Protokoll der Sitzung vom 16.09.2004

(Torsten Koplin, PDS: Genau.)

Es geht dabei auch um die gerechte Verteilung von Leistungen und von Lasten. Der Sozialstaat beruht auf dem Grundprinzip des sozialen Ausgleichs und der Sicherung der Chancengleichheit sowie der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am Fortschritt. Eine differenziertere Bestandsaufnahme der sozialen Verhältnisse muss deshalb nicht nur materielle Situationen der Menschen im Land analysieren, sondern auch danach fragen, wie der Zugang der Bürgerinnen und Bürger beispielsweise zu schulischer, zu beruflicher Bildung, aber auch zu Erwerbsmöglichkeiten und anderem gewährleistet ist. Sie muss die Ursachen sozialer Ausgrenzungen und Wege zu ihrer Beseitigung nennen. Und genau das entspricht auch dem, Herr Schubert, was in der Pressemitteilung mitgeteilt ist. Das ist eine wesentliche Aussage dieses hier in Angriff zu nehmenden Berichtes.

(Beifall Torsten Koplin, PDS)

Der erste Armuts- und Reichtumsbericht für Mecklenburg-Vorpommern sollte deshalb über ganz zentrale Indikatoren Auskunft geben, die die Lebenslage der Menschen im Land bestimmen, Herr Schubert, und das ist etwas mehr als die Darstellung der in jedem Statistischen Jahrbuch genannten Fakten.

(Beifall Torsten Koplin, PDS: Genau.)

Darüber hinausgehend muss etwas dargestellt werden. Angaben zu Einkommen, Vermögen und Überschuldung sind eine Sache,

(Harry Glawe, CDU: Da haben Sie doch das Statistische Landesamt dafür.)

zur sozialen ökonomischen Situation von Bürgerinnen und Bürgern im Bereich der Sozialhilfe wären weitere Aspekte. Es gilt aber auch, die Lebenslage von Familien und Kindern einzuschätzen, etwas zum Bildungsstand in der Gesellschaft zu sagen, zum Arbeitsmarkt, zum Wohnen, zur gesundheitlichen Situation, zur Pflegebedürftigkeit,

(Harry Glawe, CDU: Das steht doch im Gesundheitsbericht drin, Frau Ministerin.)

zum öffentlichen Nahverkehr als wesentliches soziales Gut, zur Situation von Menschen mit Behinderungen und zur Situation von Migrantinnen und Migranten.

(Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Lassen Sie mich im Vorgriff auf den Bericht eine Reihe wichtiger Sozialindikatoren aufzählen. Herr Schubert erwähnte schon das Jahreseinkommen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und dass wir damit am unteren Ende der Bundesländer stehen. Um den bundesweiten Schnitt von 16.552 Euro zu erreichen, wären ganze 3.000 Euro pro Jahr und Einwohner mit zusätzlich verfügbarem Einkommen notwendig. Das heißt, mehr als 20 Proz ent müsste das verfügbare Einkommen in unserem Lande steigen, um den Bundesdurchschnitt zu erreichen. Hierbei gibt es aber auch in Mecklenburg-Vorpommern regionale Differenzierungen.

Das verfügbare Einkommen eines Bürgers lag beispielsweise im Landkreis Demmin unter Berücksichtigung aller Sozialleistungen wie zum Beispiel Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Wohngeld bei 78 Prozent des Bundesdurchschnitts.

(Zuruf von Peter Ritter, PDS)

Würde man diese sozialen Leistungen noch herausrechnen, läge es bei 61 Prozent des Bundesdurchschnitts. Mit anderen Worten: Entfallen diese sozialen Leistungen, werden sie gemindert. Dann wird es noch schwieriger, den Anschluss an die Entwicklung in Deutschland zu finden. Dabei hat die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger mit 65.646 Personen – ich wiederhole noch mal, 65.646 – im Jahr 2003 bereits den höchsten Stand seit der Wende erreicht.

(Zuruf von Harry Glawe, CDU)

23.638 Sozialhilfeempfänger von ihnen – also mehr als ein Drittel – waren unter 18 Jahre alt. Die Ausgaben der Gemeinden für die soziale Sicherung etwa durch Sozialhilfe oder für die Jugendhilfe sind je Einwohner in Mecklenburg-Vorpommern seit 1998 von 298 Euro auf mittlerweile 358 Euro pro Einwohner gestiegen. Und bei alledem, das wissen wir, ist eine grundlegende Trendwende auf dem Arbeitsmarkt nicht in Sicht.

Auch für den Monat April 2004 weist die Statistik der Arbeitslosenzahlen eine Quote von 20 Prozent für unser Land aus. Die regionalen Arbeitslosenquoten schwanken stark zwischen 13,1 Prozent im Landkreis Ludwigslust und 29,8 Prozent im Landkreis Uecker-Randow. 178.100 Frauen und Männer sind gegenwärtig arbeitslos. Und gerade bei ihnen verfestigt sich zunehmend das Gefühl, in einer „Sonderregion“ zu leben. Mit seinen jüngsten Äußerungen hat Herr Bundespräsident Köhler dieses Gefühl sicher noch bestätigt.

Es sei noch einmal an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Artikel 72 unseres Grundgesetzes ausdrücklich die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der gesamten Bundesrepublik Deutschland postuliert. Natürlich wird es in Deutschland immer ein gewisses Gefälle zwischen Nord-Süd und Ost-West geben. Aber wer Anstrengungen zur Angleichung der Lebensverhältnisse in einem Atemzug mit dem Begriff „Subventionsstaat“ nennt, der verkennt einfach die Anstrengungen gerade der Menschen in den neuen Ländern.

(Unruhe bei Abgeordneten der CDU – Beifall Torsten Koplin, PDS – Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Also ich habe das Interview gelesen und darf deshalb diesen Satz noch einmal wiederholen:

(Harry Glawe, CDU: Jaja, Sie interpretieren das einfach falsch!)

Wer Anstrengungen zur Angleichung der Lebensverhältnisse in einem Atemzug mit dem Begriff „Subventionsstaat“ nennt,

(Zuruf von Harry Glawe, CDU)

der verkennt die Anstrengungen gerade der Menschen in den neuen Ländern. Sie brauchen nicht allein Freiräume für Ideen und Initiativen. Sie brauchen eine gezielte Politik der Solidarität

(Egbert Liskow, CDU: Wer ist denn an der Regierung?!)

und der Anerkennung ihrer Leistungen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS – Heiterkeit bei Harry Glawe, CDU: Wollen Sie einen Bericht für Ihren Wahlkampf nachher haben oder was soll das werden? Soll das ein Wahlkampfbericht werden?)

In allen neuen Bundesländern mit Ausnahme von Brandenburg, welches ja die Nähe zu Berlin hat und daraus profitiert, haben wir in den letzten Jahren massive Abwanderungsverluste zu verzeichnen. Allein unser Land hat seit 1990 127.700 Einwohnerinnen und Einwohner verloren, darunter allein 61.500 Frauen in der Altersgruppe von 15 bis 30 Jahren.

(Unruhe bei Egbert Liskow, CDU – Zurufe von einzelnen Abgeordneten der PDS)

Ich wollte nur mal daran erinnern, dass ich noch da bin, und die Rede eigentlich ganz gerne fortsetzen würde.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Allein unser Land hat seit 1990 127.700 Einwohnerinnen und Einwohner verloren. Darunter waren allein 61.500 Frauen in der Altersgruppe von 15 bis 30 Jahren. Die Zahl der Geburten im Land hat sich mit 12.782 im Jahr 2003 auf einem, wenn auch niedrigen, aber doch gewissen Niveau stabilisiert. Gleichzeitig, das wissen wir, nimmt der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung von derzeit 18 Prozent auf voraussichtlich 26 Prozent im Jahr 2020 zu.

All diese Zahlen, die hier ausschnittsweise vorgetragen wurden von mir, mögen für sich genommen nur eine gewisse Tendenz widerspiegeln. In einer Gesamtschau aber lassen sie durchaus Rückschlüsse auf die soziale Situation im Land zu, auf die Lebenslage in Mecklenburg-Vorpommern.

(Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Meine Zielstellung ist es deshalb, einen solchen Bericht bis zum Ende der Legislaturperiode vorzulegen, bis zum Ende der Legislaturperiode deshalb – ich wiederhole es noch einmal, Herr Schubert –, weil es nicht allein darum geht, Zahlen aus Statistischen Jahrbüchern abzuschreiben,

(Torsten Koplin, PDS: Genau.)

sondern diese entsprechend analytisch und konzeptionell zu bearbeiten.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Aus diesem Grunde unterstütze ich den Antrag der Fraktionen der PDS und SPD. – Danke.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank, Frau Ministerin.

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete der SPD-Fraktion Herr Brodkorb.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst könnte man sicher die Frage stellen, warum in einem Parlament überhaupt über Armut und Reichtum in der Gesellschaft diskutiert werden soll. Könnte es nicht sein, dass Armut und Reichtum private Probleme sind, die das Öffentliche und Politische nichts angehen? Ich möchte zwei Argumente formulieren, warum dies aus unserer Sicht eben nicht so ist:

Erstens geht es um die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

(Torsten Koplin, PDS: Sehr richtig.)

Die Frage, in welchem Verhältnis die Armen und die Reichen zueinander in einer Gesellschaft stehen, entscheidet auch mit darüber, ob eine Gesellschaft funktioniert, ob sie zusammenhält, ob sie gemeinschaftlich agiert und etwas auf die Beine stellt. Und dies ist politisch und öffentlich in einem eminenten Sinne.

(Beifall Frank Ronald Lohse, SPD)

Und das Zweite. Die Frage von Armut und Reichtum entscheidet auch in maßgeblicher Weise über Lebenschancen. Wir als Sozialdemokraten sind der Auffassung, dass es die vornehmste Aufgabe der Politik ist, für alle Menschen gleiche und gerechte Lebenschancen zu organisieren, und da dies ganz wesentlich mit Armut und Reichtum zusammenhängt, finden wir es angemessen, dies hier auch im Landtag zu thematisieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und Torsten Koplin, PDS)

Wenn also an dem politischen Charakter dieser Fragestellung keine Zweifel bestehen können, wenn man sich das sachlich ansieht, stellt sich die Frage, mit welchen Indikatoren oder mit welchen Fragestellungen man denn das Thema „Armut und Reichtum in Deutschland“ bearbeiten und diskutieren will. In der Armutsforschung geht es in erster Linie um Einkommen und aus meiner Sicht – aber das ist meine persönliche Auffassung – liegen zu diesem Bereich durchaus sehr viele Daten vor, die aussagekräftig sind. Man kann in diesem Zusammenhang in der Tat darüber streiten, wie viele weitere Datenerhebungen