundamentalen Protestantrag, der nichts anderes als Bundestagswahlkampf ist.

Wir haben bei uns im Wirtschaftsausschuss eine Tradition, dass wir ein Schwerpunktthema, Hartz IV, von Zeit zu Zeit auf die Tagesordnung nehmen und dann auch Herrn Steil dazu einladen. Dort sind wir frei in der Diskussion und können dann das Thema aufgreifen. Statt hier grundsätzlicher, ausufernder Sozialstaatsdiskussion à la linker Protestpartei sollten wir uns dort konkret auf die Verbesserungen bei der Umsetzung des SGB II in Hamburg konzentrieren; dann haben auch die betroffenen Arbeitslosen etwas davon.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat Frau Badde.

(Dr. Natalie Hochheim)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Laut einer neuen Studie stehen in den USA mit Ende dieses Jahres etwa 1,5 Millionen Menschen ohne jegliche staatliche Unterstützung da. Je nach Bundesstaat haben amerikanische Arbeitslose zwischen 23 Wochen und bis zu rund einem Jahr Anrecht auf Arbeitslosengeld. Das Arbeitslosengeld ist aber das Einzige, was der Staat in den USA Arbeitslosen anbietet, außer Essensmarken und geringer Wohnungsbeihilfe für Familien mit Kindern. In Deutschland besteht ein gesellschaftlicher Konsens, dass wir keinen Menschen allein lassen wollen, dass jedem Menschen das Existenzminimum gesichert werden soll. Es existiert aber in der breiten Mehrheit auch ein Konsens, dass das, was von der Gesellschaft durch Steuergelder gegeben wird, auch einer Verantwortlichkeit des Nehmens bedarf. Wir haben dies, wie viele andere europäische Länder übrigens auch, den Grundsatz des Förderns und Forderns genannt. Es bedeutete den Schritt hin zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, die erkannt hatte, dass wir ohne das Element des Forderns Menschen geradezu aufgeben und ganze Generationen von Hilfeempfängern nachziehen. Dieser Grundsatz des Förderns und Forderns bedeutet gerade, dass der- oder diejenige, die Leistungen empfängt, auch Eigenverantwortung zeigen muss in der Bemühung um Arbeit, in der Wahrnehmung von Weiterbildungsmöglichkeiten, aber auch im Nachweis der nötigen Schritte, die Eigenverantwortung wahrgenommen zu haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass in der Umsetzung viele Kinken liegen, wozu hier auch schon öfter Stellung genommen wurde, aber ich weiß auch eines: Wenn wir nicht mehr verlangen, dass die Maßnahmen der Eigenverantwortung erfolgen, stellen wir die gesellschaftliche Akzeptanz eines von der Allgemeinheit getragenen Fördersystems generell infrage.

(Beifall bei der SPD)

Dies ist der wesentliche Grund, warum wir Sanktionen nicht aussetzen können. Aber es gibt noch andere Aspekte des Antrags, auf die ich hier näher eingehen möchte. Es ist richtig, dass in der Arbeitsverwaltung auch Fehlentscheidungen getroffen werden, doch die ganz wesentliche Aussage des Antrages, dass Empfänger von ALG-II-Leistungen den Willkürmaßnahmen der Arbeits- und Sozialverwaltung ausgesetzt seien, ist völlig falsch.

(Wolfgang Joithe-von Krosigk [DIE LINKE]: Wie wir ja an Beispielen gesehen haben!)

Der Eintritt von Sanktionen ist nämlich gesetzlich abschließend geregelt. Nur wenn die im SGB II geregelten Voraussetzungen vorliegen, tritt die Sanktion ein. Der Eintritt erfolgt nicht bei einem kleinen Pflichtverstoß, quasi aus Versehen oder gar als Willkürakt, wie Sie das darstellen, sondern setzt eine schwerwiegende Pflichtverletzung voraus. Da

für müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein: Es muss eine Weigerung des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen vorliegen, die geforderte Handlung muss zumutbar sein, der Hilfeempfänger muss auch über die Folgen dieses Handelns ausreichend belehrt worden sein, was natürlich schwer festzustellen ist, aber es soll schriftlich niedergelegt sein und es muss Vorsatz oder gar Absicht vorliegen. Und nur beim Zusammentreffen all dieser Voraussetzungen darf die Sanktion überhaupt erfolgen. Nun kommt es natürlich vor, dass von der Arbeitsverwaltung nicht alle diese Voraussetzungen richtig eingeordnet werden. Dann ist es das gute Recht des Betroffenen, in den Widerspruch und in das Klageverfahren zu gehen.

(Christiane Schneider DIE LINKE: Es wird ja inzwischen ganz schön schwergemacht!)

Selbstverständlich muss es dabei das Ziel guter Verwaltung sein, rechtmäßige Bescheide zu erlassen. Daher muss Verwaltungsarbeit verbessert werden; dazu hat bereits die Stellenerhöhung bei der Arbeitsverwaltung beigetragen und die von den Sozialdemokraten verfolgte Reform der Arbeitsverwaltung hätte diese Rechtssicherheit erhöht. Doch leider wurde dies von der CDU-Bundestagsverwaltung verhindert.

(Michael Neumann SPD: Schlimm genug!)

Aber die Fakten, die der Antrag der LINKEN wie auch die Initiative zur Aussetzung der Sanktionen anführt, sind falsch, ebenso wie die daraus gezogenen Schlüsse, und dies aus folgenden Gründen: Lediglich gegen 9 Prozent aller 800 000 Sanktionsbescheide bundesweit in 2008 wurde Widerspruch erhoben. Von diesen 9 Prozent der Widerspruchsführenden waren wiederum 3,5 Prozent mit ihrem Widerspruch erfolgreich. Das ist eine Gesamtquote von 0,31 Prozent der Gesamtsanktionen. Klagen wurden gegen 0,6 Prozent der Sanktionsbescheide erhoben. Davon ist die Hälfte teilweise oder ganz erfolgreich gewesen. Es handelt sich dabei aber nicht alleine um einen Klageerfolg, sondern auch – das hat Frau Hochheim eben schon dargestellt – um Anerkenntnisse der Verwaltung. Jeder, der Sozialgerichtsbarkeitsverfahren kennt und ich habe selbst eine Menge solcher Verfahren durchgeführt, weiß, dass das Gericht primär eine Befriedung der Situation verfolgt. Wenn ein Hilfeempfänger inzwischen seinen Verpflichtungen zumindest teilweise nachgekommen ist, wird auch die Verwaltung die Sanktion nicht weiter verfolgen, weil es um die Mitwirkung des Hilfeempfängers geht und nicht um die Sanktionierung. Von den LINKEN wird aber unterstellt, dass es darum ginge.

Ich fasse daher zusammen. Nicht die Sanktionspraxis per se ist verwerflich, vielmehr gilt es, den gesellschaftlichen Konsens der Hilfegewährung aufrecht zu erhalten. Dazu gehört eine effektive Arbeitsverwaltung, die mit den notwendigen Mitarbeitern ausgestattet wird und die auch selbst in den

geordneten Rechtsverhältnissen einer verfassungsgemäßen Organisationsform agieren kann. Darauf sollten wir uns im Sinne der Hilfebedürftigen auch konzentrieren.

(Beifall bei der SPD)

Weil die SPD-Fraktion aber selbstverständlich an einer Verbesserung der Praxis interessiert ist,

(Dr. Andreas Dressel SPD: Ja!)

möchten wir diese Praxis der Arbeitsverwaltung im Ausschuss diskutieren und beantragen daher die Überweisung des Antrags. Soweit dem nicht stattgegeben wird, werden wir die Selbstbefassung unter Anhörung von Sachverständigen im Ausschuss beantragen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort hat Frau Möller.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Es ist ja manchmal so, dass die letzte Debatte auch interessante Aspekte hat und diejenigen unter Ihnen, die es interessiert, werden vielleicht am Ende meiner Rede feststellen, dass es viele Gründe gibt, warum Schwarz-Grün auf Bundesebene nicht gehen würde

(Beifall bei Michael Neumann SPD)

und dass die Arbeitsmarktpolitik möglicherweise dazu gehören könnte. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht in Hamburg gemeinsam viele Gespräche mit der ARGE und viele Gespräche zur Lösung von komplizierten Situationen auch aufgrund von bestimmten Entscheidungen einzelner Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der ARGE führen.

Die Diskussion um Hartz IV, vor allem die Umsetzung der damit verbundenen Sanktionsmaßnahmen, nimmt, um es einmal ein bisschen platt zu formulieren, seit Jahren kein Ende. Ich bin durchaus der Meinung, dass man diesen Antrag auf ein Sanktionsmoratorium aus politischer Sicht sehr ernst nehmen sollte.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist nicht umsonst so, dass ein breites Spektrum aus Wirtschaft, Kirche, Politik und Medien sich für etwas einsetzt, was öffentlich diskutiert wird. Natürlich kann man sagen, dass das lediglich 2,5 Prozent der Hartz-IV-Empfängerinnen betreffe – so ist das jedenfalls in Hamburg –, das sei ja gar nicht viel. 780 000 Personen oder Sanktionen, wie Herr Joithe gesagt hat, ist vielleicht keine so große Zahl, wenn man die Gesamtzahl der Menschen, die sich mit dem Thema Hartz IV beschäftigen müssen, weil sie betroffen sind, nimmt.

Ich habe mir erlaubt, die bundesweite Grafik vom April herauszusuchen. Es ist in jedem Bundesland ungefähr gleich, das können Sie auf einen Blick sehen, mit ein paar Ausreißern in Bayern und in Rheinland-Pfalz. Dort liegt die Quote über dem Bundesdurchschnitt, Hamburg liegt etwas darunter. Entscheidend ist aber, dass die Art und Weise, wie Sanktionen umgesetzt werden und wie die Menschen, die davon betroffen sind, Gehör bekommen, einfach kritikwürdig ist. Deswegen müssen wir uns auch mit dieser Kritik auseinandersetzen.

Natürlich kann man sagen, so wie auch Sie, Frau Badde, dass das Anerkennen des Vergleichs noch lange kein Gewinn vor einem Gericht ist, noch lange kein Richter- oder Richterinnenspruch zugunsten der betreffenden Person. Selbstverständlich ist es aber doch mehr als dramatisch, wenn man gleichzeitig feststellen muss, dass so viele Menschen erst vor Gericht gehen müssen, um überhaupt ordentlich gehört zu werden. Das ist eines der Hauptprobleme.

(Beifall bei der GAL, der LINKEN und verein- zelt bei der SPD)

Das ist auch der Kern der Kritik. Qualität der Beratung, Qualität der Bescheide, das hat ganz viel mit Überbelastung zu tun. Ich würde überhaupt nicht so weit gehen wie Herr Joithe und sagen, dass das Willkür und Schikane ist; im Einzelfall vielleicht, aber als Prinzip auf keinen Fall. Wir reden hier über Überbelastung, möglicherweise auch über mangelnde Fortbildung, über mangelnde Einführung, auf jeden Fall reden wir über zu viel schematisches Abarbeiten der Einzelfälle und natürlich auch über zu wenig Zeit für den Einzelfall.

Das Thema ist ein Bundesthema. Viele Grüne haben – das hat Herr Joithe auch schon gesagt – dieses Moratorium mit unterschrieben. Wir haben aber auch als Grüne auf der Bundesebene im Jahr 2008 umfangreiche Vorschläge zur Verbesserung des Fallmanagements eingebracht. Wir haben gefordert, dass Sanktionen das physische Existenzminimum nicht mehr antasten dürfen, dass die Rechte von Hilfesuchenden gestärkt werden, zum Beispiel, indem zwischen verschiedenen Förderangeboten gewählt werden kann oder dass man die Möglichkeit hat, wie bei jedem normalen Arztbesuch, den Ansprechpartner im Job-Center wechseln zu dürfen. Das ist manchmal schon die Lösung des Problems.

Für die Sachbearbeiterinnen sind im Übrigen auch Ermessensspielräume notwendig und wir finden – das wurde von Herrn Joithe auch schon ausführlich gesagt, ich will das nur noch einmal kurz erwähnen –, dass selbstverständlich die Situation der gesamten Bedarfsgemeinschaft mit berücksichtigt werden muss. Wenn das immer erst durch den Vergleich vor dem Sozialgericht entschieden

(Elke Badde)

werden kann, dann stimmt etwas nicht in der Art und Weise, wie diese Fälle abgearbeitet werden.

(Beifall bei der GAL, der LINKEN und verein- zelt bei der SPD)

Für all diese Vorschläge von uns Grünen auf der Bundesebene gab es im Bundestag keine Mehrheit und, das werden Sie erahnen, in Hamburg gibt es zu dieser Frage der Sanktionen auch keine einheitliche Meinung der Koalition, sodass wir schlicht und einfach aus diesem Grund dem Antrag der LINKEN nicht zustimmen werden. Allerdings muss ich auch ganz deutlich sagen, dass ich das Einbringen des Antrags hier und heute schlicht und einfach für eine kleine Showveranstaltung halte. Der Bundesrat tagt noch einmal. Was wissen wir denn über die Mehrheiten nach dem 27. September? Dann wird es aber erst spannend. Wir sollten uns die neuen Mehrheiten ansehen, wir sollten uns dann auch zum Beispiel die Haltung der SPD ansehen. Frau Badde hat deutlich gesagt, was sie davon hält, und im Bundestag hat sie sich auch dementsprechend nicht sonderlich für die Stärkung der Rechte der Arbeitssuchenden mit engagiert, jedenfalls nicht in diesem Bereich.

Mein Vorschlag ist an dieser Stelle, diesem Antrag nicht zuzustimmen. Wir warten die Bundestagswahl ab und schauen dann, welche Veränderungen, möglicherweise initiiert durch dieses Sanktionsmoratorium, dann in dem Bereich möglich sind. – Danke.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der CDU)

Das Wort hat der Abgeordnete Joithe.

Zunächst möchte ich Frau Möller für die differenzierte Darstellung danken. Auch wenn Sie dem Antrag nicht zustimmen können,

(Beifall bei Christiane Schneider DIE LINKE)