Protokoll der Sitzung vom 19.01.2022

Dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt 75, der Drucksache 22/6877, einem Antrag der SPDund der GRÜNEN Fraktion: Mehr Bildungsgerechtigkeit durch Informationen über Bildungsfinanzierungen wie Stipendien und BAföG gewährleisten.

[Antrag der Fraktionen der SPD und der GRÜNEN: Mehr Bildungsgerechtigkeit durch Informationen über Bildungsfinanzierungen wie Stipendien und BAföG gewährleisten – Drs 22/6877 –]

[Antrag der CDU-Fraktion: Mit Orientierungslotsinnen und -lotsen direkt an Schulen über Studienfinanzierungsmöglichkeiten informieren – Drs 22/7033 –]

[Antrag der Fraktion DIE LINKE: Politische Verantwortung übernehmen statt stipendiatischer Ablenkungsmanöver: Die Reformierung des BAföG ist überfällig! – Drs 22/7063 –]

Hierzu liegen Ihnen als Drucksachen 22/7033 und 22/7063 Anträge der Fraktionen der CDU und der LINKEN vor.

Alle drei Anträge möchte die Fraktion DIE LINKE an den Wissenschaftsausschuss überweisen.

Wer wünscht das Wort? – Herr Önes, Sie beginnen.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Bildung ist der Schlüssel für Lebenschancen, für soziale Sicher

(Krzysztof Walczak)

heit und für den Zugang zu guter Arbeit. Wenn wir über Bildung und Bildungsgerechtigkeit reden, geht es oft um Zahlen. Ich möchte zwei Beispiele nennen, um zu zeigen, was in diesem Land alles möglich ist.

Das erste Beispiel ist die Geschichte einer Bekannten, die aus einer Arbeiterfamilie kommt und in den Siebzigerjahren das Abitur gemacht hat. Damals, in den Siebzigern, war es mit der Gleichstellung noch nicht so weit her, und Frauen – gerade Frauen aus Arbeiterfamilien – mussten viele Widerstände beseitigen, um studieren zu können. Diese Bekannte von mir hat Jura studiert, und sie ist am Ende Richterin am Oberlandesgericht geworden. Dieses Beispiel zeigt, dass der Wille Berge versetzen kann.

In einem anderen Beispiel geht es um einen sehr guten Freund von mir, der als Geflüchteter in den Neunzigerjahren nach Deutschland gekommen ist. Er hatte eine Förderschulempfehlung. Da gab es viele Menschen, die sich für ihn eingesetzt haben. Deswegen hat er am Ende des Tages sein Abitur auf der Gesamtschule in Steilshoop gemacht, auch Jura studiert, zwei gute Examina abgelegt. Heute arbeitet er in einer Großkanzlei. Das zeigt, was in diesem Land alles möglich ist, und das zeigt auch, welche Potenziale in Menschen stecken.

(Beifall)

Nicht alle Kinder starten mit denselben Chancen ins Leben. Wir wissen, dass in Deutschland der Bildungserfolg zu stark von der sozialen Herkunft abhängt. Wenn ich aber an all die Menschen denke, die aus Arbeiterfamilien kommen, die keine Gymnasialempfehlung hatten, deren Eltern ihnen nicht bei Hausaufgaben helfen konnten – im Gegenteil, oft mussten diese Kinder Briefe für ihre Eltern übersetzen oder sie zu Behörden begleiten –, die keine Akademiker:innen um Rat fragen konnten, wenn es darum ging, einen Studienplatz zu finden, und die es trotzdem geschafft haben, macht mir das Mut und zeigt, was man mit Fleiß und Ehrgeiz in diesem Land erreichen kann.

Wir dürfen niemanden abschreiben, und wir müssen uns dafür einsetzen, um alle Hürden und Barrieren zu beseitigen. Jeder soll unabhängig von seiner sozialen Herkunft, seiner Abstammung und seinem Geschlecht die gleichen Chancen bei Bildung und Beruf bekommen – nicht, damit alle Kinder studieren, sondern damit sie die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, was sie machen wollen. Deutschland ist ein Land der Möglichkeiten. Wer hart arbeitet und sich Mühe gibt, soll den Aufstieg auch schaffen können.

(Beifall)

Die von mir eben genannten beiden Personen sind Mitglieder der SPD und in der SPD aktiv. Warum ist das so? Weil die SPD sich seit über 150 Jahren für Freiheit und Gerechtigkeit einsetzt.

(Beifall)

Das Aufstiegsversprechen durch Bildung gehört seit unserer Gründung zu unseren zentralen Forderungen. Willy Brandt war es, der 1971 das BAföG eingeführt hat. Durch das BAföG konnten breitere Schichten in Deutschland studieren. Damit hat er die Gesellschaft gerechter gemacht. Es wird hier auch später um BAföG gehen. Die SPD hat im Wahlkampf versprochen, das BAföG zu reformieren, das ist im Koalitionsvertrag festgehalten. Es soll elternunabhängiger werden. Auch wenn wir über Hamburg reden, müssen wir uns doch wieder nicht verstecken. Das sage ich hier oft. Das spricht für die gute Regierungspolitik in Hamburg. Führende Erziehungswissenschaftler:innen – ich nenne da beispielsweise Professor Dr. Aladin El-Mafaalani, den ich sehr schätze – fordern bestimmte Dinge im Bildungsbereich, die in Hamburg schon lange Realität sind. Ob es der Ganztag ist, ob es die Schulstruktur ist, es gibt in Hamburg keine Barrieren oder keine bildungspolitischen Sackgassen. Man kann sowohl in der Stadtteilschule als auch auf dem Gymnasium das Abitur machen. Aber damit geben wir uns nicht zufrieden. Unser Ansatz ist es, das noch besser zu machen.

Damit kommen wir zu unserem vorliegenden Antrag heute. Von 100 Arbeiterkindern finden nur 27 den Weg an die Universität. Oft genug schrecken finanzielle Hürden diese jungen Menschen vom Studium ab. Wenn Sie mit Schüler:innen sprechen, werden Sie merken, dass viele gar nicht wissen, was Stipendien sind. Einige denken, dass das etwas ist, um im Ausland zu studieren. Sie wissen manchmal auch nicht, was das BAföG ist. Wir wollen mit den Schüler:innen sprechen, sie aufklären, damit sie wissen, dass es Stipendien gibt, damit sie wissen, welche Voraussetzungen es gibt, damit sie zukünftig noch bessere Leistungen in der Schule bringen und auch diese Voraussetzungen erfüllen können.

Was passiert dann? Sie haben bessere Noten, sie sind gesellschaftlich aktiv, engagiert, und am Ende haben wir eine gerechtere Bildungspolitik. Davon profitieren nicht nur der einzelne Schüler und die einzelne Schülerin, sondern die gesamte Gesellschaft. Deshalb nehmen Sie bitte den Antrag an. – Vielen Dank.

(Beifall)

Danke schön, Herr Önes. – Für die GRÜNE Fraktion erhält Frau Müller das Wort.

Liebes Präsidium, liebe Kolleg:innen! Kennen Sie den Versuch mit den Flöhen im Glas? Setzt man Flöhe in ein Glas und verschließt es mit einem Deckel, so springen die Flöhe hoch, gegen den Deckel – und das mehrfach. Nach einiger Zeit nimmt man den Deckel ab und

(Baris Önes)

beobachtet: Die Flöhe springen weiterhin nur bis dorthin, wo der Deckel vorher ihre Bewegung begrenzte. Mit uns Menschen ist es ähnlich. Wenn uns immer wieder im Laufe unserer Leben gespiegelt wird, dass uns bestimmte Wege versperrt sind, oder wenn uns immer wieder gesagt wird, dass unsere Möglichkeiten leider an einer bestimmten Stelle enden, glauben wir es irgendwann. Dann versuchen wir nicht mehr, immer wieder gegen den Deckel zu springen.

So geht es auch dem jungen Mann, der immer wieder hörte, er könnte froh sein, wenn er irgendwo einmal einen Job fände, der nicht nur ein Minijob, sondern ein sozialversicherter Job sei. Der junge Mann wusste nicht, dass er eine finanzielle Unterstützung für bestimmte Teile der Ausbildung zum Techniker hätte beantragen können, und muss darum heute ungelernt beim Lieferdienst arbeiten.

So geht es auch der jungen Abiturientin, die die Erste in ihrer Familie ist, die das Abi macht, in der Schule aber immer wieder hörte, dass nach der Schule Schluss sei mit dem bequemen Leben und sie für sich selbst sorgen müsse. Die Abiturientin hatte keine Ahnung davon, dass sie BAföG hätte beantragen oder sich auf ein Stipendium bewerben können. Sie akzeptierte den Deckel und gab ihren Traum vom Physikstudium auf. Sie ging in die bezahlte Lehre, weil sie nicht wusste, wie sie sich ein Vollzeitstudium finanzieren sollte.

So geht es vielen, viel zu vielen, die am Bildungssystem nach dem Ende ihrer Schulzeit nicht teilhaben können – nicht, weil sie nicht wollen, sondern ganz einfach, weil die Gesellschaft ihnen einen Deckel vorsetzt. Wir sind in unserer Gesellschaft weit entfernt von einem Bildungssystem, das sich gerecht nennen kann. Diejenigen, die sowieso schon benachteiligt sind, haben die geringsten Chancen auf einen guten Abschluss und eine freie Wahl ihres weiteren Bildungsweges. Es sind diejenigen, deren Eltern beispielsweise wenig verdienen.

Diese Gesellschaft mit ihren durchs Wirtschaftssystem unausweichlich produzierten ökonomischen Ungerechtigkeiten bedingt, dass viele junge Menschen unter einem Deckel aufwachsen, der sie systematisch von Chancen auf Bildung ausschließt. Zahlreiche Studien belegen uns: In Deutschland hängen individuelle Bildungschancen zu eng mit dem Geldbeutel der Eltern zusammen.

Die Hürden, die den Zutritt zu weiterführenden Bildungseinrichtungen versperren, existieren für viel zu viele Schulabgänger:innen und liegen zugleich zu hoch. Oder anders gesagt: Es geht nicht darum, dass man einfach nicht mehr an den Deckel glauben muss oder einfach lernen muss, höher zu springen. Den Deckel gibt es nämlich tatsächlich. Er sitzt zu fest und ist ein Bestandteil unseres bisherigen Wirtschaftssystems.

Allerdings hat der Deckel manchmal zufällige oder einzelne von Arbeiter:innen erkämpfte Löcher. Es geht in den Fördermaßnahmen aus unserem Antrag nicht darum, Kindern beizubringen, höher zu springen. Es geht darum, genauer auf die Löcher in diesem Deckel zielen zu können. Natürlich können wir uns nicht mit vereinzelten zufälligen Löchern zufriedengeben, im Gegenteil. Deswegen braucht es definitiv eine BAföG-Reform.

Dankenswerterweise hat der Bundeskoalitionsvertrag, so wie mein Kollege es eben schon darstellte, eben dafür einen Plan. Ein größeres Loch für sehr viele junge Menschen ist also schon in der Mache und muss heute nicht von uns aus Hamburg einen Anstoß bekommen. Was wir hier aber heute machen können, ist, zielgenauere Flöhe zu schaffen, oder – hören wir einmal mit den Metaphern auf – jungen Menschen all die Möglichkeiten aufzeigen, die ihnen für ihre Bildungsfinanzierung zur Auswahl stehen.

Eben dies tun wir mit unserem Antrag. Schüler:innen sollen ermutigt werden, sich für die Bildungswege zu entscheiden, die sie sich wünschen. Das soll nicht daran scheitern, dass sie nicht um die Möglichkeiten wissen, wie sie an das Geld kommen können, um ihr Leben im nächsten Bildungsabschnitt zu finanzieren. Denn auch dieses Wissen ist in unserer Gesellschaft ungerecht verteilt; Bourdieu und seine Theorie vom kulturellen Kapital lassen grüßen. Mit diesem Antrag können wir die Hürden nicht beseitigen, und wir können den Deckel nicht wegnehmen. Aber wir können die Hürden etwas tiefer setzen und Wegweiser zu den Löchern im Deckel aufstellen und damit die Wahrscheinlichkeit verringern, dass die Bildungsmöglichkeiten von jungen Menschen nur vom Portemonnaie ihrer Eltern abhängen. Packen wir es an.

(Beifall)

Danke schön, Frau Müller. – Für die CDU-Fraktion erteile ich Frau Dr. Frieling das Wort.

Meine Damen und Herren! Das Problem ist, glaube ich, ein wirklich bestehendes. Wir wissen alle, dass die Information häufig nicht die erreicht, die sie am dringendsten brauchen würden. Wir haben das beim Deutschlandstipendium, dass, glaube ich, auch viele sehen, wo im Endeffekt mit wahnsinnig viel Marketingaufwand versucht worden ist nachzubessern. Mit dem aber, was jetzt geplant ist – es sei denn, ich verstehe das dann eben auch einmal falsch –, kommt es mir vor, als wenn man den Deckel nur ein klein bisschen weniger fest anschraubt. Denn ein Konzept zu entwickeln, wo die Aufgabenstellung so weit ist, wie Sie sie jetzt offengelassen haben, ist, glaube ich, nicht zielführend. Es gibt schon die berühmten Flyer, es gibt schon Informationskampagnen an

(Ivy May Müller)

den Schulen, es gibt Initiativen wie ArbeiterKind, die gezielt mehr machen und auch noch mehr vor Ort sind. Ich glaube, dass es sehr sinnvoll sein könnte, wenn man den Auftrag etwas nachschärft und tatsächlich sagt: Okay, es gibt zwei entscheidende, wichtige Wege. Eins ist auch von Ihnen deutlich angesprochen worden, nämlich das Vorbild – Leute also, die es geschafft haben, deren Lebensweg ein Vorbild sein kann. Und das wäre, glaube ich, superwichtig, weil die Konzeptentwicklung dann auch darauf abhebt, solche Menschen als Orientierungslotsen zu gewinnen. Das ist auch Teil unseres Antrags.

Die andere Seite ist die: Wie erreicht man denn heutzutage junge Leute? Denn in der Schule ist es ja wie hier: Es wird gequatscht und nicht zugehört.

(Zurufe)

Wo erreichen Sie die Leute? Sie erreichen sie auf Social Media, und das muss der eigentliche Schwerpunkt der Kampagne sein. Gehen Sie auf TikTok, gehen Sie auf das Medium, was gerade richtig gut läuft, und entwickeln Sie das Konzept, ein inhaltlich attraktives Konzept, gerade für junge Menschen, dort, wo Sie sie am allerbesten erwischen. Das ist vermutlich, ob man es nun will oder nicht, in der Social-Media-Welt. Ich glaube, das wäre ein ganz wichtiger Schritt.

Was mich auch noch wundert, ist der lange Zeithorizont; der Senat wird ersucht, bis Ende 2022 zu berichten. Ich würde sagen, dieser Auftrag ist kein Hexenwerk, und ich glaube, es würde uns gut anstehen zu sagen, wir datieren das ein wenig vor, sodass diese Initiativen auch laufen können. Denn das Wichtige ist nicht das Konzept, das Wichtige ist nicht das Papier – das Wichtige ist, dass etwas geschieht. – Vielen Dank.

(Beifall)

Danke schön, Frau Dr. Frieling. – Für die Fraktion DIE LINKE erteile ich der Abgeordneten Frau Tietjen das Wort.

Liebe Hamburgerinnen und Hamburger, liebe Kolleg:innen, sehr geehrtes Präsidium! Bei der Linksfraktion haben wir uns gefreut, dass sich SPD und GRÜNE nun doch der Bildungsgerechtigkeit annehmen wollen. Wir haben auf eine Trendwende in der unsozialen Wissenschaftspolitik gehofft. Bisher hat der Senat gegen Bildungsgerechtigkeit gearbeitet. So führte er beispielsweise neue Bildungsgebühren im Medizinstudium ein. SPD und GRÜNE drängten Studierende, die in der Pandemie ihren Job verloren, lieber in die Verschuldung, statt ihnen zu helfen. Außerdem unterwarf die Landesregierung die Hamburger Hochschulen einem derart verheerenden Kürzungshaushalt, dass es für die Beteiligten noch schwieriger wurde, Hürden in der Bildungsland

schaft abzubauen, insbesondere weil schon vor Pandemiebeginn die Hälfte aller Hamburger Studierenden unterhalb der Armutsgrenze leben mussten, obwohl knapp 80 Prozent neben dem Studium arbeiteten.

Ist der Antrag der Koalition also ein gutes Signal für alle Studierenden? Nein, denn schaut man in den Antrag, merkt man schnell, dass es SPD und GRÜNEN hier keinesfalls darum geht, die prekäre Lage der Hamburger Studierenden zu verbessern, vielmehr lenkt er von den echten Problemen der Studienfinanzierung ab. Die Senatsparteien behaupten zynisch, es mangele vor allem an Informationen über das BAföG und Stipendien Dritter. Dabei ist längst klar, dass Stipendien nicht die Antwort auf die massiven Probleme bei der Studienfinanzierung sind. Die Anzahl der Stipendien reicht nicht aus, um diejenigen in Armut zu fördern, und die Art der Mittelvergabe kann die Probleme des BAföG nicht ausgleichen. Es ist kein Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit, sich bei der Studienfinanzierung auf Stipendien zu fokussieren, denn ehrenamtliches Engagement und gute Schulnoten hängen in hohem Maße vom Elternhaus beziehungsweise von der Förderung in der Kindheit ab. Die Ungleichheit wird durch Begabtenförderwerke also nicht abgebaut, sondern systematisch verschärft. Die Angst vor Verschuldung, die Restriktionen beim Studienfachwechsel und die Koppelung ans elterliche Einkommen verhindern, dass das BAföG das zentrale Instrument für Bildungsgerechtigkeit ist, was es eigentlich sein sollte. Deshalb fordere ich Sie auf: Übernehmen Sie endlich politische Verantwortung. Statt Infozettel über wenige Stipendien braucht es endlich eine Reformierung des BAföGs für alle. Nur so können wir echte Bildungsgerechtigkeit erreichen.

(Beifall)

Stimmen Sie unserem Zusatzantrag für eine Bundesratsinitiative zur BAföG-Reform zu und lassen Sie uns im Wissenschaftsausschuss ausführlich über eine Verbesserung der Studienfinanzierung sprechen. – Vielen Dank.

(Beifall)