Protokoll der Sitzung vom 19.11.2009

Liebe Kolleginnen und Kollegen, fraglich ist auch, was Wehrpflichtige in sechs Monaten Dienstzeit in einer hoch

technisierten Armee überhaupt noch lernen können. Ob das eine sichere Basis für einen eventuellen Verteidigungsfall auf Basis des Grundgesetzes ist, bei dem auf Wehrpflichtige zurückgegriffen werden müsste, das muss stark bezweifelt werden.

Wie widersprüchlich die Pläne der schwarz-gelben Koalition bewertet werden, zeigen folgende zwei Reaktionen: Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages Reinhold Robbe, also der bisherige, bezeichnete die Kürzung der Wehrpflichtzeit als prinzipiell richtig. Robbe meint, dass bei den bisherigen neun Monaten nur die ersten drei Monate sinnvoll waren. Der Rest sei für die vielen Rekruten nur – jetzt Robbe wörtlich – „Gammeldienst“ gewesen. Eine wenig schmeichelhafte Einschätzung für den Dienst in der Bundeswehr,

(Vincent Kokert, CDU: Wer hat das gesagt?)

wie ich meine. Robbes Parteikollege Hans-Peter Bartels hält dagegen überhaupt nichts von der verkürzten Wehrdienstzeit. Für ihn ist das nur, ich zitiere Herrn Bartels, ein „arithmetischer Kompromiss“ zwischen CDU und FDP. Man sieht also, es geht in dieser Frage nicht, überhaupt nicht um Inhalte, sondern nur darum, nach der Wahl einigermaßen das einzuhalten, was vor der Wahl versprochen worden ist.

(Vincent Kokert, CDU: Ja, die bemühen sich wenigstens.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es um die Wehrpflicht, wird auch immer gern behauptet, Deutschland könne hier keinen Alleingang machen. Das aber stimmt schon lange nicht mehr. Denn 21 der 27 EU-Mitgliedsstaaten und 23 der 28 NATO-Mitgliedsstaaten haben keine Wehrpflicht mehr. Dass diese Armeen dümmer, älter und untauglicher wären, das glaube ich nicht. Es wird Zeit, dass Deutschland als tragende Säule des geeinten Europa diesem Weg folgt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es stellen sich weitere wichtige Fragen, zum Beispiel in der Lebensplanung der Wehr- und Zivildienstpflichtigen. Abiturienten müssen nach sechs Monaten Wehr- oder Zivildienst neun Monate bis zum nächstmöglichen Studienbeginn im Oktober warten, andere Schulabgänger sieben Monate bis August.

Diese Ausfallzeiten müssen aufgefangen und finanziert werden, zum Beispiel durch die Eltern oder durch die Arbeitsagenturen, mithin durch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Heftige Debatten gibt es um die geplante Kürzung des Zivildienstes. Die Rede ist vom Anfang vom Ende des Zivildienstes. Einschnitte in der Pflege in Kindergärten oder bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen werden befürchtet.

(Zuruf von Harry Glawe, CDU)

In den Trägerverbänden des Zivildienstes gibt es sehr unterschiedliche Reaktionen, Herr Glawe. Die Sprecherin der Arbeiterwohlfahrt Karin Deckenbach bezeichnete den kollektiven Aufschrei vieler ihrer Kolleginnen und Kollegen als, ich zitiere sie: „inszenierte Theatralik“. Wolfgang Buff von der Diakonie machte deutlich, „dass der Zivildienst nicht erfunden worden sei, um soziale Leistungen sicherzustellen … Wer Regelleistungen darauf aufbaue“, so Buff, „handele ohnehin unverantwortlich.“

Zu ähnlicher Einschätzung kommt Peter Tobiassen von der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer.

(Harry Glawe, CDU: Die Paritäter sagen genau das Gegenteil.)

Der Schlüssel für die Problemlösung liegt unserer Auffassung nach in der gänzlichen Abschaffung des Zivildienstes und in der Stärkung der freiwilligen sozialen Dienste. Auch die Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer sieht darin einen Lösungsansatz.

Doch nicht nur dort teilt man diese Position. So sagt zum Beispiel Moritz Quiske von der Deutschen Krankenhausgesellschaft, ich zitiere: „Wir plädieren dafür, das freiwillige soziale Jahr inhaltlich und finanziell aufzuwerten.“ Zitatende.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Zivildienstleistende erhalten bislang 500 bis 550 Euro monatlich, Teilnehmer am Freiwilligen Sozialen Jahr dagegen nur maximal 320 Euro, meist jedoch viel weniger. Diese Ungerechtigkeiten gilt es abzubauen. Hinzu kommt, dass die Zuschüsse des Bundes auf 20.000 Plätze begrenzt sind. Es bewerben sich aber dreimal mehr junge Menschen für die offenen Stellen. Diese Schieflage gilt es zu beseitigen.

Das alles kostet Geld und schon stellt sich die Frage: Woher nehmen? Nur allein durch die kürzere Zeit des Zivildienstes werden 170 Millionen Euro eingespart. Diese Mittel sollten ohne Abstriche zur geforderten inhaltlichen und finanziellen Aufwertung des Freiwilligen Sozialen Jahres eingesetzt werden. Diese Rechnung kann man aber noch fortsetzen.

In einem Kommentar in der „Schweriner Volkszeitung“ vom 4. November dieses Jahres konnte man Folgendes lesen, ich zitiere: „Folgt man den Berechnungen der ‚Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer‘, ließen sich aus den 1,1 Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt für das Bundesamt für den Zivildienst vorsieht, auch rund 40.000 sozialversicherungspflichtige Dauerarbeitsplätze finanzieren. Schon das sollte Anreiz genug sein, nicht unnötig am Zivildienst festzuhalten.“ Zitatende.

Gestatten Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss einen Hinweis auf einen aus meiner Sicht nicht unwichtigen Fakt. In einer Petition an den Deutschen Bundestag zur Abschaffung der Wehrpflicht heißt es, ich zitiere: „Demokratie erfordert Freiwilligkeit, keine Pflicht! Freiwilliges Engagement fördert das Demokratieverständnis und ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe. Freiwilligendienste verhelfen jungen, wie auch älteren Menschen zu sozialen Kompetenzen, die auch auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. Daher muss die Förderung von Freiwilligem Engagement, insbesondere in Form von Freiwilligendiensten, in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt werden.“ Zitatende.

Leisten Sie also einen Beitrag zu dieser Diskussion und stimmen Sie unserem Antrag zu. – Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE)

Danke, Herr Ritter.

Meine Damen und Herren, im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von 60 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Herr Heinz Müller von der Fraktion der SPD.

(Dr. Wolfgang Methling, DIE LINKE: Oh, der kommt doch noch mal dran! Er ist doch unserer Bitte nachgekommen, noch mal zu sprechen.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die sicherheitspolitische Situation in Europa hat sich in den letzten 25 Jahren auf grundlegende Art und Weise verändert. Das hat dazu geführt, dass auch die Bundeswehr vor neuen Aufgaben und neuen Herausforderungen steht. Während in der Vergangenheit vor allen Dingen Landes- und Bündnisverteidigung die wesentlichen Aufgaben der Bundeswehr darstellten, sind Schwerpunkte in der heutigen Arbeit insbesondere die Krisenprävention, Krisenbewältigung und friedensbewahrende Einsätze im Ausland.

Dieser sicherheitspolitische Wandel schlägt sich nieder in der Struktur der Bundeswehr und schlägt sich auch nieder in der Frage der Wehrpflicht. Die Wehrpflicht wurde einst eingeführt, um über eine hohe Zahl an Soldaten zu verfügen und um eine Reserve von einzugsfähigen Männern zu schaffen, die im Ernstfall die Truppenstärke deutlich erhöhen konnten. Das Szenario, das Bedrohungsszenario, das dieser Konzeption zugrunde lag, entspricht heute nicht mehr den Realitäten. Dass dieses Szenario zum Tragen kommt, ist eher unwahrscheinlich.

Das heutige Szenario erfordert ein neues Konzept, das vor allem Zeitsoldaten vorsieht und das vor allem deren militärische und zivilberufliche Kompetenzen in hoher Weise mit berücksichtigt. Damit stellt sich in der Tat die Frage, ob die Wehrpflicht ihre Legitimation verloren hat. Sie, Herr Ritter, nehmen diese sicherheitspolitische Lage und ihre neuen Anforderungen an die Bundeswehr zum Anlass, die Wehrpflicht infrage zu stellen und ihre Abschaffung zu fordern.

Mir stellt sich die Frage: Was wäre denn die Konsequenz, wenn wir dem folgen würden? Die Konsequenz wäre doch, da gibt es keine Alternative, eine reine Berufsarmee.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, für mich ist die Frage, ob wir eine reine Berufsarmee in der Bundesrepublik Deutschland wollen, eindeutig zu verneinen. Ich persönlich befürworte die Wehrpflicht, auch wenn mir bewusst ist, dass wir in der Frage der Wehrgerechtigkeit im Augenblick mit erheblichen Problemen zu kämpfen haben.

Mit der Überwindung der Spaltung Europas und der deutschen Wiedervereinigung hat die Bundeswehr mehr Verantwortung im Rahmen unserer kooperativen Friedens- und Sicherheitspolitik übernommen. Wir brauchen deshalb eine an der veränderten Sicherheitslage ausgerichtete Truppenstärke und Truppenstruktur.

Der Grundwehrdienst bietet eine tragende Säule, um Nachwuchskräfte für die Bundeswehr anzuwerben. Zwischen 40 und 50 Prozent der Grundwehrdienstleistenden entscheiden sich erst während ihrer Dienstzeit, Berufs- oder Zeitsoldaten zu werden.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion der CDU)

30 Prozent der Grundwehrdienstleistenden haben mittlere Reife, 30 Prozent die allgemeine oder die Fachhochschulreife und fast 40 Prozent haben zuvor eine Berufsausbildung abgeschlossen. Aus diesem breiten und gut qualifizierten Spektrum rekrutiert die Bundeswehr einen großen Teil ihres Nachwuchses.

(Dr. Armin Jäger, CDU: Völlig richtig.)

Sie profitiert von gut ausgebildeten jungen Menschen.

Lieber Kollege Ritter, Sie haben uns darauf verwiesen, dass zahlreiche Länder in der NATO und auch darüber hinaus Berufsarmeen haben. Aber schauen Sie bitte darauf, ob diese Armeen in gleicher Weise in der Lage sind, qualifizierten Nachwuchs für die Armee zu gewinnen, wie dies die Bundeswehr kann. Ich würde diese Fähigkeit gern erhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktionen der SPD und CDU)

Meine Damen und Herren, das Ansehen der Bundeswehr steht und fällt mit ihren Fähigkeiten.

(Zuruf von Dr. Wolfgang Methling, DIE LINKE)

Die deutschen Soldaten genießen weltweit hohes Vertrauen und Ansehen. Das muss aber auch so bleiben. Deshalb halte ich an der Wehrpflicht fest.

Die Pläne der Bundesregierung, die Dienstzeit auf sechs Monate zu verkürzen, scheinen mir allerdings recht problematisch.

(Harry Glawe, CDU: Richtig.)

Hier scheint mir vor allen Dingen der Versuch problematisch, krampfhaft Wehrgerechtigkeit herzustellen. So wichtig das Ziel der Wehrgerechtigkeit ist, ich habe hier große Probleme. Und ob ein Grundwehrdienst mit dieser Kürze, sechs Monate, sinnvoll ist, scheint mir sehr fraglich.

(Dr. Wolfgang Methling, DIE LINKE: Die sind doch sowieso die Hälfte der Zeit zu Hause.)

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, noch einen anderen Aspekt in die Diskussion einführen. Ich glaube, dass die Präsenz der Wehrpflichtigen in ihren Familien für die Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland von sehr hoher Bedeutung ist. Die Bevölkerung wird damit ganz automatisch dahin geführt, sich mit der Bundeswehr, mit ihrem Tun auseinanderzusetzen, und die Soldaten erwarten zu Recht, dass ihre Einsätze von der Gesellschaft getragen werden.

Eine reine Berufsarmee, Herr Ritter, ist für mich immer in der Gefahr, sich von der Gesellschaft abzulösen,

(Zuruf von Irene Müller, DIE LINKE)

oder, um es polemisch zu sagen, in der Gefahr, ein Staat im Staate zu werden. Dieses können wir nicht wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktionen der SPD und CDU – Zuruf von Peter Ritter, DIE LINKE)

Ich bin deshalb sehr dafür, dass wir die gesellschaftliche Verankerung der Bundeswehr stärken und dass wir ihre Akzeptanz in der Gesellschaft der Bundesrepublik erhalten.