Protokoll der Sitzung vom 09.11.2011

Wenn ich mich mit Lehrerinnen und Lehrern unterhalte, die zum ersten Mal in einer Klasse mit Paragraf-12-Schülerinnen und -Schülern unterrichten, dann nehme ich eine große Offenheit für diesen Reformprozess wahr. Aber diese neue Heterogenität in den Schulklassen stellt die Lehrkräfte vor neue Herausforderungen in der Gestaltung ihres Unterrichts. Hier müssen wir die Lehrerinnen und Lehrer in Hamburg unterstützen. Unser Antrag für eine verbesserte Lehrerfortbildung soll kurzfristig den erhöhten Fortbildungsbedarf decken und langfristig die Inklusionsthematik in der Lehrerfortbildung verankern. Die CDU beantragt die Überweisung an den Schulausschuss. Ich und die SPDFraktion sind der Meinung, dass dieser Antrag jetzt beschlossen werden muss. Dieses Thema ist unstrittig und bedarf keiner weiteren Diskussion im Schulausschuss. Deshalb werden wir die Überweisung an den Schulausschuss ablehnen.

(Beifall bei der SPD)

In der von der GAL-Fraktion gestellten Großen Anfrage erhalten wir wichtige Informationen zu den Eingliederungshilfen für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und zu den langfristigen Planungsumsetzungen der UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Deshalb wollen wir diese Große An

(Vizepräsidentin Barbara Duden)

Wahlergebnis, siehe Seite 1260

frage zur weiteren Diskussion an den Schulausschuss überweisen.

Ich komme jetzt zum Antrag der CDU, ein Antrag nach dem Motto: Lieber spät als nie. Nach dem Beschluss der schwarz-grünen Regierung im Oktober 2009, den Rechtsanspruch gemäß Paragraf 12 des Hamburgischen Schulgesetzes zu verankern, fordert die CDU-Fraktion jetzt, mehr als zwei Jahre nach der Gesetzesänderung, den Senat auf, ein Konzept zur Umsetzung von Paragraf 12 zu entwickeln. Warum tut sie das? Weil sie es in der vergangenen Legislaturperiode versäumt hat, ein schlüssiges Konzept zu erarbeiten.

(Beifall bei der SPD)

Lieber Herr Dr. Scheuerl, wenn ich dann Ihre selbstgestrickte Definition des Kindeswohls lese, die zum Ziel hat, dass Eltern ihre Kinder weiterhin nur an der Sonderschule oder alternativ an wenigen, speziell ausgesuchten Stadtteilschulen anmelden sollen, dann haben Sie den Auftrag, ein inklusives System lebenslanger Bildung für alle zu entwickeln, nicht verstanden.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie weiterhin argumentieren, die UN-Konvention besage, dass Sonderschulen den Anspruch von inklusiver Bildung völlig abdecken, dann ist das einfach nur abenteuerlich.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Über Ressourcenausstattung und regionale Bildungszentren, die Sie in Ihrem Antrag beschreiben, diskutieren wir gern mit Ihnen im Schulausschuss, und werden deswegen auch Ihren Antrag an den Schulausschuss überweisen.

Abschließen möchte ich mit einem Zitat aus dem bekannten Film "Forrest Gump":

"Merk dir, was ich gesagt habe, Forrest. Du bist nicht anders als die anderen. […] Du bist genauso wie alle anderen. Du bist nicht anders!

[…] Ihr Junge ist anders Mrs. Gump. Sein IQ liegt bei 75.

[…] Ja gut, aber sind wir nicht alle irgendwie anders […]?"

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei Dr. Stefanie von Berg und Farid Müller, beide GAL)

Das Wort bekommt Herr Scheuerl.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Wohl des Kindes muss entscheiden. Darüber sind wir uns, denke ich, alle einig. Herr Holster

nickt, aber es werden wohl alle Fraktionen zustimmen. Das Wohl des Kindes muss entscheiden, und wenn wir über das Modewort Inklusion sprechen, dann sprechen wir darüber, wie wir die bestmögliche Bildung und Teilhabe am staatlichen Schulsystem für Kinder mit Behinderungen garantieren. Die UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen sagt, bei allem, was veranlasst wird, ist das Wohl des Kindes entscheidend, und sie sagt auch sehr klar, dass alle Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, Kinder und Jugendliche zu fördern, nicht als Diskriminierung anzusehen sind. Weil in dieser Diskussion so viel von der UN-Konvention die Rede ist, müssen wir uns an einer Stelle, am besten jetzt zu Anfang der Debatte, klar machen, was die UN-Konvention eigentlich bedeutet. Die UN-Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, den inzwischen rund 155 Staaten der Welt unterschrieben haben. Das ist gut so. Ziel der UN-Konvention war aber nicht, etwas über das deutsche Schulsystem zu sagen, sondern Ziel war, zum Zeitpunkt der Verhandlungen vor allem dafür zu sorgen, dass die damals weltweit 40 Millionen Kinder mit Behinderungen, die keinen Zugang zum Schulsystem in ihrem jeweiligen Land hatten, überhaupt einen Zugang zum Schulsystem bekommen.

Artikel 24 der UN-Konvention sagt auch nichts über Schulformen aus, sondern spricht schlicht von einem "Inclusive Education System" oder einem "General Education System". Paragraf 12 des Hamburgischen Schulgesetzes sieht jetzt ein Wahlrecht und individuelle sonderpädagogische Diagnosen vor. Das ist gut so, denn es gibt Kinder, für die die Beschulung in den allgemeinbildenden Schulen gut ist, obwohl sie eine Behinderung haben, wenn die Schule entsprechend ausgestattet ist. Es gibt aber auch viele Kinder, für die es nicht gut ist, für die das besondere Förderangebot in einer Sonderschule die bessere Wahl darstellt. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Sonder- und Förderschulen erhalten.

Das Wahlrecht bedeutet also konkret, dass wir bestehende Integrationsklassen an den Schulen erhalten müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass in Stadtteilschulen, aber auch in Grundschulen und auch schon im Vorschulbereich die sonderpädagogische Förderung einsetzt und die Kinder, die dort von ihren Eltern angemeldet werden, erreicht. Und wir müssen die Sonderschulen in Hamburg erhalten. Jedes Kind mit einer Behinderung muss die Möglichkeit haben, in zumutbarer Entfernung auch eine Sonderschule erreichen zu können.

Noch kurz zur Auslegung der UN-Konvention. Die Kultusministerkonferenz – Herr Senator Rabe, Sie werden der ja demnächst vorstehen – hat in einem Beschluss vom November vorigen Jahres ausdrücklich gesagt, dass die UN-Konvention keine Aussagen zur Gliederung des Schulwesens enthält. Wir lesen in einer Senatsantwort der SPD, Herr Holster, dass Gutachten, die zu Nordrhein

(Lars Holster)

Westfalen und Bremen von den Professoren Klemm und Preuss-Lausitz erstellt worden sind, wertvolle Anregungen auch für das Hamburger Schulsystem enthalten. Wenn wir im Gutachten von Preuss-Lausitz, den wir auch im Schulausschuss hören werden, lesen, dass Inklusion eigentlich nur dann funktioniert, wenn wir in einer Schule für alle das gemeinsame Lernen auch in der Sekundarstufe praktizieren, dann ist das Ziel klar. Wenn wir in dem Gutachten, dem die SPD folgen möchte, weiter lesen, dass man eigentlich sämtliche Sonderschulen für den Bereich Lernen, Sprache und soziale Entwicklung schließen sollte und 80 Prozent der Schüler geradezu zwanghaft in das allgemeine Schulsystem herüberholen sollte, dann erfüllt uns das mit Sorge. Es erfüllt uns genauso mit Sorge wie der Umstand, dass für die Sachverständigenanhörung am kommenden Freitag im Schulausschuss heute plötzlich vom Senator mitgeteilt wurde, dass zwei namhafte Sachverständige, nämlich der stellvertretende Schulleiter der Erich-Kästner-Stadtteilschule, Herr Katzer, und der Schulleiter der Kielkoppelstraße, eine Sonderschule mit Sprachförderzweig – beide hatten schon zugesagt – nicht gehört werden können. Warum? Das Motiv ist klar. Er sagt zwar, man habe noch nie Lehrer einladen dürfen, Lehrer dürften nur als Vertreter der Gewerkschaft kommen, aber dahinter steckt aus meiner Sicht ganz klar eine Motivation. Herr Katzer sagt selbst, dass Inklusion für die Stadtteilschulen bestimmte Quoten für die Klassen voraussetzt und eine bestimmte Ausstattung. Er stellt sehr klar dar, wo die Probleme für die Stadtteilschulen beim Thema Inklusion liegen. Und Herr Schmidt von der Kielkoppelstraße sagt auch sehr deutlich, wir müssen im Interesse der Kinder die Förderschulen und die Sonderschulen erhalten. Wenn diese beiden jetzt also auf Betreiben des Senators nicht kommen dürfen – es sei denn, wir finden noch einen Weg, sie trotzdem einzuladen –,

(Dirk Kienscherf SPD: Das hat Ihr Parteikol- lege, Herr Heinemann, doch schon vermu- tet!)

dann erfüllt uns das erheblich mit Sorge. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, für das Wohl aller Kinder dieser Stadt, auch der mit Behinderungen, zu sorgen und nicht im Sinne von Ideologien oder Parteigezänk zu diskutieren. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir die Sonderschulen erhalten, dass durch frühe Diagnose jedes Kind mit Behinderungen in der Schule individuelle Förderung bekommt; dann kann es klappen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort bekommt Frau von Berg.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Es wurde schon ange

sprochen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich ein dickes Brett ist, was wir gemeinsam bohren müssen. Ich möchte darauf hinweisen, dass das keine ideologische Frage ist. Es geht schlicht und ergreifend darum, Kinderrechte umzusetzen. Es macht mich ärgerlich, wenn an diesen Kinderrechten herumgedoktert wird und alles infrage gestellt wird. Bei der Behindertenrechtskonvention und auch bei Paragraf 12 des Hamburgischen Schulgesetzes geht es nicht um das Ob, es geht schlicht und ergreifend um das Wie. Dem wollen wir uns gemeinsam widmen. Es geht darum, allen Kindern in einem inklusiven Schulsystem eine allgemeine Bildung zukommen zu lassen.

Zum CDU-Antrag. Ich glaube, Sie machen zwei entscheidende Fehler. Sie machen den Fehler, dass Sie die Ressource an das Kind binden wollen. Es ist mehrfach in der Literatur beschrieben worden, wozu das führt. Es führt nämlich dazu – das merken wir in Hamburg übrigens auch –, dass Kinder immer häufiger als förderbedürftig etikettiert werden, damit die Schulen die Ressource bekommen. Das ist ein Etikettierungsschwindel und nichts anderes und dagegen müssen wir uns eindeutig aussprechen.

(Beifall bei Jens Kerstan GAL)

Ein weiterer Punkt, Herr Holster hat ihn schon angesprochen, ist der Erhalt der Sonderschulen. Mir kommt es so vor, als ob die Sonderschulen unter Artenschutz gestellt werden sollen. Artenschutz soll das Aussterben einer bedrohten Art verhindern. Okay, die Sonderschule ist tatsächlich vom Aussterben bedroht, aber bei diesem Artenschutz machen die Grünen nicht bedingungslos mit. Es gibt Ausnahmen. Ich habe mit vielen Schulleiterinnen und Schulleitern Gespräche geführt und sehe ein, dass es tatsächlich noch Angebote für gewisse Behinderungen geben muss, damit diese Kinder auch mit Peers lernen können und sich verständigen können. Aber den bedingungslosen Erhalt von allen Sonderschulen, besonders denen, in die Kinder mit Lern-, Sprach- und sozialen Entwicklungsstörungen gehen, halten wir von der Fraktion der GAL für absolut falsch. Das ist teuer und unnötig.

(Beifall bei der GAL)

Zum SPD-Antrag. Das ist der richtige Ansatz, da können wir absolut mitgehen. Es ist dringend notwendig, dass die Lehrerfortbildung entsprechend nachgebessert wird. Wir in der Fraktion haben diesen Gedanken natürlich auch gehabt. Wir haben nur gedacht, das zu fordern trauen wir uns gar nicht angesichts der Tatsache, dass im Landesinstitut gerade Stellen gestrichen werden. Laut meinen Informationen wandern 54 Stellen aus dem LI ab und 20 Stellen sollen de facto ersatzlos gestrichen werden. Der Leiter der Abteilung Fortbildung, Herr Heinrichs, ist jetzt in der Abteilung B 5, also gar nicht mehr am LI. Da frage ich mich, wie das

(Dr. Walter Scheuerl)

strategisch aufgestellt werden soll. Falls noch eine Nachbesserung kommt, ist es gut. Ansonsten finde ich es schwierig vor dem Hintergrund, dass im Landesinstitut so viele Stellen gestrichen werden, zu fordern, dass diese Aufgabe auch noch auf sie zukommt.

Conclusio. Die Schulen stehen unter Aufsicht des Staates, das steht so im Grundgesetz, und unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker ist, die Behindertenrechtskonvention – ich weise noch einmal darauf hin: das sind Kinderrechte – im Schulsystem umzusetzen. Deswegen freue ich mich, übermorgen im Schulausschuss darüber zu beraten und gemeinsam hoffentlich nicht über das Ob, sondern über das Wie sprechen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Das Wort hat Frau von Treuenfels.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Holster, ich weiß nicht, wo Sie das her haben, Sie haben ja gesagt, Sie hätten das nur bei der FDP gefunden.

(Lars Holster SPD: Im Wahlprogramm!)

Im Wahlprogramm, alles klar. Das hätten Sie gern zitieren können. Ich bin immer offen für Kritik, aber ich hätte gern die Quellenangabe gehabt. Es geht uns natürlich um die Kinder, wie allen anderen auch, aber die sind nun einmal in den Schulen.

Gleich zu Anfang, Frau von Berg, stehen in Ihrer Großen Anfrage zur Inklusion zwei Sätze, die es verdienen zitiert zu werden – ich zitiere –:

"In der letzten Legislaturperiode wurde es versäumt, ein schlüssiges Gesamtkonzept für die Umsetzung des § 12 HmbSG zu erarbeiten und die notwendigen haushaltsrechtlichen Schritte zu initiieren."

"Auch Fortbildungs- und Unterstützungsangebote sind nicht in ausreichendem Umfang und mit der erforderlichen Passgenauigkeit geschaffen worden."