Protokoll der Sitzung vom 24.10.2001

Für uns geht es um die Entwicklung und nicht um den Abriss dieser Architektur. Wer sich darauf versteift, dass Datenschutz gleich Täterschutz ist, oder wer permanent, wie auch heute hier, Herr Wulff, danach ruft, dass der Einsatz der Bundeswehr im Inneren ermöglicht werden muss, hat meiner Meinung nach unseren modernen Rechtsstaat nicht verstanden und mit diesem modernen Rechtsstaat wenig im Sinn.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Bürgerrechte müssen jetzt nicht nur verteidigt werden; sie müssen sich auch in der aktuellen Lage bewähren. Dass die Mittel, die jetzt angewandt werden, wirksam und angemessen sein müssen, gilt aus unserer - grünen - Sicht nicht nur für die militärischen Angriffe in Afghanistan, sondern in gleichem Maße für die Innenpolitik und die Ausländerpolitik in der Bundesrepublik.

Lassen Sie mich zunächst etwas zum Militärischen sagen. Nach den Attentaten in New York und Washington war die öffentliche Stimmung von Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Schrecken und Trauer geprägt. Nicht nur in den westlichen Ländern, sondern auch in den islamischen Ländern dominierte ein ganz einfacher menschlicher Instinkt, nämlich dass so etwas nicht sein darf. Selbst im Iran war dieses kollektive Gefühl sehr viel stärker als der Antiamerikanismus der konservativen Führer. Ich schicke dieses voraus, weil ich zu denen gehöre, die der Auffassung sind, dass Verfolgung und Bekämpfung der Terrororganisationen, der Netzwerke und der Hintermänner, die den 11. September ermöglicht haben, nur in einer breitesten Allianz mit den islamischen Staaten und dem Islam erfolgreich sein wird.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Entscheidungen, die von Regierungen und Politikern in aller Welt, von der UNO und vom Weltsicherheit getroffen worden sind, zeigen, dass eine solche Allianz möglich ist. Die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg gegen diejenigen, die hinter den Attentaten stehen, ist nicht das militärische Potenzial Amerikas oder Europas und nicht die Bereitschaft, Krieg zu führen, sondern die Dauerhaftigkeit des Bündnisses und eine Verständigung über gemeinsame politische Maßnahmen in diesem Bündnis.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der Versuch, durch militärische Angriffe in Afghanistan das Regime der Taliban zu beenden und bin Laden zu ergreifen, hat die Zustimmung des Weltsicherheitsrates und der UNO. Trotz dieser Zustimmung oder um dieser Zustimmung willen darf sich das Militärische aber nicht verselbständigen. Voraussetzung für einen Erfolg gegen terroristische Bedrohung ist, dass die militärischen Operationen gezielt gegen die Terrororganisationen gerichtet werden. Wenn das Volk der Afghanen, das durch die Taliban und zuvor durch einen Stellvertreterkrieg der Großmächte geschunden wurde, zum eigentlichen Opfer des Gegenschlages wird, dann dient das sicherlich nicht der Bekämpfung des Terrorismus, sondern gibt ihm im Zweifel neue Nahrung. Das Leid der Zivilbevölkerung in Afghanistan darf nicht als Kollateralschaden hingenommen werden, wenn das fast weltweite Bündnis gegen den Terror Bestand haben soll.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, so sicher es ist, dass man dem islamistischen Terrorismus nicht mit Dialog beikommt, so sicher ist es auch, dass ein maßloses Bombardement den Boden für neuen Terror und den Dschihad bereitet. Wenn ein Krieg im Namen der Humanität geführt wird, dann ist die Forderung nach der Einstellung oder Unterbrechung der Bombardierungen nahezu selbstverständlich. Es muss ein Ziel der Allianz sein, die humanitäre Katastrophe in Afghanistan zu verhindern. Ich unterstütze mit diesen Worten ausdrücklich das Engagement meiner Parteivorsitzenden Claudia Roth.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die Zustimmung meiner Partei, auch harte militärische Mittel gegen Terroristen einzusetzen, entbindet uns nicht von der Pflicht, das zu bewerten, was tatsächlich geschieht,

soweit wir es noch beurteilen können. Das Wort von der uneingeschränkten Solidarität ist nicht von uns, und ich halte dieses Kanzlerwort ausdrücklich für falsch. Auch ich bin für Solidarität, aber für eine kritische Solidarität. Wenn die deutsche Solidarität mit den USA keine Kritik verträgt, dann wäre das ein Grund für große Besorgnis.

Meine Damen und Herren, zur Bewertung der Angemessenheit der bisherigen innenpolitischen Maßnahmen ist mir gestern der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Niedersachsen zuvorgekommen. Er sprach von einem populistischen Wettlauf der Parteien, um den Eindruck zu erwecken, sie hätten das Thema innere Sicherheit fest im Griff.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Tatsächlich dominierten auch in Niedersachsen in den vergangenen vier Wochen keine moderaten Töne, sondern schroffe Töne und laute Wahlkampfsignale die innenpolitische Debatte. Auf der Achse Gabriel - Stoiber waren abwägende und maßvolle Ansagen tabu. Lautstärke, meine Damen und Herren, kann aber nicht die Klärung ersetzen, welche der vielen angekündigten Maßnahmen geeignet und verhältnismäßig sind, Terroristen zu verfolgen und zu stellen oder ihre Taten zu verhindern. Dieser Klärung wird trotz eines gemäßigten Grundtones heute Morgen auch Ihrer Rede, Herr Ministerpräsident, nicht angemessen gerecht.

(Plaue [SPD]: Das sehe ich anders!)

In einigen Fragen gibt es sehr schnelle Übereinstimmung mit uns, z. B. bei der Rücknahme der von der SPD vorgesehenen Kürzung beim Katastrophenschutz und bei der Feuerwehr. Wir unterstützen auch die Einrichtung eines Milzbrandlabors und hoffen, dass das nicht am Kompetenzgerangel scheitern wird. Wir unterstützen ausdrücklich die Maßnahmen, die die Finanzierung des internationalen Terrorismus aufdecken sollen. Deshalb sind wir für die Lockerung des Bankgeheimnisses und die Einrichtung einer Zentralstelle für verfahrensunabhängige Finanzermittlungen. Wir glauben nicht, dass Steuerfahnder das leisten können.

Eine schlichte Rückkehr zur Kronzeugenregelung lehnen wir allerdings ab. Wir wollen eine Strafverfolgung mit rechtsstaatlichen Mitteln. Deshalb begrüßen wir es, dass Justizminister Pfeiffer, gestützt auf die Position unserer Bundestagsfraktion, statt einer Kronzeugenregelung eine Aufklärungs

hilfe, verbunden mit umfangreichen Sicherungen gegen Falschaussagen, anstrebt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Alle pauschalen Angriffe auf den Datenschutz weisen wir zurück. Der Datenschutz für Bürger ist nicht nur bindendes europäisches Recht, sondern ein Bestandteil der öffentlichen Sicherheit. Polizei und Geheimdienste dürfen nicht ohne Kontrolle arbeiten. Deshalb sind wir mehr denn je für eine Stärkung der eher schwachen parlamentarischen Kontroll- und Informationsrechte.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, auch wir sind für die Streichung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht und das Verbot gewaltbereiter extremistischer Vereine. Wir wollen nicht - Herr Plaue, hören Sie zu, Sie haben etwas anderes behauptet -, dass unter dem Deckmantel der Religionsausübung zu Gewalt aufgerufen wird und terroristische Netze durch Spendensammlungen finanziell unterstützt werden. Schon heute haben wir im Ausländergesetz die Möglichkeit, Personen, die die Sicherheit in Deutschland gefährden, die Gewalt anwenden oder mit der Anwendung von Gewalt drohen, auszuweisen. Die Regelausweisung à la Gabriel und Stoiber aller Mitglieder extremistischer Vereine erleichtert nicht die tatsächliche Abschiebung. Gerade bei Abschiebungen in das EU-Beitrittsland Türkei gibt es zahlreiche begründete Abschiebungshindernisse, die Ihnen - das setze ich voraus - alle bekannt sind. Pauschale Abschiebungsdrohungen heizen meiner Meinung nach die Stimmung an und führen zum Generalverdacht gegen alle Muslime.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Besonnenheit und Abwägung bleiben immer dort auf der Strecke, wo die SPD hier in Niedersachsen in den letzten Wochen konkret gehandelt hat. Die Rasterfahndung ist ein schwer wiegender Eingriff in Bürgerrechte. Die SPD-Fraktion hat sich in der Beratung im Innen- und im Rechtsausschuss jeder inhaltlichen Debatte verweigert. Die Vorgabe war klar: Der Ministerpräsident wollte die Übernahme der bayerischen Regelungen. Eine Begründung oder Diskussion wurde abgelehnt. Sie setzen die Rasterfahndung eben nicht zielgerichtet gegen terroristische Straftaten ein, sondern wollen sie zukünftig im Ermessen der Polizei bei allen möglichen Straftaten einsetzen. Wir dagegen haben uns für die richterliche Anordnung, die Beschränkung auf schwere Gewalttaten und die zeitliche Begren

zung der Rasterfahndung eingesetzt. Unter diesen Voraussetzungen hätten wir ihr auch zugestimmt. Ihre aus Bayern stammenden Regelungen lehnen wir jedoch ab. Für die Bedenkenlosigkeit, die Sie, Herr Plaue, in Ihrer Rede zu dieser schwierigen Sache an den Tag gelegt haben, schämen sich heute schon angesehene Bürgerrechtler Ihrer Partei.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Doch Ihr Innenminister Heiner Bartling setzt noch einen drauf. Er fordert die Universitäten auf, Daten über Studenten ohne gesicherte Rechtsgrundlage herauszugeben, und schürt damit auch an dieser Stelle einen Generalverdacht gegen Muslime.

Meine Damen und Herren, die vorbehaltlose Unterstützung für Innenminister Schily, die hier heute offenbar geworden ist, teilen wir nicht. In der Debatte um das Sicherheitspaket II darf und wird sich Otto Schily nicht durchsetzen. Selbst das Bundesjustizministerium hat in einer 30 Seiten langen Stellungnahme umfassende Bedenken geltend gemacht. Ich glaube, dass wir in der Sicherheitspolitik keine blinde Große Koalition brauchen, sondern eine Balance zwischen der Verteidigung unserer demokratischen Grundwerte und der Gewährleistung unserer inneren Sicherheit.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In diesem Zusammenhang macht uns große Sorge die Diskussion um das Einwanderungsgesetz. Stimmen aus meiner Partei, den Kirchen und den Flüchtlingsverbänden, die fordern, dass das derzeitige politische Klima nicht missbraucht werden darf, um ein ungerechtes Einwanderungsgesetz zu verabschieden und die Standards für Flüchtlinge und Asylbewerber zu verschlechtern, finden bei Herrn Schily bisher kein Gehör. Zunächst hatte ich den Slogan im Stern für einen Polit-Scherz gehalten: „Schröders Motto – mein Schill heißt Otto“ hieß es dort nach der Hamburg-Wahl. Inzwischen nehme ich diese SPD-Strategie bitter ernst.

Maßnahmen gegen den Terror: Ja. Aber sie dürfen nicht auf dem Rücken von wirklich schutzbedürftigen Flüchtlingen und Ausländern ausgetragen werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Unter diesem Aspekt gibt es am Einwanderungsgesetz viel Kritik. Otto Schilys Entwurf würde zu einem Zweiklassensystem führen. Auf der einen

Seite stünde die unerwünschte zweitklassige, mit schwachen Aufenthaltsrechten versehene Mehrheit der Migranten. Auf der anderen Seite eine erwünschte Minderheit von hoch qualifizierten und wohlhabenden Wirtschaftszuwanderinnen und -zuwanderern.

Die im Schily-Entwurf vorgesehene Herabsetzung des Alters für den Kindernachzug auf zwölf Jahre greift in das Recht von Familien ein und komplettiert das Zweiklassensystem. Kinder von Spitzenkräften dürfen bis zum 18. Lebensjahr kommen, während sonst nur ein Anspruch bis zum 12. Lebensjahr besteht. Das diskriminiert Migranteneltern und -kinder. Außerdem wirft das ein hartes Licht auf den sehr willkürlichen Umgang mit der Bedeutung von Familie durch die Politik in der Bundesrepublik.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nicht geregelt wäre nach dem Entwurf von Otto Schily weiterhin die Aufnahme von Opfern nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung. Herr Plaue - er ist jetzt nicht mehr da -,

(Zurufe von der SPD: Doch! Hier!)

dies beträfe gerade auch verfolgte Frauen aus Afghanistan. Der Schutz für diese Opfer muss bei uns gesetzlich geregelt werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Duldung soll es nach dem Entwurf in Zukunft nicht mehr geben. Wir fordern, dass für die vielen Menschen, die auf dieser Grundlage seit langer Zeit bei uns in Deutschland leben, eindeutige Rechtspositionen geschaffen werden. Bisher schien es dazu viel mehr Einigkeit mit der SPD zu geben.

Meine Damen und Herren, das waren nur einige wenige Beispiele, die zeigen, dass die Bundesrepublik derzeit Gefahr läuft, den Status von Flüchtlingen gravierend zu verschlechtern. Unser Land bliebe damit weit hinter europäischen Standards, völkerrechtlichen Normen und Konventionen zurück. Die behaupteten Verbesserungen im Bereich der Einwanderung wiegen das nicht auf, zumal sie den besonders Schutzbedürftigen überhaupt keine Vorteile bringen.

Herr Ministerpräsident, Sie haben vorhin Bischof Homeyer zitiert und mit diesem Zitat an die international agierende Wirtschaft appelliert: Nicht mehr Reichtum, sondern mehr Gerechtigkeit müsse das Ziel der Globalisierung sein. Mehr Gerechtig

keit muss aber auch das Ziel unserer Ausländerpolitik sein. Sie, Herr Gabriel, sollten in Berlin so schnell wie möglich ganz im Sinne des Bischofs und vieler engagierter Christinnen und Christen für eine Kurskorrektur von Herrn Schily intervenieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Auch die Atompolitik haben Sie heute Morgen gestreift. Vorsichtig greifen Sie die Bewertungen der Reaktorsicherheitskommission auf, deren Vorsitzender Lothar Hahn in den letzten Wochen mehrfach erklärt hat, dass auch die jüngeren Reaktoren den Absturz eines großen Passagierflugzeuges nicht ohne katastrophale Folgen überstehen würden. Sie, Herr Ministerpräsident, geben zu, noch keine Antworten für eine Optimierung der Sicherheit zu haben. Machen wir uns nichts vor: Große Luftkorridore und militärische Flugabwehr erscheinen mir schon für ein größeres und eher dünn besiedeltes Land wie Frankreich ein wenig abenteuerlich. Für die kleinere und dichter besiedelte Bundesrepublik erscheinen sie mir jedoch völlig ungeeignet. An das wirksame technische Nachrüsten mag ich nicht glauben. Das Geld wäre in effizienten neuen Kraftwerken und neuen Energien tatsächlich besser angelegt.

Sie verweisen auf Robert Jungk. Der hat uns schon vor mehr als 25 Jahren den Verzicht auf Atomenergie als einzig sichere Lösung empfohlen. Meiner Meinung nach ist angesichts des Eingeständnisses, dass Sicherheit bei terroristischer Bedrohung nicht gewährleistet werden kann, ein schnelleres Abschalten tatsächlich die einzig richtige Antwort. Ich werde dieses Problem in der Aktuellen Stunde vertiefen.

Ich möchte an dieser Stelle aber noch ein Wort zum Gorleben-Transport sagen. Die Gewerkschaft der Polizei hat zuerst die Absage des Transports gefordert. Zwei Gorleben-Transporte in einem Jahr sind für die Polizei nach Meinung der Gewerkschaft ohnehin zu viel. Erst recht - so sagt Herr Witthaut - unter den aktuellen Bedingungen und unter den neuen Anforderungen an die Polizei.

Ich unterstütze ausdrücklich diese Einschätzung der Polizei. Ich sehe mich hier in großer Einigkeit mit fast allen Politikern des Kreistages LüchowDannenberg, der in seiner letzten Sitzung die Absage des Transports gefordert hat.