Protokoll der Sitzung vom 23.10.2008

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Linke von der Fraktion DIE LINKE.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! In seiner Rede am 21. Oktober dieses Jahres stellte der Abgeordnete der NPD-Fraktion, Herr Birger Lüssow, fest, unser Erbe ist deutsch. Ja, unser Erbe ist deutsch, auch deutsch. Und weil das so ist, sind wir gut beraten, angesichts des vorliegenden Antrages unser Erbe, unsere Geschichte zu befragen und uns kritisch damit auseinanderzusetzen.

In dieser Auseinandersetzung kommen wir nicht umhin festzustellen, dass mit dem vorliegenden Antrag ein Begriff gewählt und in der Begründung untersetzt wurde, zu dem sich Assoziationen einstellen, Assoziationen, die dem deutschen Volk beim Blick auf die eigene Geschichte nicht zu Ruhm und Ehre gereichen,

(Zuruf von Raimund Borrmann, NPD)

denn wir erfahren hierbei viel über das Leid, über Mord, Terror und Gewalt, die Deutsche sowie Menschen anderer Völker durch Deutsche erfahren haben.

(Udo Pastörs, NPD: Die Deutschen durch andere Völker aber ebenso. – Dr. Norbert Nieszery, SPD: Wer hat denn angefangen? Wer hat denn angefangen?)

Ich darf daran erinnern, dass es einmal einen deutschen Staat gab, zu dessen Staatsdoktrin es gehörte, einen Reichsausschuss für Volksgesundheit zu unterhalten,

(Udo Pastörs, NPD: Gute Einrichtung.)

in dem ein Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP und in dessen Sicherheitshauptamt, seit 1939 dann bekannt als Reichssicherheitshauptamt, die Abteilung „Rasse und Volksgesundheit“ agierten. Wozu, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, diese Aufzählung? Natürlich geht es bei dieser Geschichtsbetrachtung nicht allein um Strukturen oder um Begriffe. Nein, es geht um deren inhaltliche und also um deren praktische Auslegung.

In der Begründung zu dem vorliegenden Antrag heißt es: „Der Name Volksgesundheitskasse dokumentiert, dass diese Kasse ihr Handeln allein an der Gesundheit des Volkes orientiert.“ Sie schreiben „des Volkes“, also nicht der hier lebenden und arbeitenden Menschen unterschiedlicher Völker, sondern des Volkes, des deutschen Volkes, könnte man ergänzen nach der Einbringungsrede.

(Zuruf von Irene Müller, DIE LINKE)

So verstehe ich die Wortwahl Heimattreue, Volkstreue, Nationalisten, Zuführung von Ausländern.

(Zuruf von Raimund Borrmann, NPD)

Mit dem Begriffspaar „Rasse und Volksgesundheit“ wurde in den Jahren 1933 bis 1945 das deutsche Volk ideologisch im Sinne einer besonderen, über anderen Völkern stehenden Rasse indoktriniert. Wir erinnern uns, dass es gerade auch die Ärzteschaft war, die sich in den Dienst dieser Ideologie gestellt hat.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Leider Gottes.)

1933 wurde von der kassenärztlichen Vereinigung den jüdischen Ärzten die Zulassung entzogen. Jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden aus den Institutionen vertrieben und durch ihre sogenannten arischen Kollegen ersetzt.

1935 wurde in Alt Rehse die Führerschule der Deutschen Ärzteschaft eröffnet. Hier wurde der ideologische Anspruch der Gesundung des Volkskörpers auf bäuerlich-agrarischer und rassischer Grundlage in theoretischer Hinsicht umgesetzt. Die Hauptaufgabe des nationalsozialistischen Arztes wurde konsequenterweise mit dem Erhalt des artgleichen und gesunden Bestandes des deutschen Volkes beschrieben. Der Rundfunk übertrug diese Eröffnungsveranstaltung, das „Deutsche Ärzteblatt“ berichtete ausführlich. So wusste jeder in der Medizin Tätige, worum es künftig gehen sollte.

Die sogenannte Auslese jener, die nach der weltanschaulichen Erziehung in der Partei ärztliche Führer sein sollten, war Alt Rehse vorbehalten. An die 40.000 Medizinerinnen und Mediziner gingen durch diese Schule und folglich rekrutierten sich aus ihnen die Experten des Euthanasiemordprogramms, die Spezialisten für medizinische Experimente, für den Mord an Juden, an Sinti und Roma. Millionen Menschen nicht arischer Herkunft, Menschen mit körperlichen, seelischen oder geistigen Behinderungen wurden Opfer dieses Mordprogramms, um den „deutschen Volkskörper“ in seiner Einheit und Reinheit zu erhalten und zu verbessern.

So gehört es, verehrte Abgeordnete, zu unserem Erbe, dass wir nicht müde werden, diesen Teil deutscher Geschichte immer wieder in Erinnerung zu rufen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben die Würde des Menschen in seiner Vielfalt und ohne Einschränkung an den Anfang unserer Verfassung gesetzt.

(Raimund Borrmann, NPD: Ja, der weltweiten Verfassung.)

An die oberste Stelle der Rechtsbegriffe wurde vom parlamentarischen Rat ein Wort gerückt, das sonderlicherweise seiner Herkunft nach gar kein Rechtsbegriff ist. Im Ergebnis dieser historischen Erfahrungen und Überlegungen steht dennoch am Anfang des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

(Heinz Müller, SPD: Des Menschen!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hat 1985 in einer viel beachteten Rede genau 40 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, am Tage der Befreiung am 8. Mai, mit einer bedeutsamen Rede verdeutlicht: Geschichte, Vergangenheit lässt sich nicht bewältigen. Er sagte wörtlich: „Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, niemand kann sich die Zeit, in die er hineingeboren wird, niemand kann sich das Volk aussuchen, in das er hineingeboren wird. Im Sinne der programmatischen Erkenntnis unseres ehemaligen Bundespräsidenten wollen wir aber die Augen offen halten für Vergangenes, uns mit dieser, unserer Vergangenheit, diesem deutschen Erbe auseinandersetzen, um Gefährdungen in der Gegenwart zu erkennen und Gefahren für die Zukunft rechtzeitig abzuwehren.

Verehrte Abgeordnete der antragseinbringenden Fraktion, Ihr Traditionsbild und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen für aktuelles politisches Handeln, die Sie hier und in der Öffentlichkeit regelmäßig propagieren, veranlassen uns als demokratische Parteien, diesen Antrag abzulehnen.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktionen der SPD, CDU und DIE LINKE)

Danke, Frau Dr. Linke.

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende und Abgeordnete Herr Pastörs von der Fraktion der NPD.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Sehr geehrte Frau Dr. Linke, Sie haben von Euthanasie gesprochen

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Und Sie entschuldigen sich jetzt dafür, oder?)

und Sie haben anscheinend vergessen, dass Sie vor der eigenen Haustüre erst mal zu kehren gehabt hätten.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Das ist widerlich!)

Muss ich Sie daran erinnern, dass während der Zeit der Kommunistenherrschaft im besetzten Teil Ostzone DDR

(Zuruf von Angelika Peters, SPD)

es unkontrollierte Euthanasie gegeben hat, durch den Staat durchgeführt, durch Schweigen oder durch Attestieren? Ich erinnere an die unglaublichen Zustände in den Kliniken für Gynäkologie

(Gabriele Měšťan, DIE LINKE: Ach, Sie müssen’s ja wissen! – Zuruf von Angelika Peters, SPD)

bei der Abtreibung in diesem Land,

(Irene Müller, DIE LINKE: Was?)

wo Tausende junge Frauen

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Schämen Sie sich eigentlich gar nicht? Schämen Sie sich nicht, Herr Pastörs?)

in einer Art und Weise medizinisch behandelt wurden

(Unruhe bei Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE)

und bis heute sehr viele aus der Zeit versuchen, Entschädigungen zu bekommen, die sie bis heute nicht zugestanden bekommen haben.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Das ist ja so widerlich. – Michael Roolf, FDP: Das ist krank, Herr Pastörs. Das ist krank! – Zuruf von Angelika Peters, SPD)

Haben Sie vergessen, dass in den Gefängnissen, im Stasiknast die medizinische Versorgung bewusst auf ein Minimum reduziert wurde und dort Hunderte an schlechter medizinischer Versorgung

(Angelika Peters, SPD: Kann man den Ton nicht ein bisschen runterdrehn? Mir tun die Ohren weh. – Zuruf von Irene Müller, DIE LINKE)

nicht zugrunde gegangen sind, sondern ganz gezielt niedergemacht wurden, indem man ihnen nicht die Medikamente zur Verfügung gestellt hat, weil sie als Staatsfeinde keinen Anspruch hatten darauf, eine medizinische Versorgung zu erhalten?

(Gabriele Měšťan, DIE LINKE: Wir haben einen Antrag gestellt. – Zuruf von Dr. Norbert Nieszery, SPD)

Sie stellen sich hier hin, Sie stellen sich hier hin, junge Frau, und zeigen mit dem Zeigefinger in eine Richtung

(Reinhard Dankert, SPD: Und wen haben Sie heimlich bewundert hinter der Mauer?)