Protokoll der Sitzung vom 30.04.2010

(Zuruf von Barbara Borchardt, DIE LINKE)

„Deutlich wurde, dass die durch Aufenthalte in Kinderheimen beeinflussten Lebenswege oft eine tragische Fortsetzung genommen hatten. In Einzelfällen sprachen auch Dritte vor, weil die ehemaligen Heimkinder es sich nicht zutrauten, über das Geschehene zu sprechen.“ Zitatende.

Meine Damen und Herren, dieser Auszug aus dem Bericht des Bürgerbeauftragten lässt nur erahnen, was den Opfern widerfahren ist. Und es lenkt auch den Blick auf etwas Weiteres: Der gesamte weitere Lebensweg hat vermutlich in vielen Fällen eine tragische Fortsetzung gefunden. Erfahrenes Leid kann man nicht ungeschehen machen, allerdings stellt sich auch angesichts des zuletzt Genannten die Frage, ob es ein Äquivalent geben kann oder geben muss. Im Zusammenhang mit den zwangsweisen Aufenthalten in DDR-Kinderheimen und -Jugendwerkhöfen gibt es nach höchstrichterlicher Entscheidung aus dem Jahr 2009 die Möglichkeit für Entschädigung in Einzelfällen.

Meine Damen und Herren, der Antrag der FDP-Fraktion war vermutlich auch der Anlass für meine Kollegen von der CDU- und der SPD-Fraktion, die im Rechtsausschuss eine Anhörung zu dem Thema durchführen wollen. Dieser Antrag steht ausdrücklich hier unserem Antrag nicht entgegen, im Gegenteil. Auch die kurzfristig und erstaunlich schnell eingerichtete Anlaufstelle für Missbrauchsopfer durch die Justizministerin steht dem Ziel unseres Antrages nach umfassender Aufarbeitung nicht entgegen.

(Barbara Borchardt, DIE LINKE: Es gibt noch weitere Beratungsstellen im Land!)

Uns geht es insbesondere

(Zuruf von Barbara Borchardt, DIE LINKE)

um die dauerhafte und effektive Unterbindung des Missbrauchs von Kindern.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion der FDP)

Das liegt nach unserer Ansicht, meine Damen und Herren, in unserer politischen Verantwortung. Es entspricht zugleich dem rechtsstaatlichen Gebot, meine Damen und Herren, denn Missbrauch von Kindern ist eine schwerwiegende Verletzung der Menschenwürde von Kindern.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion der FDP – Dr. Margret Seemann, SPD: Das fällt Ihnen auf einmal ein.)

Das fällt uns nicht auf einmal ein. Das fällt uns nicht auf einmal ein, wir haben es hier als Antrag in dieses Haus gebracht, meine Damen und Herren!

(Dr. Margret Seemann, SPD: Wissen Sie, wie oft ich hier schon darüber gesprochen habe, Herr Leonhard?)

Was die juristische Aufarbeitung angeht, geht es neben den rein tatsächlichen Maßnahmen auch darum, etwaigen juristischen Nachbesserungsbedarf herauszuarbeiten und etwaige Vollzugsdefizite zu identifizieren.

Nur exemplarisch möchte ich auf die Verjährungsproblematik hinweisen. Wie eben bereits aus dem Bericht des Bürgerbeauftragten zitiert, ist es manchen Opfern selbst nach Jahren noch kaum oder gar nicht möglich, über das Erlebte zu sprechen. Nach der geltenden Rechtslage verjähren deliktische Ansprüche grundsätzlich nach drei Jahren, bei Ansprüchen wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung tritt eine Hemmung bis zum 21. Lebensjahr ein. Somit tritt eine Verjährung meist mit dem 24. Lebensjahr des Opfers ein. Verjährungsfristen sind ohne Zweifel aufgrund des anzustrebenden Rechtsfriedens grundsätzlich sinnvoll. Ob allerdings die geltende Rechtslage in diesen Fällen dem gerecht wird, das ist aus unserer Sicht durchaus fraglich.

Meine Damen und Herren, wir als FDP-Fraktion und ich würde mich sehr freuen, wenn wir heute fraktionsübergreifend mit der Zustimmung zu unserem Antrag den Opfern unsere Bestürzung über das Geschehene signalisieren und aufzeigen, dass es jetzt um eine klare Aufarbeitung auch hier in diesem Hohen Hause geht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion der FDP)

Ihnen liegt ein Änderungsantrag der NPD vor, den wir ausdrücklich ablehnen werden. – Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion der FDP)

Danke schön, Herr Leonhard.

Im Ältestenrat ist eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 60 Minuten vereinbart worden. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Als Erste hat ums Wort gebeten die Justizministerin des Landes Frau Kuder. Bitte schön, Frau Ministerin, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit mehreren Monaten vergeht kein Tag, an dem nicht über weitere Missbrauchsfälle berichtet wird – Missbrauchsfälle in kirchlichen, in weltlichen und in pädagogischen Einrichtungen. Dabei handelt es sich zum Teil um hoch angesehene Einrichtungen. Eine über Jahrzehnte bestehende Mauer des Schweigens ist – und ich sage: endlich – durchbrochen worden. Die Bausteine dieser Mauer waren Furcht, Scham, Hilf- und Sprachlosigkeit, vielleicht auch die Angst, an einem Denkmal zu rütteln, den Ruf dieser Einrichtungen infrage zu stellen.

Wir dürfen diese Opfer nicht alleine lassen! Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, den Missbrauch von Kindern dauerhaft und effektiv zu unterbinden. Diese Aufgabe ist für mich und für uns in der Landesregierung und hier im Landtag, meine Damen und Herren, von herausragender Bedeutung. Missbrauch ist eine der schrecklichsten Taten, die Kindern angetan werden können, dies vor allem deshalb, weil Kinder seelisch tief verletzt werden – Narben, die ein Leben lang bleiben. Eine Aufarbeitung ist notwendig.

Die Bundesregierung hat mit der Einrichtung des Runden Tisches gegen Kindesmissbrauch ein wichtiges Signal gesetzt. Am vergangenen Freitag hat dieser Runde Tisch unter dem Vorsitz der Minister/-innen für Familie, Justiz und Forschung seine Arbeit aufgenommen. Die von der Bundesjustizministerin geleitete Arbeitsgruppe beschäf

tigt sich mit den diffizilen Fragen der Entschädigung und, Herr Leonhard, auch der Verjährung, Fragen, die auch dort aufgearbeitet werden müssen.

Meine Kollegin Frau Schwesig hat als Vorsitzende der Sozialministerkonferenz die Bundesländer am Runden Tisch vertreten. Sie wird Ihnen noch über das erste Treffen berichten.

Mecklenburg-Vorpommern wird sich dafür einsetzen, dass auch die Fälle von sexuellem Missbrauch und Gewalt in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der ehemaligen DDR mit auf den Runden Tisch kommen. Hierbei wird sicherlich auch die Arbeit des seit gut einem Jahr eingerichteten Runden Tisches „Heimkinder“ unter dem Vorsitz der Bundestagsabgeordneten Antje Vollmer von Interesse sein.

Wichtig ist, das Thema „Missbrauch in ehemaligen DDR-Heimen“ nicht isoliert in den Ostländern, sondern bundes weit zu diskutieren.

(Dr. Armin Jäger, CDU: Richtig.)

Jedes Opfer hat das gleiche Recht auf Aufklärung und Entschädigung.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktionen der SPD und CDU)

Unterschiede zwischen Ost und West sollte es nicht geben.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion der FDP)

Meine Damen und Herren, mir ist wichtig, noch einmal zwei Dinge deutlich zu machen. Zu trennen ist die Frage, warum ein Kind zu DDR-Zeiten in ein Heim gekommen ist, von der Frage: Was ist mit dem Kind im Heim passiert?

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktionen der CDU und FDP – Dr. Margret Seemann, SPD: Sehr richtig.)

Welchem zusätzlichen schrecklichen Leid war es in den Heimen hilflos ausgesetzt?

(Michael Roolf, FDP: Sehr richtig.)

Das hat auch der Bürgerbeauftragte in der Rede zu seinem Bericht noch einmal deutlich gemacht. Kinder sind damals zwangsweise in Heime gekommen, weil zum Beispiel die Eltern in politischer Haft waren, und sie sind zum Teil im Heim geblieben, obwohl die Eltern oder ein Elternteil bereits wieder aus der Stasihaft entlassen wurden.

Für diese Art von Unrecht greift die strafrechtliche Rehabilitierung mit den Möglichkeiten einer nachfolgenden Kapitalentschädigung. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 13. Mai 2009 klargestellt. Hilfe, Beratung und Unterstützung wird hier vor allem bei der Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR gegeben.

Durch die Diskussion werden nunmehr auch verstärkt Missbrauchsfälle in Kinderheimen und Jugendwerk höfen der ehemaligen DDR bekannt. Wir müssen uns also vor allem jetzt darum kümmern, dass die in den Kinderheimen und Jugendwerkhöfen erfolgten Missbrauchstaten aufgeklärt und aufgearbeitet werden. Neben der Klärung strafrechtlicher Konsequenzen und Fragen der Entschädigung heißt Verantwortung zu übernehmen

ganz klar, den Opfern Gehör zu schenken. Auch das erlittene Unrecht in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der ehemaligen DDR muss laut werden. Die Opfer müssen sprechen können und die Opfer müssen gehört werden.

Sie haben endlich im ganzen Land den Mut zum Reden gefunden. Aus der Schweigespirale ist eine Redespirale geworden. Die Opfer brauchen einen Ansprechpartner und eine Vertrauensperson. Als Kinder und Jugendliche haben sie diese leider nicht gefunden. Deshalb habe ich Anfang dieser Woche eine zentrale Anlaufstelle für Missbrauchsopfer staatlicher Einrichtungen für den Bereich Mecklenburg-Vorpommern bei der Opferhilfe Rostock eingerichtet. Innerhalb von nur zwei Tagen haben sich bereits zwölf Opfer gemeldet. Ich denke, das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Aufarbeitung.

Meine Damen und Herren, Aufklärung der Vergangenheit ist wichtig. Sie ist wichtig für die Opfer, die Schreckliches erlebt haben. Die Aufklärung der Vergangenheit ist auch wichtig, um für die Zukunft daraus zu lernen. Es gilt, Kinder und Jugendliche durch konsequentes Handeln zukünftig vor Missbrauch zu schützen.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktionen der SPD, CDU und FDP)

Hierbei darf aber nicht allein der Missbrauch innerhalb von Einrichtungen in den Blick genommen werden, sondern auch der Missbrauch innerhalb der Familie.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion der FDP – Mathias Löttge, CDU: Richtig. Das ist wahr.)

Kindesmissbrauch muss mit einem breiten Ansatz bekämpft werden. Allein repressive Maßnahmen sind hier nicht ausreichend. Wichtig ist, bei präventiven Maßnahmen anzusetzen. Ein wichtiger Ansatz ist das von der CDU/CSU- und der FDP-Bundestagsfraktion erarbeitete Eckpunktepapier im Kampf gegen den sexuellen Kindesmissbrauch.

(Gino Leonhard, FDP: Ja.)

Hier wird zu Recht zum Beispiel die Stärkung von Präventionsprojekten, die Kinder in ihrer Persönlichkeit stärken, sodass sie gar nicht erst in die Opferrolle geraten, hervorgehoben. Und es wird zu Recht auf unzureichend vorhandene Präventionsprojekte für Menschen mit pädophiler Neigung hingewiesen. Dafür, meine sehr geehrten Damen und Herren, muss aber auch das benötigte Geld bereitgestellt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktionen der CDU und FDP – Michael Roolf, FDP: Sehr richtig.)