Protokoll der Sitzung vom 02.07.2015

(Vincent Kokert, CDU: Das steht alles in der Großen Anfrage? – Zuruf von Peter Ritter, DIE LINKE)

Sie hätten, Herr Kokert, die Antwort mal lesen sollen.

(Vincent Kokert, CDU: Ich bin schon bei den Fragen eingeschlafen.)

Die Wiedergründung unseres Landes war auch für die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern mit der Gewissheit verbunden, dass in einer Landesverfassung Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Nordosten verbrieft und gelebt werden. Unterschiedliche Erwartungen an die Verfassung bestanden unter anderem darin, ob Staatsziele, die das Sozialstaatsprinzip verbindlich untermauern sollten, in die Verfassung aufgenommen werden sollen. Sie erinnern sich an die Forderungen, das Recht auf Arbeit und Wohnen in die Landesverfassung aufzunehmen. Diese und andere Forderungen waren Inhalt einer breit unterstützten Volksinitiative.

Sie erinnern sich auch, dass 1994 auf den Straßen und Plätzen in Mecklenburg-Vorpommern eine intensive und

teils hitzige Diskussion über unser rechtliches Fundament für den Bau des Hauses Mecklenburg-Vorpommern stattgefunden hat. Meine Partei und meine Fraktion haben sich engagiert in die Erarbeitung und Diskussion des Verfassungsentwurfes eingebracht. Namentlich Arnold Schoenenburg und Andreas Bluhm werden zu den Vätern der Verfassung gezählt. Sie haben damals im Auftrag unserer Fraktion in der Verfassungskommission gearbeitet.

(Vincent Kokert, CDU: Gearbeitet ja und dagegengestimmt.)

Wie gesagt, wir wollten mehr in dieses Grundsatzdokument aufnehmen, und das war der Grund für unsere Enthaltung. Wir wollten eine beständige und zugleich lebendige Verfassung.

(Vizepräsidentin Beate Schlupp übernimmt den Vorsitz.)

Meine Damen und Herren, seit ihrem Inkrafttreten haben die demokratischen Fraktionen gemeinsam die Landesverfassung vier Mal geändert. Herausheben möchte ich die Einfügung des Artikels 18a zur Friedensverpflichtung und Gewaltfreiheit. Bereits im April 1996 stellte die Fraktion der PDS auf Drucksache 2/1437 eine Große Anfrage mit dem Titel „Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Mecklenburg-Vorpommern“. Aus der Antwort ging hervor, dass das Land Mecklenburg-Vorpommern noch in der Findung begriffen ist und noch nicht alle Fragen abschließend beantwortet werden können.

Im Januar 2014, nur logisch konsequent, stellten wir nun unsere nächste Große Anfrage, die heute Gegenstand der Aussprache ist. In der Landesverfassung gibt es verbriefte Rechte des Parlaments. Natürlich verursachen Kleine und Große Anfragen der Regierung Arbeit. Natürlich ist ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss kein Kaffeekränzchen, sondern das schärfste Schwert der Opposition.

(Heinz Müller, SPD: Des Parlaments.)

All das passt nicht jedem und jeder, aber auch die Kritik aus der Koalition an unserer Großen Anfrage, Herr Müller, können wir gut aushalten.

(Zuruf von Vincent Kokert, CDU)

Der Demokratie haben die Koalitionäre mit ihren Reaktionen geschadet. Da war herabwürdigend von „nutzlosen Papierbergen“ die Rede. Es handelt sich auch nicht um ein sinnloses Beschäftigungsprogramm für die Regierung, sondern um ein fundamentales Recht der Opposition.

(Vincent Kokert, CDU: Das ist unbestritten.)

Insgesamt ist der Eindruck entstanden, dass wir mit der Großen Anfrage die Regierung stören. Vor allem die Antworten passen nicht ins Regierungsbild von der heilen Welt Mecklenburg-Vorpommern und dessen Hofstaat in Schwerin.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE – Vincent Kokert, CDU: Mann, Mann, Mann!)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur Antwort auf die Große Anfrage im Detail kommen. Die Antworten waren oft wenig konkret, sehr dürftig oder geprägt von Ausflüchten.

(Vincent Kokert, CDU: Die Fragen waren noch viel schlimmer.)

Einige Fragen wurden gar nicht beantwortet. So bleibt die Landesregierung etwa auf die Frage nach der Zahl der Kinder, die in Mecklenburg-Vorpommern in Armut leben, eine Antwort schuldig. Mit den Antworten stellt sich die Landesregierung selbst das Zeugnis aus, den in Teilen des Landes herrschenden massiven Problemen hilflos und ohne Plan gegenüberzustehen. Sie macht die Augen fest zu und redet die Lage schön.

Meine Damen und Herren, der Schweizer Autor Peter F. Keller schrieb, Zitat: „Die Verfassung eines Landes gibt noch keine Auskunft über dessen Verfassung.“ Zitatende. Grundsätzlich können wir feststellen, dass sich unsere Verfassung bewährt hat. Und es ist maßgeblich das Verdienst der Menschen in diesem Land, dass sich vieles gut entwickelt hat. Aber dort, wo Licht ist, ist auch Schatten. Die Schere zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit klafft weit auseinander. Es ist höchste Zeit, diese zu schließen.

Für meine Fraktion ist die Landesverfassung das Handbuch der täglichen Arbeit. Und ich empfehle der Regierung und den Koalitionsfraktionen, die Verfassung des Öfteren zur Hand zu nehmen und ihr politisches Handeln daran zu messen. Verfassungsanspruch und -ziele sollten auch Ihr Maßstab sein.

(Vincent Kokert, CDU: Ist sie ja.)

Die Antworten der Landesregierung beschreiben mal mehr, mal weniger deutlich, was seit Jahren bekannt ist und was auch seit Jahren beklagt werden muss: In Mecklenburg-Vorpommern sind wir von gleichwertigen Lebensverhältnissen in Teilen des Landes noch weit entfernt.

Es wird ein deutliches Gefälle zwischen den westlichen und östlichen Landesteilen sichtbar. Dies schlägt sich beispielsweise in höherer Arbeitslosigkeit, geringerem Einkommen, mehr Krankheit und Armut sowie einer allgemeinen Strukturschwäche in den vorwiegend vorpommerschen Landesteilen nieder, wo die Menschen sogar früher sterben als in Mecklenburg.

Meine Damen und Herren, das Grundgesetz fordert die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Wir sind der Überzeugung, dass dieser Anspruch auch innerhalb unseres Bundeslandes gelten muss. Wir plädieren dafür, in der Landesverfassung zu verankern, dass das Land darauf hinwirken soll, dass es in beiden Landesteilen, Mecklenburg und Vorpommern, gleichwertige Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen gibt,

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE – Zuruf von Dr. Norbert Nieszery, SPD)

und zwar in den Städten und in den ländlichen Räumen.

(Vincent Kokert, CDU: Wie gut, dass das auch in der Verfassung steht.)

Das steht ja nicht in der Verfassung,

(Heiterkeit bei Udo Pastörs, NPD)

deswegen soll es ja da rein, Herr Kokert.

(Vincent Kokert, CDU: Natürlich steht das in der Verfassung. – Zuruf von Dr. Norbert Nieszery, SPD)

Das steht nicht in der Verfassung.

(Zuruf von Dr. Norbert Nieszery, SPD)

Meine Damen und Herren, die Landesregierung räumt ein, dass das Staatsziel eines hohen Beschäftigungsstandes noch nicht erreicht ist. Nicht nur, dass die durchschnittliche Arbeitslosenquote 2014 in Mecklenburg-Vorpommern fast fünf Prozent höher lag als im Bundesdurchschnitt, mit diesem Indikator wird auch das West-Ost-Gefälle innerhalb des Bundeslandes besonders deutlich. Dies dokumentieren die Arbeitslosenquote, das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner und das verfügbare Einkommen von Privathaushalten.

Hier muss gegengesteuert werden. Die Landesregierung darf dieser Entwicklung nicht länger tatenlos zusehen. Sie muss den Menschen in den betroffenen Regionen eine Perspektive schaffen. Perspektive heißt auch, die Menschen brauchen Arbeit, von der sie sich und ihre Familien ernähren können. Und sie brauchen Arbeit vor Ort, damit wir das Image „M-V – das Land der Pendler“ endlich verlieren.

Der Bereich Bildung nimmt in unserer Großen Anfrage einen breiten Raum ein. Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht und findet entsprechend Niederschlag in der Landesverfassung. Hier heißt es, Zitat: „Land, Gemeinden und Kreise sorgen für ein ausreichendes und vielfältiges öffentliches Schulwesen. Es besteht allgemeine Schulpflicht.“ So weit das Zitat aus der Verfassung. Was wird denn nun in Mecklenburg-Vorpommern als ausreichend und vielfältig angesehen? Fakt ist doch, dass wir in Sachen Bildungspolitik das Schlusslicht in der Bundesrepublik sind. Oder meinen Sie wirklich, dass es ausreichend ist, dass etwa zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler keinen Schulabschluss machen?

(Torsten Renz, CDU: Das wissen Sie doch, dass das eine statistische Sache ist.)

Aus unserer Sicht ist es ebenfalls nicht ausreichend, wenn die Ergebnisse der Vergleichsarbeiten sowie der Abiturprüfungen und Prüfungen zur mittleren Reife unter dem Bundesdurchschnitt liegen. Berufsausbildung muss auch in den ländlichen Räumen möglich sein. Auch kleine Berufsschulen sind lebensfähig. Das Gleiche gilt für die allgemeinbildendenden Schulen. Besonders für die Grundschulen muss gelten: kurze Wege für kurze Beine. Ziel muss es doch sein, eine umfassende und chancengleiche Bildung an allen Orten des Landes zu ermöglichen. Ein solcher Anspruch, das ist allen klar, ist nicht zum Nulltarif zu haben.

Ähnlich, meine Damen und Herren, sieht es bei dem Schutz der Kinder und Jugendlichen aus. Wenn die Landesregierung feststellt, ich zitiere aus der Antwort: „In Mecklenburg-Vorpommern besteht kein erhöhtes Armutsrisiko für Kinder, was die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe betrifft“ – Ende des Zitats –, dann frage ich mich, auf welchem Planeten die Landesregierung lebt.

(Zuruf vonseiten der Fraktion DIE LINKE: Genau.)

Die Frage nach der Anzahl der Kinder in Armut wird gleich ganz ignoriert. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegen jedoch, dass in Mecklenburg-Vor- pommern jedes dritte Kind in Armut lebt, das heißt für diese Kinder oft nicht ausreichend Winterkleidung, das heißt für diese Kinder oft keine warme, gesunde Mahlzeit, das heißt für diese Kinder oft keine Teilnahme an Sport, Spiel und Kultur. Mit anderen Worten: Diese Kinder sind oft ausgegrenzt.

(Zuruf von Jacqueline Bernhardt, DIE LINKE)

Die Landesregierung kann oder will nichts dazu sagen, da sie relevante Daten gar nicht erst erfasst. Dies gilt auch für Wohnraum oder Obdachlosigkeit,

(Regine Lück, DIE LINKE: Richtig.)

ganz nach dem Motto: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“.

(Regine Lück, DIE LINKE: Genauso ist es.)

Das Problem ist nicht die Verfassung, sondern die Ignoranz gegenüber den realen Problemen.

(Zuruf von Dr. Norbert Nieszery, SPD)