Protokoll der Sitzung vom 01.02.2012

Ich möchte im Namen meiner Fraktion – ich denke, die anderen demokratischen Fraktionen schließen sich dem an – all denen meinen Dank aussprechen und den Respekt zollen, die sich dafür engagieren, dass die Verbrechen des Naziregimes nicht vergessen werden, und die sich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass sich all das, worüber ich jetzt kurz gesprochen habe, nicht wiederholt.

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Stellvertretend möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mit- arbeitern der Regionalzentren für demokratische Kultur und Toleranz in Mecklenburg-Vorpommern danken. Ich möchte auch danken den Vereinen und Organisationen im Land, die sich aufopferungsvoll der Gedenkstätten-, Präventions- und Demokratiearbeit widmen, und nicht zu- letzt all den couragierten Einzelpersonen, die sich öffentlich und teilweise nicht öffentlich dafür einsetzen und dafür sorgen, dass Toleranz, Weltoffenheit, Menschlichkeit und Solidarität keine Worthülsen bleiben. Wahre De- mokratinnen und Demokraten leben ihre Überzeugung – in der Privatsphäre genauso wie in der Öffentlichkeit. Und ich möchte diesen und allen anderen versichern, dass meine Fraktion, und ich darf das auch für meine Partei sagen, ihnen die volle Unterstützung zuspricht, und das nicht nur heute, sondern auch in Zukunft. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 120 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat zunächst der Fraktionsvorsitzende der Fraktion der SPD Herr Dr. Nieszery.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen vor 70 Jahren kamen am Berliner Wannsee 15 Männer zusammen, die allesamt zu den Eliten des Naziregimes zählten. Sinn und Zweck ihrer Zusammenkunft war nichts weniger als die Organisation der „Endlösung der Judenfrage“, also die koordinierte Deportation der gesamten europäischen Juden in den Osten, um sie dort zu vernichten.

Was damals vor rund 70 Jahren auf der sogenannten Wannseekonferenz beschlossen wurde, gehört zu den erschreckendsten historischen Fakten der deutschen Geschichte. Wer das Protokoll dieses Treffens liest, erfährt im nüchternen Verwaltungsdeutsch, wie die Vertreter des Naziregimes „Kompetenzgerangel“ und „administrative Reibungsverluste“ bei der Durchführung des Völkermordes zu minimieren suchten. Der entsetzliche moralische Frevel der Wannseekonferenz besteht in der perversen bürokratischen Perfektion, mit der das millionenfache Morden an den Juden akribisch, effektiv und nach allen Regeln der Verwaltungskunst vorbereitet wurde.

Als ich dieses Protokoll nun erneut gelesen habe, stellte sich mir die Frage: Was genau ist es eigentlich, dass mir einen solchen Schauer über den Rücken jagt? Warum bin ich heute, fast 70 Jahre nach dem Ereignis, immer noch so entsetzt und warum erschüttern mich andere Völkermorde nicht in gleicher Weise wie die systematische Judenvernichtung durch die Nazis?

(Udo Pastörs, NPD: Hat es denn andere noch gegeben überhaupt? – Helmut Holter, DIE LINKE: Gucken Sie mal nach Frankreich!)

Auch anderen Völkermorden lag der Gedanke der totalen Vernichtung einer bestimmten Gruppe zugrunde. Auch hier gab es eine Planung, eine Vorbereitung, eine Logistik des Mordens. Ganz sicher waren diese Mörder nicht so perfekt organisiert wie die Deutschen. Oft waren es am Ende weniger Opfer als beim Holocaust. Aber das allein, meine Damen und Herren, kann ja nicht wirklich den Unterschied in meiner emotionalen Betroffenheit ausmachen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Für mich persönlich gibt es keine Hierarchie unter den Völkermorden der Geschichte. Der Genozid, jeder Genozid ist ein einzigartiger Kulturbruch. Gäbe es eine Hierarchie, dann bedeutete dies letztendlich, dass es sehr schwere, schwere und weniger schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt. Das ist paradox. Nach welchen Kriterien sollte denn diese makabere Hierarchie gebildet werden? Welches Leid wiegt schwerer? Wenn ein kleiner armenischer Junge von türkischen Soldaten auf den Todesmärschen erschlagen wird? Wenn eine jüdische Frau in der Gaskammer eines KZs ermordet wird? Wenn eine Kulakenfamilie staatlich verordnet verhungern muss? Wenn ein Tutsi von einem Hutumilizionär mit der Machete zerhackt wird? Welcher mit diesen unvorstellbaren Leiden verbundene Völkermord wiegt schwerer?

Kann, ja darf es überhaupt eine Antwort auf diese Frage geben? Ich meine Nein. Denn damit gewichtet man die Würde der einen Opfer höher als die der anderen. Das aber, meine Damen und Herren, darf niemals geschehen, denn die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar und damit gleich.

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dennoch werde ich immer fassungslos sein über das kalte, planvolle deutsche Morden, weil es in meinem Heimatland geschah und weil meine Vorfahren daran beteiligt gewesen sein könnten. Zusammen mit den unvorstellbaren Leiden der Opfer steigert besonders das Wissen um die mögliche und auch tatsächliche Schuld in der eigenen Familie das Entsetzen der Nachgeborenen. Es ist die persönliche Unmittelbarkeit des Genozids, die dieses besondere Entsetzen hervorruft.

Meine Damen und Herren, es wird niemals möglich sein, die Vernichtung von Millionen Menschen zu sühnen, und es wird niemals möglich sein, den erlebten Terror zu vergessen. Der Holocaustüberlebende Erich Kary hat vor wenigen Tagen erst eine bewegende Rede hier im Schloss zu Schwerin gehalten und zusammenfassend festgestellt, ich darf zitieren: „Am 3. Mai 1945 wurde ich gerettet, aber nicht befreit von dem, was ich erlebt habe, bis heute nicht.“ Ende des Zitats.

Meine Damen und Herren, die Verantwortlichen für das Leid von Erich Kary sind nicht diejenigen, die hier und heute politische Verantwortung tragen. Es gibt keine Erbschuld der Nachgeborenen. Dass wir heutigen Deutschen noch Schuld hätten, behauptet eigentlich auch niemand wirklich ernsthaft.

(Udo Pastörs, NPD: Aber Verantwortung.)

Die Worte Max Horkheimers, die er schon 1963 formulierte, bringen es auf den Punkt: „Schuld“,

(Udo Pastörs, NPD: Der fehlt uns noch.)

Herr Pastörs, „Schuld betrifft den Einzelnen und seien es auch noch so viele; alles andere ist verhängnisvoller Mythos.“

Gleichwohl gibt es immer noch Vorbehalte und Ressentiments gegenüber uns Deutschen im Ausland und es gibt oft ein unbestimmtes schlechtes Gewissen,

(Udo Pastörs, NPD: In Griechenland zum Beispiel.)

ein Unbehagen bei uns selbst.

(Michael Andrejewski, NPD: Unsere Euros nimmt jeder.)

Das wird zum Beispiel deutlich in dem, was Helmut Schmidt in seiner Rede auf dem SPD-Bundesparteitag am 4. Dezember 2011 in Berlin ausgeführt hat, ich darf zitieren: „Als inzwischen sehr alter Mann denkt man naturgemäß in langen Zeiträumen – sowohl nach rückwärts in die Geschichte als ebenso nach vorwärts in die erhoffte und erstrebte Zukunft. Gleichwohl habe ich vor einigen Tagen auf eine sehr einfache Frage keine eindeutige Antwort geben können. Wolfgang Thierse hatte mich gefragt: ,Wann wird Deutschland endlich ein normales Land?‘“

(Stefan Köster, NPD: Das fragen wir uns auch.)

„Und ich habe geantwortet: In absehbarer Zeit wird Deutschland kein ,normales‘ Land sein. Denn dagegen steht unsere ungeheure, aber einmalige historische Be

lastung. Und außerdem steht dagegen unsere demografisch und ökonomisch übergewichtige Zentralposition inmitten unseres sehr kleinen aber vielfältig nationalstaatlich gegliederten Kontinents.“ Zitatende.

(Vincent Kokert, CDU: Ein sehr kluger Mann.)

In dieser Aussage, meine Damen und Herren, schwingt ein Schuldgefühl mit, das sich vielleicht daraus erklären lässt und dadurch erklären lässt, dass Helmut Schmidt den Zweiten Weltkrieg selbst erlebt hat und wie alle Wehrmachtsangehörigen einen Eid auf Adolf Hitler geleistet hat. Dieses Schuldgefühl ist nicht nur nachvollziehbar, sondern in hohem Maße ehrenwert, zeugt es doch davon, dass Helmut Schmidt die Lehren aus seiner Vergangenheit gezogen und daraus in vorbildlicher Weise seine Folgerungen für die Gestaltung eines demokratischen Deutschlands abgeleitet hat.

Anders als viele Zeitgenossen Helmut Schmidts sind die Nachkriegsgenerationen zwar frei von Schuld oder gar einer Erbschuld,

(Udo Pastörs, NPD: Aber nicht frei von Verantwortung.)

aber eben nicht frei von Verantwortung, Herr Pastörs. Genau richtig.

(Udo Pastörs, NPD: Darauf habe ich schon lange gewartet.)

Sie haben sogar eine ausgesprochen hohe Verantwortung. Sie erwächst aus der unsterblichen Würde vieler Millionen Opfer und damit aus dem Bekenntnis zur Menschlichkeit. Wir haben alles dafür zu tun, jeder Einzelne, jeden Tag, dass niemals wieder in irgendeinem Gemeinwesen die immer gleiche und grausame Spirale von Vorurteilen, Hass, Entmenschlichung, Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung entsteht. Das ist, meine Damen und Herren, unser historischer Auftrag.

(Udo Pastörs, NPD: Darum hassen Sie uns so, ja?)

Und diesen historischen Auftrag, meine Damen und Herren, haben wir angenommen.

Wenn ich mir die 67 Jahre seit Ende der nationalsozialistischen Diktatur ansehe, in denen wir Demokratie und Rechtsstaat entwickelt und gelebt haben, dann bin ich stolz auf das, was wir daraus gemacht haben.

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU und DIE LINKE)

Um nicht missverstanden zu werden: Ich rede jetzt keineswegs einem, wie Thomas Mann ihn nennen würde, „höhlenbärartigen Nationalismus“ das Wort. Das ist eher Ihre peinliche Domäne, meine Herren von der NPD. Ich plädiere für ein selbstbewussteres, ja vielleicht sogar liebevolleres Verhältnis zu unserem freiheitlich-demo- kratischen Land, das Deutschland mittlerweile geworden ist.

(Zuruf von Udo Pastörs, NPD)

Wir haben inzwischen eine gefestigte Demokratie, die auch die neuen Nazis von der NPD nicht erschüttern

können. Sie, Herr Pastörs, und Ihre dumpfen Kameraden bleiben in unserer wehrhaften Demokratie allenfalls ein makaberer Treppenwitz der Geschichte.

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Udo Pastörs, NPD: Jaja.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Erinnern an die Wannseekonferenz und die Folgen, das Erinnern an den von Deutschen begangenen Genozid ist und bleibt ein wichtiger Aspekt der deutschen Identität. Die millionenfachen grauenvollen Schicksale sind stete Mahnung, uns mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und sie im Bewusstsein der Menschen zu halten. Dazu gehört es, die Lehren aus der Vergangenheit zur Quelle des Wissens für die Gestaltung der Gegenwart zu machen. Nur so erreichen wir, dass diejenigen Menschen, die das Grauen nicht selbst miterlebt haben, immun werden gegen die Rattenfänger, insbesondere des braunen Lagers.

(Michael Andrejewski, NPD: Wer sind eigentlich die Ratten?)

Nur so, meine Damen und Herren, können die Nachgeborenen die dumpfen Auswüchse des Antisemitismus und des Fremdenhasses erkennen und lernen,

(Zuruf von Udo Pastörs, NPD)

den Wert unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu schätzen. Lassen Sie uns gemeinsam wachsam sein! – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)