Protokoll der Sitzung vom 10.06.2020

(Zuruf von Martina Tegtmeier, SPD)

Frau Friemann-Jennert, möchten Sie erwidern?

Ja, einen Satz möchte ich dazu sagen: Ich frage mich allen Ernstes, was dann dieser Antrag sollte!

(Heiterkeit und Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD und CDU)

Das Wort hat jetzt für die Fraktion der SPD Frau Tegtmeier.

(Thomas de Jesus Fernandes, AfD: Ach du meine Güte!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bitte doch um etwas mehr Respekt vor den Rednern und darum, davon Abstand zu nehmen, abfällige Kommentare zu machen.

Frau Tegtmeier, Sie haben das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Also mehr Scheinheiligkeit geht ja kaum noch.

(Heiterkeit bei Peter Ritter, DIE LINKE)

Das Rollenbild der AfD, um da wieder auf die Köpfe zurückzukommen, das wird von Herrn Förster im Laufe der gesamten Legislaturperiode immer wieder vorgetragen, und der geneigte Zuhörer oder die geneigte Zuhörerin kann sich nicht dem Verdacht verschließen, dass ihm dabei immer das Rollenbild der 1950er- und 1960erJahre tatsächlich im Kopf herumspukt.

(Horst Förster, AfD: Er hat heute gesprochen. Das haben Sie wahrgenommen, ja?)

Und der Antrag der AfD, der hier heute auf dem Tisch liegt, der lässt auch auf nichts anderes schließen.

Ich finde es schon ganz schön vermessen, in diesem Antrag das Grundgesetz heranzuziehen in der Beschränkung auf einen Artikel. Im Grundgesetz sind Grundrechte gleichwertig nebeneinander definiert, und man kann nicht eins herauspicken und alle anderen einfach hinten runterfallen lassen und so tun, als gebe es sie nicht. Nein, die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die waren weise meiner Meinung nach, die haben das schon in die richtigen Zusammenhänge gestellt und sie haben auch die Entfaltung der Persönlichkeit in Artikel 2 unter gewisse Normen gestellt.

Herr Professor Weber wird sicherlich dieses gewählte, das Wort „Sittengesetz“ im Hinterkopf haben. Aber das ist natürlich auch immer eine Interpretation, die die Zeit widerspiegelt. Wir sehen das daran, wie sich das Bürgerliche Gesetzbuch seit dem Jahr 1900 doch nach und nach verändert hat. Und im Jahr 1955 bis 1968 sah das doch ganz schön anders aus als heutzutage, weil nämlich auch das Familienbild sich im Laufe der Zeit eben verändert.

Sehr interessant finde ich es bei diesem Antrag, dass hier von „Familienpolitik“ die Rede ist, aber in der mündlichen Begründung hier auf „Sexualkundeunterricht“ allein abgestellt wird.

(Zuruf von Peter Ritter, DIE LINKE)

Im Verständnis der AfD ist Familienpolitik auf Sexualkundeunterricht beschränkt, so hörte sich das eben an. Das finde ich eine sehr merkwürdige Interpretation.

Insgesamt muss ich sagen, dass gerade, was Sie unter Punkt I hier aufgeführt haben, sehr, sehr merkwürdig ist und genau das Gegenteil hier behauptet wird, was der tatsächliche Ansatz nach unserem Verständnis ist. Aber das mag auch daran liegen, dass Sie hier das, was wir als Genderansatz, auch als Gender-Mainstreaming, wie das schon gesagt wurde, verstehen, hier mit dem Begriff „Genderideologie“ herabsetzen wollen, mit einem Verständnis, das hinter diesem Begriff oft hinterlegt ist, der den Ansatz von Gender-Mainstreaming einfach diskreditieren will. Und wenn Sie hier schreiben, dass Genderideologie naturgegebene Unterschiede „marginalisiert“, dann kann ich Ihnen sagen, Gender-Mainstreaming macht genau das Gegenteil. Da werden nämlich naturgegebene Unterschiede ganz bewusst aufgezeigt und denen wird Rechnung getragen. Das ist der Ansatz von Gender-Mainstreaming.

(Thomas Krüger, SPD: Aber dazu muss man es verstehen.)

Das hat man Ihnen hier so oft erklärt

(Peter Ritter, DIE LINKE: Aber das verstehen die ja nicht. Das verstehen sie ja nicht!)

und Frau Ministerin immer wieder.

(Beifall vonseiten der Fraktion der SPD)

Das werden Sie niemals verstehen!

(Peter Ritter, DIE LINKE: Das ist eine Nummer zu hoch.)

Denn wenn Sie hier Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern ansprechen und dann auch noch „naturgegebene Unterschiede“, dann ist damit doch auch verbunden, dass wir immer wieder sehen, dass die Natur Formen hervorbringt und Ausrichtungen hervorbringt. Wenn man das akzeptiert,

(Zuruf von Stephan J. Reuken, AfD)

dann kann man sich dann nicht umgekehrt dahinter verstecken und sagen, das beherrscht jetzt alles. Also entweder, man akzeptiert es, oder aber, man akzeptiert es nicht, aber diese Vermengung und Umdrehung, das ist schon ein bisschen merkwürdig. Also das kommt mir vor wie ganz bewusste Fehlinterpretationen dieses Ansatzes.

Und dann kommen wir mal zur gendergerechten Sprache. Da will ich mich nicht lange bei aufhalten, weil ich diese gendergerechte Sprache in der Vergangenheit immer wieder verteidigt habe, sage ich mal, auch gegen solche Anwürfe. Ich finde, wir Frauen als gleichberechtigte Menschen in diesem Land haben auch das Recht, als Frauen angesprochen, als Frauen genannt zu werden, als Frauen sichtbar zu sein, auch in unserer wunderschönen, lernenden deutschen Sprache, die sich auch immer weiterentwickelt.

(Beifall vonseiten der Fraktion der SPD)

Ich möchte jetzt noch mal auf dieses Familienbild zurückkommen und auf das klassische Familienbild. Frau Ministerin Drese hat da einiges über die historische Entwicklung schon gesagt, weil Sie blenden ja auch tatsächlich alles aus, was, ich sage mal, vor der Industrialisierung überhaupt war, also die Jahrtausende, wo wir ja gar nicht in dem, was Sie unter Familie verstehen, zusammengelebt haben. Das spielt gar keine Rolle. Aber auch vor der Industrialisierung, als der Begriff „Familie“ geprägt wurde, das war ja auch nicht so, dass das Vater/Mutter/Kind war, sondern das betraf die Hausgemeinschaft. Das betraf eine Hausgemeinschaft, die in der Lage war, aus ihrer Konstellation heraus diese Gemeinschaft zu ernähren und zu versorgen.

Mit der Industrialisierung wurde das Ganze umgedreht. Da ging es nicht mehr darum, dass eine Hausgemeinschaft für alle sorgte, sondern da war es tatsächlich so, dass die Familien kleiner wurden, dass da mehr im biologischen, also im Verwandtschaftszusammenhang gedacht wurde, was vorher auch nicht so der Fall war, also Ihrer Logik überhaupt gar nicht entsprach, und da hat sich das doch sehr verändert. Und mit der Industrialisierung gab es erst mal diese Verschiebung und Auseinandersetzung, das Auseinanderfallen von Arbeitsstätte und Wohnstätte. Das war vorher doch überhaupt nicht so, sondern das ging alles Hand in Hand.

(Unruhe vonseiten der Fraktion der AfD und Holger Arppe, fraktionslos)

Und nicht umsonst kennen wir den Spruch, aus einer anderen Kultur jedoch, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Das war hier früher so unähnlich auch nicht, so unähnlich auch nicht, also das Zusammenleben der Menschen war vollkommen anders.

(Unruhe vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU und AfD)

Und das, was Sie jetzt als Modell hervorheben, das entstand zunächst als wenig praktiziertes normatives Leitbild, als sogenannte Kernfamilie, in der bürgerlichen Oberschicht nach dem Zweiten Weltkrieg. Da bildete sich das erst so richtig heraus, und es war gleichermaßen auch die komplementäre Geschlechterrollenteilung zwischen Ehefrau und Ehemann als Lösung für das Vereinbarkeitsproblem, das durch die Trennung von Arbeits- und Wohnstätte damit aufkam. Das darf man auch nicht vergessen. Und wenn man sich dann noch das Bürgerliche Gesetzbuch zu dem Zeitpunkt anguckt, womit das verbunden war – Familien, Kinder, Ehe –, das kann doch kein Mensch heute mehr, kein Mensch heute mehr zurückwollen.

(Beifall vonseiten der Fraktion der SPD)

Aber auch schon, im Aufschwung Ende der 1960er-Jahre hat sich das ja auch schon wieder geändert. Das, was Sie jetzt als, ich nenne es mal, als „das Familienbild“ hier uns auf den Tisch legen und woran sich alles orientieren soll, damals praktisch als Kernfamilie, anerkannt ist es ja auch heute noch so, das hat sich schon wieder etwas aufgelöst zum Ende der 1960er-Jahre hin, weil dann kam es zu einem erneuten Wandel da schon. Ende der 1960er-Jahre, da wandelte sich dieses Bild schon wieder. Und da ging es über vom Materialismus zum Postmaterialismus, wie das so schön heißt in der Forschung, und damit zum zweiten demografischen Übergang, und bereits da setzte eine Pluralisierung der Lebensformen wieder ein.

Also in der Zeit zwischen, um das noch mal genau zu sagen, zwischen 1955 und 1968 wird die Zeit allgemein als Blütezeit von Ehe und Familie bezeichnet, weil diese sogenannte eheliche Kernfamilie in dieser Zeit eben eine besondere Monopolstellung innehatte, sowohl faktisch als auch normativ. Voreheliches Zusammenleben, das war nicht erwünscht, das gab es gar nicht. Scheidungen gab es nur mit Klärung der Schuldfrage und allen Repressalien, die daraus folgten. Nicht eheliche Geburten, das war ja damals eine Schande, wenn so etwas vorkam. Dauerhafte Kinderlosigkeit, na da kann doch was nicht stimmen, und so weiter und so fort.

(allgemeine Unruhe)

Daher war natürlich auch die Heiratshäufigkeit zu dieser Zeit besonders hoch,

(Zuruf von Dr. Ralph Weber, AfD)

obwohl die Geburten damals zurückgingen, obwohl natürlich gleich damit einherging, dass die Kindersterblichkeit damit auch sank. Das ist ohne Frage richtig.

(Stephan J. Reuken, AfD: Was wollen Sie uns damit sagen?)

Aber eine derartige Dominanz einer einzelnen Lebensform und des damit verbundenen Musters der Lebensführung ist historisch gesehen ein Ausnahmefall gewesen, ein Ausnahmefall!

(Horst Förster, AfD: In der Steinzeit war es anders, da haben Sie vollkommen recht. – Heiterkeit bei Dr. Gunter Jess, AfD)

Und man kann im Dossier „Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde“, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung im Jahr 2012, unter der Überschrift „Der Wandel von der vorindustriellen zur modernen Familie“ da viel drüber lesen, unter anderem auch: „Davor“, also vor dieser Zeitspanne, „... insbesondere auch im 18. und 19. Jahrhundert, existierte eine Vielfalt von Lebensformen, die hauptsächlich durch den großen Einfluss der sozialstrukturellen Lage auf die Familienformen, ökonomisch begründete Heiratsverbote und das... Risiko der Verwitwung in jungen Jahren verursacht war.“

(allgemeine Unruhe)

„Die seit Ende der 1960er-Jahre in Gang gekommene Pluralisierung der Lebensformen... und Individualisierung …“

(Glocke der Präsidentin)