Protokoll der Sitzung vom 28.09.2011

Was ist die Sachlage? Sachlage ist doch, dass über Hilfen zur Erziehung in der breiten Öffentlichkeit relativ wenig geredet wird, meistens nur im Zusammenhang mit tragischen Einzelfällen wie Lara Mia oder Jessica oder auch im Zusammenhang mit der Kostenentwicklung und den hohen Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung, die bei der Konsolidierung der Haushalte dann immer wieder Thema werden.

Der Punkt der Kostensteigerung bei den Hilfen zur Erziehung – das ist richtig – beschäftigt alle Fraktionen und auch zu Recht, denn die finanziellen Mittel der Stadt sind begrenzt. Es ist von daher durchaus legitim, wenn sich eine Regierungspartei auf den Weg macht und Maßnahmen sucht, wie die Hilfen zur Erziehung kosteneffizienter gestaltet werden können. Aber bevor ich einen neuen Weg durch ein mir fremdes Terrain ausprobiere, nehme ich mir doch eine Wanderkarte und schaue mir den Weg genau an. Ich prüfe, ob der Weg überhaupt für mich gehbar ist und was dafür die Voraussetzungen sind. Brauche ich Bergstiefel oder Sportschuhe, brauche ich eine Bergausrüstung oder nur einen Wanderstock?

(Robert Bläsing FDP: Da haben Sie wohl Frau Hajduk gefragt!)

Die Vernachlässigung derart wichtiger Faktoren kann für Wanderer unter Umständen lebensgefährlich werden. So sieht es bei den Hilfen zur Erziehung ähnlich aus. Sachlage ist, dass die SPD einen neuen Weg beschreiten will mit dem Ziel der Reduzierung der Kosten. Was ist geplant? Aufsuchende Familienhilfen in der Wohnung der Betroffenen sollen die Ausnahme werden. Stattdessen soll es Gruppenangebote im Stadtteil und an Schulen oder Kitas geben, und das als Regeleinrichtung und als Regelhilfe.

(Vizepräsidentin Barbara Duden übernimmt den Vorsitz.)

Diesen Weg geht der Senat, ohne vorher den Weg genau angesehen zu haben. Es fehlen fundierte Analysen, insbesondere über die Wirksamkeit und die Ursachen des Fallanstiegs, das haben auch meine Vorredner und Vorrednerinnen schon gesagt.

Unsere Große Anfrage, die Ihnen heute vorliegt, spiegelt das deutlich wider. Für die These, dass die sozialpädagogischen Familienhilfen ins Leere laufen, wie von der SPD gern behauptet, gibt es keine empirischen Daten. Für die Behauptung, dass die zusätzlichen Mittel nicht zu einer Verbesserung der Situation beigetragen haben, gibt es keine Belege. Ob Angebote im Sozialraum im Vergleich zu Einzelfallhilfen billiger sind, kann der Senat nicht sagen. Und über die Tatsache, dass die durchschnittlichen Fallkosten bei den angeblich so teuren Einzelfallhilfen seit 2001 deutlich zurückgegangen sind, die Anzahl der Hilfen aber deutlich zugenommen hat, gibt es keine Ursachenforschung.

Meine Damen und Herren! Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass unsere Große Anfrage und die Antwort des Senats deutlich darauf hinweisen, dass nicht der eigentliche Fall in der Familie, bezogen auf die Kosten, explodiert ist – der ist von 2001 bis 2010 zurückgeschraubt worden –, sondern dass es an der Menge des Fallaufkommens

(Christoph de Vries)

liegt. Da müssen wir uns alle einmal fragen, warum das so ist.

(Beifall bei der GAL – Dora Heyenn DIE LIN- KE: Ganz genauso ist das!)

Doch ohne diese gesicherten Fakten und ohne diese Ursachenforschung ist aus Sicht der GAL-Fraktion die geplante Umstrukturierung, wie die SPD sie jetzt bei den Hilfen zur Erziehung vornehmen will, nicht nur riskant, sondern auch fachlich nicht zu verantworten.

Und mit unserer Kritik an fehlenden Analysen vor entscheidenden Umsteuerungsmaßnahmen stehen wir Grüne nicht allein da. Ein Schreiben der Hamburger Jugendamtsleiter bestätigt diese These. Dort heißt es unter anderem:

"Vor der Initiierung weiterer Maßnahmen zur Umsteuerung von Hilfen zur Erziehung ist eine gründliche Analyse der Jugendhilfe in Hamburg mit dem Schwerpunkt Hilfen zur Erziehung vorzunehmen. Erst mit Kenntnissen über Einflussfaktoren lässt sich eine Strategie für die geforderte Veränderung gemeinsam mit den Hamburger Jugendämtern entwickeln."

Dem ist wenig hinzuzufügen, wenn die Hamburger Jugendamtsleiter die geplante Umsteuerung ihrer Fachbehörde selbst kritisch sehen.

Auch in der SPD selbst gibt es Unruhe über den von Hamburg vorgeschlagenen Weg. So heißt es in einem Schreiben der Berliner SPD-Staatssekretärin Claudia Zinke, dass in wichtigen Punkten die Problembeschreibung aus Hamburg, aber auch die angesprochenen Lösungswege noch einer Überarbeitung bedürften. Claudia Zinke distanziert sich erst einmal von dem Vorgehen ihrer Partei in Hamburg. Immerhin sind Sie nach massiven Protesten auch aus den eigenen Reihen von Ihren ursprünglichen Planungen, den individuellen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung abzuschaffen, wieder abgerückt. Und das ist auch gut so.

(Frank Schmitt SPD: Das hatten wir nie vor!)

Jetzt sagen Sie nicht schon wieder, dass Sie das nie vorhatten. Ihre eigenen Kollegen würden diesen Punkt nicht ansprechen, wenn es angeblich nie vorgesehen war.

Wir Grüne glauben, dass in der Tat jetzt der richtige Zeitpunkt ist, noch einmal innezuhalten und unter Einbeziehung von externen Sachverständigen nach tragfähigen Lösungen zu suchen, die vor allen Dingen über die Legislaturperiode hinaus Bestand haben. Wir können uns genau deswegen die Einsetzung einer Enquete-Kommission richtig gut vorstellen. Die kann nämlich fachlich und wissenschaftlich an Lösungsmodelle herangehen, aber nicht parteipolitisch. Sie hat auch nicht nur die Kostenreduzierung im Blick.

Frau Leonhard, Sie sagten zwar, eine Enquete-Kommission komme für Sie nicht infrage, aber es fehlte leider die Begründung. Es war für Sie irgendwie nicht das richtige Mittel der Wahl. Ich weiß nicht, ob Sie eine Enquete-Kommission kennen, die sich wirklich fachlich und wissenschaftlich mit gewissen Punkten auseinandersetzt. Ich denke, das wäre sinnvoller. Eine Expertenanhörung, die wir auch machen, ist gut, und ich bin froh, dass wir sie gemeinsam vereinbart haben. Sie ist aber im Vergleich zu einer Enquete-Kommission eine Eintagsfliege und hat längst nicht die weitreichenden Konsequenzen.

(Finn-Ole Ritter FDP: Was haben Sie eigent- lich drei Jahre lang gemacht?)

Ich stimme allen zu, dass die Umsteuerung von Hilfen zur Erziehung in Sozialräumen wichtig ist, aber wir reden jetzt über eine ganz andere Umsteuerung.

(Finn-Ole Ritter FDP: Aber woher wissen Sie, dass das richtig ist?)

Ich glaube, dass Sie noch nicht begriffen haben, welche Tragweite diese Umsteuerung hat, sonst würde die FDP-Fraktion nicht nur von Prävention und frühen Hilfen sprechen. Das ist völlig richtig, das ist auch wichtig, aber wir reden über eine richtig große Umsteuerung. Und ich glaube, Sie haben sie noch nicht ganz durchdrungen, das ist das Problem.

(Finn-Ole Ritter FDP: Schließen Sie nicht von sich auf andere, Frau Blömeke!)

Ich plädiere dafür, dass wir im Ausschuss alle gemeinsam noch einmal darüber reden und nachdenken. Die SPD-Fraktion hat auch alle Drucksachen überwiesen, das ist gut so. Im Mittelpunkt sollten immer die hilfebedürftigen Familien und Kinder stehen. Die Frage, welche Hilfe im Einzelfall nötig und richtig ist, ist entscheidend; entscheidend vor allem deswegen, damit nicht später aufgrund hoher Folgekosten alles noch viel teurer wird und wir den Schutz der Kinder gefährden. Wir müssen in diesem Punkt nachhaltig arbeiten, und deswegen wäre eine Enquete-Kommission das richtige Mittel der Wahl.

(Beifall bei der GAL)

Das Wort bekommt Herr Yildiz.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Man kann feststellen, dass es eine Tendenz und einen Wunsch im Senat gibt, Rechtsansprüche auf Hilfen zur Erziehung langfristig zu kürzen. Mit dem A-Länder-Papier wollten die SPD-regierten Länder die letzte Stütze im Hilfssystem von Kindern und ihren Familien begrenzen. Die Begründung für die Begrenzung waren die

(Christiane Blömeke)

steigenden Kosten im Bereich Hilfen zur Erziehung, was hier ebenfalls Thema ist. Halten wir aber fest, dass auch der öffentliche Druck diesmal so groß war, dass der Senat davon abgewichen ist. Das ist auch gut so.

Vielfach wurde behauptet, dass eine Sensibilisierung stattgefunden habe, dass die Menschen vermeintliche Kindeswohlgefährdungen früher melden. Die erhöhte Anzeigebereitschaft bei Kindeswohlgefährdung reicht für eine Erklärung aber nicht aus. Die Ursachen liegen woanders.

Erstens wurde die soziale Infrastruktur in dieser Stadt von allen in der Bürgerschaft vertretenen Parteien mit Ausnahme von uns in den letzten Jahren gekürzt. Der ASD und die Offene Kinder- und Jugendarbeit sind völlig unterbesetzt. Die Arbeitsbedingungen der Kolleginnen und Kollegen werden immer schlechter und viele Stellen sind nicht besetzt.

Zweitens hat die Privatisierung und Unterfinanzierung im Bereich der frühkindlichen Bildung sowie die Einführung des Gutscheinsystems dazu geführt, dass Kinder aus Erwerbslosen-, Geringverdiener- und Migrantenfamilien keine Ganztagsplätze bekamen, dass der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem dritten Lebensjahr eingeführt worden ist und dass die Berufstätigkeit der Eltern im Vordergrund steht. Das Recht des Kindes auf Bildung steht im Hintergrund.

Drittens hat sich durch die Einführung der Hartz-IVGesetze die Armut unter Kindern und Jugendlichen bundesweit auf 3 Millionen verdoppelt. In Hamburg sind allein über 55 000 Kinder unter 16 Jahren von Hartz IV betroffen, dazu kommen noch Kinder und Jungerwachsene bis 25 Jahre, die trotz Problemen und Schwierigkeiten mit ihrem Elternhaus in einer Zwangsgemeinschaft leben müssen und denen ein eigenständiges Leben verwehrt wird. Hilfe zur Erziehung ist in einigen Fällen der einzige Weg für diese Jugendlichen, aus ihrer problematischen Situation herauszukommen; ganz abgesehen davon, dass diese Kinder und Jugendlichen durch die Verwahrlosungsmaschinerie Hartz IV ohnehin chancenlos sind.

Der Senat versucht nun, die Abschaffung des Rechtsanspruches mit den bezirklichen Kontrakten wieder einzuführen. Man verschiebt das Problem auf die Bezirke, und damit wird indirekt der Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung gekürzt. Es ist vorgegeben, wie viele Hilfen zur Erziehung gegenüber sozialräumlichen Angeboten gekürzt werden. Im Kontrakt des Bezirksamts Hamburg-Mitte ist angegeben, wie viele Fälle bis 2012 gekürzt oder begrenzt werden sollen, wenn sozialräumliche Angebote gefördert werden. Es sind jetzt 818 Fälle und bis 2012 sollen weitere 448 Fälle gekürzt werden. Das bedeutet eine Kürzung von 60 Prozent. Das ist wieder ein Abbau des Rechtsanspruches und das geht nicht.

(Beifall bei der LINKEN und bei Christiane Blömeke GAL)

Dann muss ich noch etwas sagen, Frau Blömeke. Sie haben diesen Kontrakten zugestimmt – nicht unterschrieben, aber zugestimmt. Was die Grünen auf Landesebene zu Recht kritisieren, führen Sie also auf Bezirksebene mit ein. Darüber müssen Sie innerhalb Ihrer Partei diskutieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Mit den zusätzlichen 10 Millionen Euro, die zurzeit zur Verfügung gestellt werden, ist nicht einmal das Defizit durch die Kürzungen der letzten zehn Jahre beseitigt. Es handelt sich um einen langfristigen Prozess, der parallel zum Ausbau der sozialräumlichen Angebote stattfinden sollte. Man muss Geduld haben, mehr Geld investieren und nicht nur oberflächlich an dem Problem kratzen.

Die Anträge tragen das eine Ziel Kostenersparnis in sich; der Faktor Mensch, die Bedürfnisse der Kinder stehen im Hintergrund. Gleichzeitig werden Millionen in Prestigeprojekte gesteckt, da regt sich kein Mensch auf. Das verstehen die Menschen einfach nicht mehr. Wir müssen an den Ursachen arbeiten, weshalb so viele Kinder und Jugendliche kein angemessenes Leben führen können, statt die Symptome mit schnellen und billigen Mitteln zu bekämpfen. Die Expertenanhörung und Selbstbefassung ist ein Schritt. Langfristig, in den nächsten Monaten und Jahren, müssen wir das Problem wissenschaftlich unter die Lupe nehmen. Ohne diese Maßnahme geht es nicht. Daher möchte ich Senator Scheele darum bitten, unter anderem mit der Unterstützung des Bundes dafür zu sorgen, dass in den Kontrakten die Rechte der Kinder und Jugendlichen auf Hilfen zur Erziehung nicht weggespart werden. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Wort bekommt Senator Scheele.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich würde mich freuen, wenn es uns gelänge, den wahrscheinlich länger dauernden Prozess zur Reform der Jugendhilfe und der Hilfen zur Erziehung gemeinschaftlich zu begehen.

(Christiane Schneider DIE LINKE: Ja, das sagen Sie immer!)

Sie können das als Attitüde abtun, es ist aber keine.

(Christiane Blömeke GAL: Dazu gehört aber auch eine frühzeitige Information!)

Ich komme darauf gleich noch einmal zurück.

Als erstes möchte ich hier feststellen – weil das immer eine Rolle spielt und auf der Tonspur mit

(Mehmet Yildiz)

schwingt –, dass der Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung nicht abgeschafft wird.