- Dass Sie schon bei meinen ersten Sätzen noch nicht einmal die Zahl vier akzeptieren, ist, so finde ich, ein bisschen übertrieben, Herr Busemann. Aber nur ein bisschen.
Ich kann ja verstehen, dass Sie sich darüber ärgern, dass nicht das folgt, was Sie sich erhofft haben. Aber ein bisschen abwarten sollten Sie doch wohl. - Die Wahl Gerhard Schröders zum Ministerpräsidenten fiel in ein Jahrzehnt voller epochaler Umbrüche, die von kaum jemandem erahnt, sondern allenfalls erhofft wurden.
Das historisch-politisch herausragende Ereignis dieser letzten Dekade des vergangenen Jahrhunderts war die nahezu lautlose Implosion des in seinen Ausmaßen gigantischen, ökonomisch ineffizienten und innenpolitisch unbeweglichen Sowjetimperialismus. Gleichzeitig brach mit ungeheurer Wucht und einer bisher nicht gekannten Dynamik das Zeitalter der Globalisierung mit kaum absehbaren wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen an. Begriffe wie shareholder-value, Internet oder Bits und Bytes, die bis dahin lediglich im Expertenjargon zirkulierten, avancierten in kürzester Zeit zum allgemeinen Sprachgebrauch. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung sind Megafusionen, die immer häufiger die Schlagzeilen in den Nachrichtensendungen dominieren und fast immer mit dem Abbau von tausenden von Arbeits- und Ausbildungsplätzen verbunden sind. Peter Glotz umschrieb diese Entwicklung als “digitalisierten Kapitalismus”.
Die Auswirkungen der geopolitischen und wirtschaftlichen, sich abzeichnenden epochalen Umbrüche waren zu Beginn der sozialdemokratischen Regierungszeit 1990 kaum absehbar. Für SPD und Grüne standen damals vor allem die Defizite und der soziale Stillstand der Vorgängerregierung im Mittelpunkt ihrer Politik. Die ersten Regierungsjahre waren deshalb davon gekennzeichnet, den von CDU und FDP zu verantwortenden Stillstand bei Bildung, sozialer und innerer Sicherheit zu beenden und Niedersachsen auf das Niveau anderer westlicher Bundesländer zu heben. In der zweiten Hälfte der 90er-Jahre standen dann die dramatisch veränderten finanziellen Rahmenbedingungen im Mittelpunkt der Landespolitik.
Meine Damen und Herren, natürlich werden Regierung und Opposition die vergangenen zehn Jahre und die Ergebnisse unterschiedlich bewerten. Wie sollte das auch anders sein. Es macht deshalb wenig Sinn, hier im Landtag allzu lange über diese Bewertungen zu diskutieren. Es gibt nun einmal Regierungs- und Oppositionsmeinungen. Festzuhalten bleibt aber auf jeden Fall: Kaum eine der vorangegangenen niedersächsischen Landesregierungen hatte auch nur ansatzweise vergleichbare Herausforderungen zu bewältigen, mit Ausnahme sicherlich der ersten Landesregierung unter Hinrich Wilhelm Kopf. Im Rückblick stelle ich fest: Die letzten zehn Jahre zu bewältigen – trotz dieser gewaltigen Umbrüche – war eine Meisterleistung für unser Land.
Wir haben allen daran Beteiligten zu danken - allen voran meinen beiden Amtsvorgängern Gerhard Schröder und Gerhard Glogowski.
Es ist aber heute nicht mehr in erster Linie unsere Aufgabe, die Vergangenheit der letzten zehn Jahre zu beurteilen. Das können wir getrost den Medien, Historikern oder am besten den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes überlassen. Unsere Aufgabe ist es, Antworten auf die Herausforderungen der kommenden zehn Jahre zu finden. Wir wollen die Zukunft gestalten, nicht aber die Vergangenheit bewältigen. Fragen, die für die Zukunft unseres Landes von erheblicher Bedeutung sind, sind erst in der letzten Woche und im letzten sowie im laufenden Jahr immer wieder von der Ministerpräsidentenkonferenz aller Länder in der Bundesrepublik beraten worden. Ich möchte Sie, das Parlament unseres Landes, heute über diese Debatte unterrichten und dabei die Positionen erläutern, die die Niedersächsische Landesregierung dabei einnimmt. Vor diesem Hintergrund werde ich auch deutlich machen, wo die Perspektiven und Chancen für unser Land liegen.
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass in den kommenden zehn Jahren vor allem drei große Herausforderungen auf Niedersachsen zukommen:
Die erste Herausforderung besteht in der zunehmenden Europäisierung und Internationalisierung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
Die zweite Herausforderung betrifft die Stellung Niedersachsens bei der Neuordnung des Länderfinanzausgleichs und der bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland.
Die dritte Herausforderung besteht in den Aufgaben in Niedersachsen, die wir vor diesem Hintergrund der Entwicklung in Europa und in Deutschland zu bewältigen haben.
Meine Damen und Herren, die Debatte um die Green Card hat gezeigt, wie weit wir in der innerdeutschen politischen Kultur noch davon entfernt sind, die Bedeutung einer immer stärker werdenden Internationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu begreifen. Wenn wir mit den anderen Regionen der Welt, z. B. in Asien oder Nordamerika, in dieser Entwicklung mithalten wollen, gibt es zur weiteren Stärkung der Internationalität und damit vor allem Europas keine Alternative.
Wer einmal in den großen Universitäten der Vereinigten Staaten gewesen ist, der wird feststellen, dass dort auch in den staatlichen Universitäten ein großer Teil der südostasiatischen Wirtschaftsvertreter mindestens ihr Postgraduierten-Studium absolvieren. Erfolgreiche Ingenieure und Manager erwerben und erweitern dort ihre wirtschafts- und betriebswirtschaftlichen Kenntnisse. Die Besten davon bleiben in den Vereinigten Staaten, die anderen, ebenfalls exzellent ausgebildet, gehen zurück in die Unternehmen ihrer Heimatländer. Was glauben Sie wohl, in welche Richtung die ihre Unternehmen in Südostasien orientieren? Gewiss nicht nach Europa und Deutschland.
Meine Damen und Herren, wer sich als eine Exportnation wie Deutschland im weltweiten Wettbewerb befindet, der konkurriert auch weltweit um die besten Experten für Forschung, Wissenschaft und Wirtschaft und Management. Es liegt im nationalen Interesse Deutschlands, dass diese Experten auch ihren Weg an deutsche Hochschulen und in die Führungsetagen der deutschen Wirtschaft finden können. Das gefährdet keine Arbeitsplätze, meine Damen und Herren, sondern es sichert sie und schafft neue. Wer sich bei diesem internationalen Wettbewerb auf das Niveau von Provinzpolitikern stellt, wie es offenbar in Teilen des politischen Spektrums in Deutschland spätestens seit
dem Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen zum guten Ton gehört, der schadet dem nationalen Interesse Deutschlands
Wir müssen endlich lernen, unsere eigenen nationalen Interessen auch im internationalen Maßstab unaufgeregt und vor allem ohne Angstkampagnen zu formulieren und durchzusetzen. Dafür brauchen wir keine allgemeinen Einwanderungsgesetze, sondern einfache und klare Regelungen für die Praxis. Wir müssen und wollen praktische Probleme schnell und flexibel lösen und keine ideologischen Stellvertreterkriege führen, die meist ohnehin ganz andere Ziele verfolgen und nur die Wahlkampffelder der kommenden Jahre vorbereiten sollen.
Die schnell voran schreitende Globalisierung von Wirtschaft und Handel ist per se weder gut noch schlecht. Wir können sie so wenig ablehnen wie das Wetter von morgen. Aber anders als beim Wetter von morgen können wir Ziel und Richtung mitbestimmen, wenn auch wir unsere eigenen politischen Initiativen und Aktivitäten in einem internationalen Maßstab messen.
Dabei geht es sicherlich in erster Linie um Europa. Eine international erfolgreiche Europäische Union ist die Voraussetzung dafür, dass in Zukunft auch in Deutschland und Niedersachsen weiterhin ausreichend Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung stehen können.
Meine Damen und Herren, wenn sich Menschen auf der Straße über Europa unterhalten, dann - so unterstelle ich - verbinden nicht wenige damit in erster Linie Bürokratismus, Subventionswucher, Lebensmittelskandale oder den auf Talfahrt befindlichen Euro. Ich bin mir sicher: Dies ist nicht das Bild, das der große Europäer Robert Schuman vor 50 Jahren vor Augen hatte.
Die Planungen zur Erweiterung der Europäischen Union nach Osteuropa rufen eher Skepsis und Sorge vor zu großen Einwandererströmen und noch höheren Belastungen der deutschen Steuerzahler hervor als Europaeuphorie. Dabei ist die europäische Einigung in Wahrheit eine wirkliche Erfolgsstory, die sich sehen lassen kann. In der Europäischen Union geht es sozial gerechter, friedlicher und auch sozial sicherer zu als irgend
wo sonst auf der Erde. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind hier weit geringer als etwa in den USA mit ihren krassen Einkommens- und Vermögensgefällen. Arbeitnehmer in Europa haben Anspruch auf Gesundheits- und Sicherheitsschutz am Arbeitsplatz, das Recht auf Mindesteinkommen bei Arbeitslosigkeit und im Alter, auf bezahlten Jahresurlaub und auf Begrenzung der Wochenarbeitszeit. Führend ist Europa auch bei der Verwirklichung einer umfassenden Gesundheitsvorsorge für alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von deren Einkommensverhältnissen.
Meine Damen und Herren, die Liste lässt sich fortführen, aber wir müssen feststellen, dass dies nach 50 Jahren europäischer Einigung für viele schon selbstverständlich erscheint und nicht mehr ohne weiteres klar ist, dass die Herstellung dieses Einigungsprozesses sehr schwierig war und im Übrigen jeden Tag neu verteidigt und erobert werden muss. Europa kann sich sehen lassen, und dies ist ja gerade der Grund, warum es für die neuen Demokratien in Osteuropa so ungeheuer attraktiv ist.
Die Erweiterung der Europäischen Union von 15 auf 27 oder noch mehr Staaten stellt Europa aber vor eine riesige Herausforderung. Die im Laufe von mehr als 40 Jahren gewachsenen bürokratischen Strukturen führen schon heute zur Entfremdung Europas von seinen Bürgerinnen und Bürgern. In einem vergrößerten Europa würde sich dieser Eindruck einer übermächtigen und undurchschaubaren Bürokratie, einer Zentralverwaltung, nicht nur endgültig verfestigen, sondern die Europäische Union mit ihrer unübersehbaren Anzahl von Regierungskommissionen, Arbeitsgruppen, Behörden und Programmen wäre am Ende handlungsunfähig.
Ernsthaft kann sich wohl niemand vorstellen, dass eine Europäische Union mit ihren althergebrachten Organisationsprinzipien funktionieren kann, wenn ihr plötzlich statt 15 27 oder noch mehr Staaten angehören. Alle diese Staaten bringen ihre eigenen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Eigenheiten mit in die Union, und sie wollen nicht - ebenso wenig wie wir in Niedersachsen - von einem gigantischen, bürokratischen Moloch majorisiert werden.
Die meisten Institutionen und Organe der Europäischen Union stammen noch aus einer Zeit, als sie nur über sechs Mitglieder verfügte, die zudem noch durch viele Gemeinsamkeiten verbunden
waren. Deshalb will sich die Landesregierung in die aktuelle Debatte um das Europa von morgen aus deutscher Sicht aktiv einschalten. Wir wollen uns dabei nicht überheben, aber wir wollen diese Debatte nicht den süddeutschen Ländern allein überlassen, vor allem deshalb nicht, weil man gelegentlich den Eindruck hat, es ginge nur um die Lufthoheit über den Stammtischen.
Wir stellen uns dieser Frage im politischen Wettbewerb, weil wir davon überzeugt sind, dass unsere Vision nicht nur besser für das Land Niedersachsen, sondern auch für den europäischen Einigungsprozess ist.
Ob mit 15 oder 27 Mitgliedern: Die Europäische Union ist dringend reformbedürftig. Sie muss demokratischer, transparenter, handlungsfähiger werden und in ihrer inneren Struktur näher zu den Bürgerinnen und Bürgern rücken. Darin sind sich in Deutschland eigentlich fast alle einig. Die Frage ist nur: Wie soll sie reformiert werden und auf welchem Wege? Wir müssen uns also zuerst entscheiden, für welches Europa wir eintreten. Für ein Europa, wie es heute existiert und das lediglich erweitert wird?
Die stärkste Klammer dieses Europas ist eigentlich nur die gemeinsame Währung. Zu ihr tritt vermutlich in den kommenden Jahren noch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dieses Europa will mit der gemeinsamen Währung vor allem die internationale Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit fördern. Dieses Europa verzichtet bewusst auf zentrale Kompetenzen z. B. bei der Finanz- und Steuergesetzgebung oder bei einer wirklich harmonisierten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Nationalstaaten, Länder und Regionen haben dabei die Aufgabe, die europäische Rahmengesetzgebung des Wettbewerbsrechts dezentral im Sinne des jetzigen Kommissionspräsidenten Prodi durchzusetzen. Es ist das Europa des Wettbewerbsföderalismus. Es macht Länder, aber auch Nationalstaaten letztlich zu Wettbewerbsbehörden auf der Ebene von Regierungspräsidien. Es hat zwei Seiten, nämlich den Wettbewerb um niedrige Steuern, hohe Fördersätze, flexibles Arbeitsrecht oder Ausnahmen in der Umweltgesetzgebung, und es macht das Wettbewerbsrecht gleichzeitig zur zentralen und zunehmend alleinigen Messlatte für alle gesellschaftlichen Lebensbereiche: für die Beihilfen im Schiffsbau ebenso wie für die Landesbanken, die Sparkassen,
den öffentlichen Personennahverkehr, die Wohlfahrtsverbände oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Diese kleine Aufzählung macht schon deutlich, von welch großer Bedeutung die europäische Entwicklung für Länder wie Niedersachsen wäre. Keine noch so freundliche Zusage der Europäischen Kommission im Gespräch mit deutschen Ministerpräsidenten kann dabei Ausnahmen garantieren, weil spätestens eine Wettbewerbsklage diesen Bewertungsmechanismus auslöst, zumal solche Klagen in der Regel auch noch aus Deutschland, z. B. von deutschen Großbanken gegen das Sparkassensystem und die Landesbanken, kommen.
Oder, meine Damen und Herren, wollen wir ein anderes Europa, nämlich eines, das sich nicht mit einer bloßen Währungshülle zufrieden gibt, sondern bei der weitere starke Klammern existieren, zwischen denen Wettbewerb eine wichtige und starke Rolle spielt, der Wettbewerb aber durch gemeinsame politische Ziele wie Vollbeschäftigung, Mitbestimmung und soziale Sicherheit begrenzt wird? Wer dieses Europa will, der muss die Europäische Kommission stärker mit dem Europäischen Parlament verzahnen und auf der europäischen Ebene Aufgaben wahrnehmen, die bislang den Nationalstaaten vorbehalten sind, nämlich vor allem eine gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik, aber auch eine wirkliche Harmonisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Nationalstaaten würden dabei immer stärker zu Mitgliedern eines europäischen Bundesrates, um dort im nationalen Interesse Einfluss zu nehmen. Sie werden damit beileibe nicht verzichtbar, und zwar genauso wenig, wie die Bundesländer in den vergangenen 50 Jahren in der demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands verzichtbar gewesen wären. Sie sind nicht nur Träger kultureller Identität, sondern sehr wohl auch in Zukunft souveräne Vertreter ihrer Bürgerinnen und Bürger, denn die Europäische Union wird auch in den kommenden Jahrzehnten nicht die Identität der Nationalstaaten für die darin lebenden Menschen übernehmen können. Die Rolle der Nationalstaaten wird in diesem Sinne nicht schwächer, sondern anders. Dies wäre ein kooperativer Föderalismus für Europa als Gegenbild, als Alternative, zum Wettbewerbsföderalismus der jetzigen Europäischen Kommission, der auf Wettbewerb nicht verzichtet, sich aber am Leitbild der sozialen Marktwirtschaft orientiert.
Meine Damen und Herren, dieses Modell will mehr Europa und nicht weniger. Es stärkt Europas Kompetenzen für den internationalen Wettbewerb und verhindert gleichzeitig ruinösen Wettbewerb innerhalb der Gemeinschaft und schützt damit die Bürgerinnen und Bürger. Gerade im Rahmen der geplanten Osterweiterung wird dies von großer Bedeutung sein.
Gleichzeitig schafft die Stärkung der europäischen Kompetenzen aber auch Freiräume zur Stärkung der regionalen Kompetenzen. Wenn klar ist, wofür die europäische Ebene zuständig ist, dann kann gleichzeitig entschieden werden, worum sie sich nicht zu kümmern hat, nämlich z. B. um Kultur und Bildung, um den öffentlichen Personennahverkehr, um die Struktur der sozialen Sicherungssysteme, um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und um die regionale Strukturpolitik. Die einzelnen Regionalstaaten regeln dann, wie sie diese Kompetenzen wahrnehmen wollen, in Deutschland jedenfalls auf der Grundlage der föderalen Verfassung und mehrheitlich in der Kompetenz der Länder.
Es ist diese zweite europäische Vision, die der Bundesaußenminister kürzlich beschrieben hat, mit dem Weiterbestehen der Nationalstaaten in einer Föderation und mit einem Neugründungsakt durch Verfassungsvertrag, der die Souveränitäts- und Kompetenzverteilung zwischen Europa und den Nationalstaaten horizontal und vertikal regelt und dabei gleichzeitig den Regionen und Bundesländern Spielräume verschafft, auf der Grundlage ihrer jeweiligen Verfassung die Kompetenz mit ihren Nationalstaaten zu regeln. In dieser Sichtweise sind die europäische und die föderale Perspektive in Deutschland eben kein Widerspruch, sondern sie sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Ich bin der festen Überzeugung, dass uns erst diese zweite europäische Vision die wirkliche Chance gibt, ernsthaft eine Revitalisierung des Föderalismus in Deutschland durchzusetzen. So paradox es im ersten Moment klingen mag: Erst ein Mehr an Europa schafft auch ein Mehr an Föderalismus in Deutschland.
Meine Damen und Herren, in der vergangenen Woche hat sich die Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder abermals mit diesen Fragen befasst. Die Ministerpräsidenten der Länder fordern eine Reform, die auch die Kompetenzen der deutschen Länder und des föderalen Systems in der
Bundesrepublik Deutschland sichert. Ziel ist es, wesentliche Bereiche der Daseinsvorsorge wie das System der Landesbanken und Sparkassen, des ÖPNV und der Rundfunkanstalten und die sozialen Sicherungsstrukturen und Wohlfahrtsverbände in der alleinigen Kompetenz der Länder zu halten.
Meine Damen und Herren, die Länderregierungen erleben, wie stark Brüssel und die Europäische Kommission inzwischen den europäischen Wettbewerbsbegriff zum alleinigen Maßstab für die Beurteilung des Alltags in unseren Städten, Gemeinden und Ländern machen. Immer stärker entsteht dabei ein mehrfaches Legitimationsdefizit. Einerseits empfinden betroffene Institutionen und Bürgerinnen und Bürger die Europäische Union nicht als ausreichend legitimiert, um beispielsweise das System von Banken und Wohlfahrtsverbänden wie der Caritas, der Diakonie oder der Arbeiterwohlfahrt infrage zu stellen. Andererseits müssen sich die Länder fragen, ob ihre verfassungsrechtliche Stellung im föderalen System, ihre Eigenstaatlichkeit in Deutschland, eigentlich noch Bestand hat. Schließlich, meine Damen und Herren, werden uns die Bürgerinnen und Bürger fragen, warum sie eigentlich zum Bundestag, zum Landtag oder auch zum Europäischen Parlament wählen sollen, wenn weder die Kompetenzen dieser Parlamente klar und transparent sind noch bestehende Konflikte und Entscheidungen in der Kompetenz nationaler oder landesweiter Parlamente verblieben sind.
Die Forderung der Ministerpräsidenten der Länder nach klarer Kompetenzabgrenzung und Sicherung der föderalen Ordnung in der Bundesrepublik sind damit kein Rückfall in Kleinstaaterei oder egoistische Versuche der eigenen Machtsicherung. Transparente und demokratisch legitimierte Entscheidungsstrukturen in Europa sind die Voraussetzung sowohl für eine dauerhafte Akzeptanz der Europäischen Union bei den Bürgerinnen und Bürgern in allen Mitgliedstaaten als auch für die Handlungsfähigkeit der Union im Rahmen ihrer Erweiterung.
Meine Damen und Herren, so richtig diese Forderungen auch sind, sie stoßen im Rahmen der europäischen Diskussion auf wenig Verständnis. Kaum ein Land Europas - mit Ausnahme vielleicht von Österreich und Belgien - kennt vergleichbare föderale Strukturen wie die Bundesrepublik. Im Gegenteil, in einer ganzen Reihe von Staaten würde ein Angebot, die föderalen Strukturen der Bundes
republik auf die europäische Ebene, d. h. auf die Mitgliedstaaten, einfach zu übertragen, eher zu massiven Angstreaktionen führen. Stellen Sie sich vor, der spanische Ministerpräsident oder das spanische Parlament hätte dann mit einer Debatte um ein stärkeres Eigengewicht des separatistischen Baskenlandes zu kämpfen, oder wir würden mit einer solchen Debatte der Lega Nord in Norditalien helfen!