Protokoll der Sitzung vom 20.11.2002

- Ich meine, wir sollten dieses Thema in aller Ruhe und Sachlichkeit erörtern. Wenn man daran denkt, dass Menschen gestorben sind, bedarf es keiner derartigen Atmosphäre.

(Zustimmung bei der SPD - Zuruf von der CDU: Nicht gestorben, ermordet! - Möllring [CDU]: Haben Sie gese- hen, wie Herr Plaue sich eben benommen hat? Vielleicht sollten Sie dem das einmal sagen!)

Die jeweiligen Staatsanwaltschaften bemühten sich intensiv darum, andere Menschen vor diesen gefährlichen Straftätern zu schützen. Dennoch konnten die gefährlichen Straftäter sogar sozusagen unter den Augen der Justiz erneut töten. Wir müssen deshalb schonungslos, aber auch vorurteilsfrei aufdecken, wie es zu diesen Tötungsdelikten gekommen ist, und wir müssen, wenn möglich, Konsequenzen ziehen.

Das Oberlandesgericht Celle hat den Haftbefehl gegen einen 47-jährigen Vergewaltiger gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft aufgehoben, weil er sich sechs Monate in Untersuchungshaft befand und das Gericht eine Verzögerung im Ermittlungsverfahren zu erkennen glaubte. Der Beschuldigte sollte seine Ehefrau vergewaltigt haben. Er stand unter Bewährung, weil eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes nach über 18 Jahren Strafvollzug zur Bewährung ausgesetzt worden war. Übrigens, Herr Schünemann, das ist der Grund, warum Ihr Antrag auf Einführung einer Sicherungsverwahrung überhaupt nichts gebracht hätte. Er war nach 18 Jahren Haft auf Bewährung freigelassen worden. Wenn Sie so tun, als hätte Ihre Gesetzesinitiative an diesem Fall irgendetwas geändert, dann erwecken Sie einen falschen Eindruck.

(Beifall bei der SPD - Schünemann [CDU]: Das habe ich nicht behaup- tet!)

Herr Schünemann, Sie sollten hier öffentlich zugeben, dass der Gesetzentwurf, den Sie eingebracht haben, aus Baden-Württemberg stammt und dass dieses Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht liegt. Das Bundesverfassungsgericht wird im Januar darüber entscheiden, ob das Gesetz aus Baden-Württemberg verfassungswidrig ist oder nicht. Es ist dem Niedersächsischen Landtag, glaube ich, nicht zuzumuten, in einer solchen Frage vier oder acht Wochen vor der Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes der CDU möglicherweise den gleichen Fehler zu begehen. Wir müssen ein verfassungsfestes Gesetz verabschieden. Das wollen wir. Aber machen Sie den Menschen nichts vor! Ihre Anträge und Gesetze liegen vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht.

(Beifall bei der SPD)

Knapp zwei Monate nach der Entlassung brachte der Beschuldigte seine Lebensgefährtin um. Tatsächlich hatte die Staatsanwaltschaft mit allen Mitteln versucht, den Beschuldigten in Haft zu halten, meine Damen und Herren. Die vom Oberlandesgericht festgestellte Verzögerung beruhte darauf - Herr Schünemann, darum geht es -, dass der Untersuchungsrichter den Haftbefehl gegen den Widerstand der Staatsanwaltschaft außer Vollzug gesetzt hatte, weil der Untersuchungsrichter - und nicht Herr Pfeiffer oder sonst irgendjemand den Beschuldigten auf freien Fuß setzte und zur psychiatrischen Untersuchung außerhalb des Landeskrankenhauses und außerhalb der Haft geschickt hat.

Sie haben hier den Eindruck erweckt, als sei der Justizminister dafür verantwortlich

(Zurufe von der CDU: Nee, nee, nee! - Gegenruf von der SPD: Ja! - Wider- spruch bei der CDU)

- so ist es, wir können das im Protokoll nachlesen -, dass der Beschuldigte außerhalb von Haft oder Landeskrankenhaus zu einer psychiatrischen Untersuchung gehen musste, obwohl er schwer alkoholkrank war. Herr Schünemann, ich stimme Ihnen ja zu. Aber das war die Entscheidung des Gerichts. Wenn Sie sie kritisieren, dann müssen Sie das nicht beim Justizminister machen. Ich finde es auch nicht in Ordnung, dass schwere Straftäter alkoholkrank sind, dann auf freien Fuß gesetzt werden und man von ihnen verlangt, sie mögen doch ohne Hilfe zum Psychiater gehen. Da haben

sie Recht. Aber das hat nichts mit Herrn Pfeiffer zu tun, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Herr Schünemann, Sie können sich darauf verlassen: Wir werden Schritt für Schritt jede Ihrer Behauptungen hier im Landtag klären.

Daraufhin erschien der Beschuldigte aber nicht zum festgesetzten Untersuchungstermin beim psychiatrischen Sachverständigen, sondern musste, Herr Schünemann, erst wieder in Haft genommen werden. Dadurch konnte der Sachverständige den Beschuldigten erst sechs Wochen später als vorgesehen untersuchen. Das Oberlandesgericht indessen bewertete die Verzögerungen als Grund, den Haftbefehl aufzuheben, ohne die von dem Beschuldigten verursachte Verzögerung zu dessen Lasten zu würdigen; denn zwischendurch war er exakt die Zeit auf freiem Fuß, die hinterher das Landgericht mit der Ansetzung des ersten Termins zur Hauptverhandlung überzogen hat. Es wäre überhaupt kein Problem gewesen, meine Damen und Herren - das ist jedenfalls meine Überzeugung -, den Haftbefehl so in Kraft zu lassen, wie die Staatsanwaltschaft des Landes Niedersachsen dies auch beantragt hatte.

(Beifall bei der SPD)

Das Gericht zog auch nicht die bekannte Gefährlichkeit des Beschuldigten in Erwägung. Nach meiner Überzeugung hatte das Oberlandesgericht durchaus die Möglichkeit, unter Hinzurechnung der Frist, in der die Untersuchungshaft unterbrochen war, den Täter und Beschuldigten in Untersuchungshaft zu halten. Das Gericht hat von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht. Warum deshalb der Justizminister des Landes Niedersachsen zurücktreten soll, müssen Sie mir einmal erklären, Herr Schünemann.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die Staatsanwaltschaft versuchte das auszugleichen, indem sie einen Sicherungshaftbefehl wegen der lebenslangen Freiheitsstrafe beantragte. Sie war dazu sogar im Gespräch von dem Vorsitzenden des 2. Strafsenats des Oberlandesgerichts aufgefordert worden. Auch dieser Antrag wurde aber von der Strafvollstreckungskammer und nach Beschwerde der Staatsanwaltschaft auch vom Oberlandesgericht verworfen.

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts zur Entlassung nach sechs Monaten berücksichtigt nicht, dass der Beschuldigte selbst die entscheidende Ursache für die angebliche Verzögerung des Verfahrens gesetzt hat. Sie wird für meine Begriffe - ebenso wenig wie die Entscheidung zur Ablehnung des Sicherungshaftbefehls für die lebenslange Freiheitsstrafe - auch der von dem Beschuldigten ausgehenden Gefahr nicht gerecht, meine Damen und Herren.

(Zustimmung von Plaue [SPD])

Herr Schünemann, im vorliegenden Fall hat es keine Verzögerung aufgrund zu hoher Arbeitsbelastung oder geringerer Personalausstattung der Staatsanwaltschaft gegeben. Das ist eindeutig nachgewiesen. Es hat im Übrigen auch keine Verzögerung bei dem Landgericht gegeben, das schließlich zuständig ist, auf Antrag der Staatsanwaltschaft den Termin für die Hauptverhandlung anzusetzen. Es hat vielmehr eine Ermessensentscheidung auf der Grundlage von §§ 121 und 122 StPO gegeben. Die können Sie kritisieren. Dann müssen Sie aber auch den Mut haben, Herr Schünemann, das zu tun. Darum geht es hier bei der Debatte.

(Beifall bei der SPD)

Der nächste Punkt: Herr Schünemann hat behauptet, es gebe in Niedersachsen kein Frühwarnsystem mehr. Das ist eine schlichte Falschaussage, meine Damen und Herren. Es gibt dieses Frühwarnsystem.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der CDU)

- Herr Schünemann, die Redezeit reicht nicht aus. Ich stelle Ihnen das aber gerne zur Verfügung. Es gibt ein Frühwarnsystem. Es ist detailliert aufgeschrieben, was sich dort tut.

(Adam [SPD]: Er braucht nur Herrn Busemann zu fragen! Der hat das seit 1989! - Schünemann [CDU]: Das ist doch im Rechtsausschuss gesagt wor- den!)

Meine Damen und Herren, es geht hier schlicht um etwas anderes. Deshalb müssen wir es im Grundsatz auch anpacken. Bei dem Lüneburger Fall handelt es sich um einen tragischen Fall, der aber ein Schlaglicht auf ein generelles Problem der Justiz in Deutschland wirft. Das Brandenburgische Ober

landesgericht hat 1999 einen Haftbefehl gegen einen Räuber aufgehoben, der mit Waffengewalt Sparkassenfilialen überfallen hat. Der Grund: Ein in Auftrag gegebenes Gutachten zur Notwendigkeit einer Sicherungsverwahrung hatte die Erhebung der Anklage verzögert.

Das Oberlandesgericht Dresden hat im Jahr 2001 den Haftbefehl gegen einen Straftäter aufgehoben, der eine halbautomatische Selbstladewaffe besitzt und einen Menschen mit einem Messer 7 cm in den Bauch gestochen hat. Der Grund: Die Begutachtung durch einen psychiatrischen Sachverständigen hatte zu lange gedauert.

Das Oberlandesgericht München hat einen Haftbefehl aufgehoben, weil der zuständige Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft die Anklage wegen Arbeitsüberlastung nicht rechtzeitig erstellen konnte, obwohl die Arbeitsüberlastung innerhalb der Staatsanwaltschaft hätte abgebaut werden können.

Das Bundesverfassungsgericht musste einen Beschluss des Oberlandesgerichts München korrigieren und einen räuberischen Erpresser auf freien Fuß setzen, weil das Landgericht Augsburg wegen Überlastung nicht rechzeitig die Hauptverhandlung durchführen konnte.

Das Oberlandesgericht Nürnberg hat im Jahr 2000 einen Haftbefehl wegen Vergewaltigung aufgehoben, weil die Staatsanwaltschaft die Ermittlungsakte der Polizei für weitere Ermittlungen zurückgegeben und dadurch das Verfahren verzögert hatte.

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat im Jahr 2001 einen Haftbefehl wegen schweren Raubes und Körperverletzung aufgehoben, weil die Kriminalpolizei den Ermittlungsbericht zu spät der Staatsanwaltschaft vorgelegt hat.

Meine Damen und Herren, ich habe gestern Abend auf einer CD-ROM, die man über Rechtsanwälte bekommen kann, nur eine halbe Stunde suchen müssen, um 38 Seiten Rechtsprechung zu finden, bei der dies jeden Tag in Deutschland passiert. Hätte ich mir länger Zeit gegeben, wären es hunderte von Fällen gewesen.

Es ist nicht bekannt, meine Damen und Herren, dass die Justizminister von Brandenburg, Sachsen, Bayern oder Baden-Württemberg wegen der Haftbefehlsaufhebungen zurückgetreten wären. Sagen Sie mal, Herr Schünemann und Herr Wulff: Messen Sie eigentlich mit der gleichen Latte? Dann

müssten Sie hier den Rücktritt sämtlicher Justizminister in Deutschland verlangen - auch Ihrer eigenen, meinen Damen und Herren.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Ich sage es Ihnen noch einmal ganz deutlich: Den Staatsanwaltschaften in Niedersachsen sind in allen drei Fällen keinerlei Vorwürfe zu machen. Deswegen ist auch dem Justizminister kein Vorwurf zu machen.

Entscheidend in all diesen hunderten Fällen in Deutschland ist nicht die Verantwortung der Justizminister, sondern ein wirkliches Problem liegt in der Rechtsordnung selbst. Deshalb ist es richtig und nicht falsch, Herr Schröder, wenn wir die Rechtsordnung selbst unter die Lupe nehmen, wenn in Deutschland durch die geltende Strafprozessordnung Opfer nicht in gleichem Maße geschützt werden wie Täter, meine Damen und Herren. Wir müssen dafür sorgen, dass es in der Strafprozessordnung nicht nur ein Täterstrafrecht gibt, sondern vor allen Dingen ein Opferschutzrecht. Darum geht es in Deutschland, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

In all diesen Fällen ist etwas ganz anderes entscheidend: Hier haben Oberlandesgerichte überall in Deutschland innerhalb des gesetzlichen Rahmens Entscheidungen getroffen, die wir nicht als gerecht empfinden können, die vielleicht sogar die Sicherheit der Bevölkerung gefährden. Wir können den Gerichten aber keinen Vorwurf machen, meine Damen und Herren. Aber wir müssen prüfen, wie wir den gesetzlichen Rahmen anpassen können. Lassen Sie mich dazu aus dem Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 30. Januar 2001 zitieren:

„Der Senat verkennt nicht, dass... der dringende Tatverdacht eines Verbrechens der schweren räuberischen Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung und damit einer sehr erheblichen Straftat besteht und dass Fluchtgefahr besteht... Wäre der Senat frei, zwischen dem staatlichen Interesse an effektiver Strafrechtspflege einerseits und dem Beschuldigteninteresse an beschleunigten Verfahren und verhältnismäßiger Untersuchungshaft andererseits abzuwägen, so trüge er keine Bedenken, die Fort

dauer der Untersuchungshaft anzuordnen. Jedoch stellt § 121 Abs. 1 StPO eine gesetzliche Konkretisierung der Abwägung dar. Auch wenn die Vorschrift - wie der vorliegende Fall zeigt - keine sachlich befriedigende Regelung der Problematik enthält, ist der Senat an das Gesetz gebunden.“

Meine Damen und Herren, wenn das Gesetz keine sachlich befriedigenden Regelungen zulässt, dann müssen wir das Gesetz ändern, damit sich das in Zukunft ändert.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie wirklich etwas tun wollen, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion, dann unterstützen Sie den Justizminister bei diesem Vorhaben. Herr Schünemann, Sie haben das hier im Landtag anders, als Sie behaupten, nicht ein einziges Mal in dieser Legislaturperiode beantragt. Hier hat lediglich am 9. Juni 1998 Herr Kollege Busemann eine Kleine Anfrage zum Thema „Haftentlassung nach der Untersuchungshaft“ gestellt. Als wir Ihnen die Antwort gegeben haben, dass es 1996 199 Fälle und 1997 nur fünf Fälle gab, haben Sie das Thema im Niedersächsischen Landtag nicht wieder aufgegriffen.

(Beifall bei der SPD - Schünemann [CDU]: Die Große Anfrage!)

- Dazu komme ich noch. Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe mich auf Ihren Redebeitrag gut vorbereitet, Herr Schünemann.

Wir Sozialdemokraten wollen nicht einfach mit der lapidaren Aussage, dass hier der Rechtsstaat in Gefahr sei und wir an die Grenzen gestoßen seien, das Thema beenden. Wir müssen in Zukunft die bekannte Gefährlichkeit von Beschuldigten stärker in den Mittelpunkt richterlicher Anordnungen und Entscheidungen stellen.

Meine Damen und Herren, in seinen zwei Amtsjahren hat Christian Pfeiffer mehr für den Opferschutz getan als alle politischen Initiativen der CDU-Fraktion in diesem Haus. Darum geht es.