Protokoll der Sitzung vom 26.01.2006

Ich zitiere einen Landesjustizminister: „Wir dürfen bei all unseren Bemühungen um möglichst perfekte gesetzliche Regelungen nicht dem Irrglauben unterliegen, die Gefährdung unserer Kinder lasse sich durch Gesetz abschaffen, das Beschreiben von Papier könne unsere Sicherheit verbessern. Worauf es wirklich ankommt, das ist, Fehler bei der Anwendung der Gesetze zu vermeiden. In nahezu allen Fällen schwerster Sexualstraftaten, die in der Öffentlichkeit in letzter Zeit diskutiert worden sind, ist der aktuellen Tat eine lange Geschichte vorausgegangen; eine Geschichte aus zunächst noch nicht so schweren Sexualdelikten, eine Geschichte aus fehlender oder mangelhafter Behandlung, aus Rückfällen und Lockerungsversagen. Wer den Schutz der Bevölkerung wirklich verbessern will, muss hier ansetzen. Wir brauchen mehr Gutachter und Behandler, wir brauchen hervorragend ausgebildete Gutachter und Therapeuten. Der beste Schutz besteht darin, dass es uns gelingt, zuverlässig diejenigen herauszufinden, die therapieresistent sind, bei denen wir nicht das Risiko eingehen dürfen, sie jemals wieder herauszulassen.“ Justizminister Erwin Sellering auf einem wissenschaftlichen Symposium am 27. Januar 2003 in RostockWarnemünde.

Zur Staatsanwaltschaft Neubrandenburg: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist ein Staatsanwalt wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Strafvereitelung im Amt verurteilt worden. Durch seine sich über viele Monate erstreckenden gröbsten Pflichtverletzungen können zahlreiche Straftaten wegen eingetretener Verjährung nicht mehr verfolgt werden. Der überwiegende Teil der Verfahren betrifft Fälle von sexuellem Missbrauch, also von pornografischen Darstellungen von Kindern, einen Fall mit Vergewaltigung, aber auch Verfahren aus dem politischen Dezernat, wo es um Aktivitäten der PKK ging.

Das eigentliche Versagen, das dringend aufklärungsbedürftig ist, besteht in der Wahrnehmung der Leitungsaufsicht. Zwei vorgesetzte Abteilungsleiter hielten es trotz Hinweisen einer Geschäftsstellenbeamtin nicht für nötig, das Verhalten des Betroffenen zu überprüfen, sich dessen Akten wirklich anzusehen. Aber auch das hat keine disziplinarrechtlichen Folgen, weil das nun ebenfalls verjährt ist. Das alles ist schlicht ein unglaublicher Skandal, eine Schlamperei ohnegleichen!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Zudem gibt es seit mindestens zwei Jahren Verhältnisse an der Staatsanwaltschaft Neubrandenburg, die selbst hoch motivierten und einsatzfreudigen Mitarbeitern eine

vernünftige und sachgerechte Arbeit nahezu unmöglich machen. Der Minister hat in diesem Zusammenhang im Rechtsausschuss selbst von einer „Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Behördenleiter und Behörde“ gesprochen. Die Missstände müssen gründlich aufgeklärt und abgestellt werden, damit qualifizierte Mitarbeiter, Staatsanwälte und andere Bedienstete endlich wieder vernünftig und ohne massive hausgemachte Beeinträchtigungen arbeiten können.

(Siegfried Friese, SPD: Das ist bereits erfolgt.)

Die bloße Auswechslung des Behördenleiters, Kollege Friese, ist mit Sicherheit zu kurz gegriffen. Die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft haben einen Anspruch darauf, dass sie wieder vernünftige und korrekte Arbeitsbedingungen bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Geradezu absurd ist der Vorwurf: Ein Dreivierteljahr vor der Wahl dürft Ihr doch keinen Untersuchungsausschuss installieren. Dazu stelle ich Folgendes fest:

Erstens. Wir haben uns weder den Zeitpunkt der Tragödie um die ermordete Carolin noch das Bekanntwerden der Missstände an der Staatsanwaltschaft Neubrandenburg ausgesucht.

Zweitens. Angesichts der Dramatik des Falls Carolin und der stereotypen Aussagen des Justizministers, alles sei ordnungsgemäß verlaufen, besteht dringender Aufklärungs- und Handlungsbedarf, denn es muss schnellstens alles Menschenmögliche unternommen werden, um einen weiteren Fall Carolin zu verhindern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Das geht nur in einem förmlichen Untersuchungsausschuss, der nach den Regeln der StPO arbeitet und nicht auf wohldosierte vom Minister zugeteilte Informationen angewiesen ist.

(Dr. Armin Jäger, CDU: Richtig. – Zuruf von Angelika Peters, SPD)

Drittens. Der Landtag ist für vier Jahre gewählt, nicht für drei. Wer meint, seine Arbeit sei hier erledigt, sollte den Platz für Nachrücker freimachen. Wir haben unsere Pflicht bis zum Ende der Legislaturperiode zu tun, unabhängig von anstehenden Wahlen. Übrigens verabschiedet sich die Landesregierung auch nicht ein Jahr vor der Wahl. Sie bleibt vielmehr ebenso wie der Landtag bis zum Zusammentritt eines neuen, also bis zur Bildung einer neuen Regierung im Amt. Alles andere wäre ja wohl geradezu aberwitzig.

Viertens. Die Aufklärung von Missständen mit dem Ziel, positive Konsequenzen daraus zu ziehen, schwächt nicht den Rechtsstaat oder die Demokratie, sondern stärkt Rechtsstaat und Demokratie, weil dadurch deutlich wird, dass Probleme in einer funktionierenden Demokratie eben nicht verharmlost, unter den Teppich gekehrt oder totgeschwiegen, sondern aufgegriffen und erforderliche Konsequenzen gezogen werden. Dafür bedarf es der Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Wenn alle sich um Sacharbeit bemühen, dann ist es möglich, in dieser Legislaturperiode wesentliche Fragen zu klären.

Ich finde es sehr bemerkenswert, dass einerseits behauptet wird, man könne die schwerwiegenden Probleme im Rechtsausschuss in der verbleibenden Zeit aufklären,

und andererseits gesagt wird, wenn ihr jetzt einen Untersuchungsausschuss einsetzt, dann könnt ihr mit der Arbeit gar nicht fertig werden. Das ist ein Widerspruch, den muss man erst einmal aufklären. Ein Untersuchungsausschuss hat die entsprechende Zeit, wenn wir es denn wollen, um sich intensiv mit den Problemen auseinander zu setzen und, das ist das Entscheidende, Vorschläge zu machen, um Missstände so schnell wie möglich abzustellen. Dazu gehören im Fall Carolin vor allen Dingen die Fragen, die mit der Sozialtherapie zusammenhängen. Da ist das aufzugreifen, was der Minister in öffentlichen Vorträgen gesagt hat:

Erstens. Wie ist es denn tatsächlich mit der Ausgestaltung der Sozialtherapie im Land?

Zweitens. Wie kann das Prüfverfahren für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verbessert werden?

Und was die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg angeht, hier muss die Behörde wieder arbeitsfähig werden. Das sind wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Behörde schuldig, aber auch der Rechtspflege in unserem Land.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Danke schön, Herr Dr. Born.

Interfraktionell wurde eine Aussprache mit einer Dauer von 90 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat der Justizminister Herr Sellering.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der schreckliche Mord an Carolin, die Tat voraussichtlich eines gerade erst aus der Haft Entlassenen, muss von der Justiz und ganz sicher auch von der Politik, von diesem Parlament sehr ernst genommen werden. Die Menschen in unserem Land empfinden Trauer, aber auch Wut darüber, dass so eine Tat geschehen konnte. Sie machen nicht nur den Täter verantwortlich, sondern sie fragen auch nach der Verantwortung des Staates. Maik S. war in Haft und unterlag damit allen Einflussmöglichkeiten, die der Staat hat. Wenn es aber rechtlich nicht möglich war, ihn zum Ende der Haft festzuhalten, dann müssen wir dringend diese Möglichkeit, das rechtliche Instrumentarium zum Schutz der Bevölkerung vor schwersten Sexualstraftätern, konsequenter ausgestalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und Linkspartei.PDS)

Das ist für mich die richtige Konsequenz aus diesem schrecklichen Mord. Das ist der richtige Weg, wenn wir alles tun wollen, damit so eine Tat sich möglichst nicht wiederholt.

Ähnlich ist es mit dem zweiten schwerwiegenden Vorwurf, der in der Öffentlichkeit erhoben worden ist: Hätte Maik S. durch andere oder mehr Therapie so weit gebessert werden können, dass von ihm keine Gefahr mehr ausging? Wenn diese Möglichkeit nicht bestand, weil Motivation und Veränderungsbereitschaft fehlten, weil seine Persönlichkeitsstruktur eben so ist, dass er nicht therapierbar war, dann müssen wir andere Wege finden, mit solchen Menschen umzugehen, als vergeblich auf sie einzuwirken

und sie dann letztlich doch freilassen zu müssen. Dann geht es auch um die Frage, ob wir eigentlich die Grenze zwischen gesund und krank, zwischen Handlungsfähigkeit und Verantwortung eines Täters auf der einen Seite und krankhafter Störung und fehlender Schuldfähigkeit auf der anderen Seite richtig ziehen, ob wir Menschen, die so unvorstellbar brutal, mitleidlos und egoistisch handeln, nicht als krank ansehen müssen und sie dann folgerichtig erst wieder herauslassen, wenn wir davon überzeugt sind, dass sie gesundet sind.

Sie haben das leider nicht hören können, meine Damen und Herren von der CDU, der Gutachter Dr. Orlob hat im Rechtsausschuss berichtet, dass es in der Wissenschaft durchaus Ansätze in diese Richtung gibt. Wir haben mit Professorin Herpertz von der Rostocker Universität sogar eine Vertreterin dieser Richtung und damit eine erhebliche fachliche Kompetenz hier im Land, die wir nutzen sollten.

(Dr. Armin Jäger, CDU: Das werden wir tun.)

Auch hier gibt es allerdings eine andere Einschätzung der Opposition. Die Opposition sagt, das Fehlschlagen aller Resozialierungsbemühungen habe an fachlichen Fehleinschätzungen gelegen. Es habe hier individuelles vorwerfbares Fehlverhalten gegeben – auch darauf bezieht sich der Untersuchungsausschuss –, obwohl hierzu inzwischen sehr klare Äußerungen des Gutachters Dr. Orlob vorliegen.

Ich habe im Rechtsausschuss in drei sehr langen Sitzungen gemeinsam mit dem Generalstaatsanwalt und dem Vollzugsabteilungsleiter Rede und Antwort gestanden. Ich werde selbstverständlich weiter alle Fragen beantworten und rückhaltlos alles offen legen.

Meine Damen und Herren, ich hüte mich grundsätzlich vor einer zu schnellen Bewertung, ob in einem bestimmten Fall individuelles Fehlverhalten vorliegt oder nicht. Bei den gegen die Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwürfen im Fall Maik S. habe ich mich allerdings früh vor die Staatsanwaltschaft gestellt, denn diese Vorwürfe werden ausschließlich auf der Grundlage einer bestimmten Rechtsauffassung erhoben. Nur wenn diese Rechtsauffassung zutrifft, dass die Staatsanwaltschaft überhaupt eine rechtliche Handhabe hatte für einen Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung, nur dann kann ihr das Nichtstellen dieses Antrages als Fehlverhalten vorgeworfen werden.

Ich halte diese Rechtsauffassung aber nicht für vertretbar, jedenfalls nicht vertretbar für einen Staatsanwalt bei der Bearbeitung seiner Fälle. Da hat er sich an der oberen und obersten Rechtsprechung auszurichten. Und diese Rechtsprechung ist eindeutig, das sagt die Prüfung des Generalstaatsanwalts und das bestätigt die Fachabteilung meines Hauses. Wenn für einen Täter, der nicht psychisch krank ist, durch ein rechtskräftiges Urteil entschieden wird, dass seine Tat, unter Berücksichtigung seiner Vorgeschichte und unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeit, mit sieben Jahren zu ahnden ist, dann muss es grundsätzlich bei diesem rechtskräftigen Urteil bleiben. Wir können nicht, wenn unsere Resozialisierungsbemühungen nicht den gewünschten Erfolg haben, sagen: Behalten wir ihn doch noch ein Jahr hier. Und erst recht können wir nicht sagen: Sperren wir ihn doch lieber weg für immer. Wer ein rechtskräftiges Urteil so massiv ändern will, braucht, ich glaube, das leuchtet jedem ein, schwerwiegende Gründe,

(Dr. Armin Jäger, CDU: Und die lagen vor!)

neue Erkenntnisse, neue Tatsachen, die ein völlig anderes Licht auf den Täter und seine Gefährlichkeit werfen, die, hätte man sie bei der Verurteilung schon gewusst, zu einer anderen oder weitergehenden Verurteilung geführt hätten.

Bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung kommen als neue Tatsachen entweder vorher begangene Straftaten in Betracht, die erst nach dem Urteil bekannt werden – das lag hier nicht vor –, oder aber ein Verhalten in der Haft, das zeigt, die Gefährlichkeit ist viel weitergehender und höher, als beim Urteil erkennbar war.

(Dr. Armin Jäger, CDU: Das ist ja interessant!)

Dazu reichen leichte disziplinarische Verfehlungen wie bei Maik S. nicht aus.

(Michael Ankermann, CDU: Sie kennen ja die neuste Rechtsprechung noch immer nicht, Herr Minister!)

Dazu ist erheblich mehr erforderlich, Herr Ankermann, wie zum Beispiel in dem vom 8. Dezember 2005 vom BGH entschiedenen Fall, den Sie in Ihrem Antrag ausdrücklich angesprochen haben. In jenem Fall gab es während der Haft Straftaten, es gab gegen Leib und Leben gerichtete Handlungen, es gab aggressive Ausbrüche sogar in Gegenwart des Therapeuten, es gab massiven fortlaufenden Drogenmissbrauch bis hin zu Kokain und Heroin, der schließlich zum Therapieabbruch führte. Insoweit ist für mich nicht verständlich, dass die Opposition zur Begründung des Untersuchungsausschusses auf diesen Fall verwiesen und gesagt hat: Dieser Fall, bei dem das alles vorlag, sei mit dem von Maik S. vergleichbar, bei dem nichts davon vorlag.

(Zuruf von Rainer Prachtl, CDU)

Ich bedaure sehr, dass die Opposition ihre in der Öffentlichkeit erhobenen weitgehenden Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft aufrechterhält, ohne auf der anderen Seite bereit zu sein, sich an der Expertenanhörung im Rechtsausschuss zu beteiligen, die unmissverständlich klären soll, ob ihre Anschuldigungen überhaupt eine rechtliche Grundlage haben könnten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und Linkspartei.PDS)

Meine Damen und Herren, zur Behandlung von Maik S. im Vollzug hat der Rechtsausschuss letzten Donnerstag den Gutachter Dr. Orlob gehört, der Maik S. zweimal untersucht und begutachtet hat. Herr Dr. Orlob hat unter anderem erklärt, und ich gebe jetzt nur das wieder, was man öffentlich wiedergeben kann, nämlich die Äußerungen, die er schon in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, im Nachhinein – und insofern komme der erneuten Tat besonderes Gewicht zu –, zeige sich, dass Maik S. durch Therapie nicht erreichbar gewesen wäre.

(Rainer Prachtl, CDU: Kaum! – Dr. Armin Jäger, CDU: Weil sie nicht stattgefunden hat.)

Nach gegenwärtiger Einschätzung sollten wir, glaube ich, diesen Fall so ernst nehmen, dass wir uns gegenseitig ausreden lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und Linkspartei.PDS – Dr. Armin Jäger, CDU: Ja, eben, ja. – Zuruf von Heike Polzin, SPD)