Protokoll der Sitzung vom 06.03.2007

Meine Damen und Herren, es gibt aber noch einen Anspruch, dem wir alle uns politisch zu stellen haben. Auch im Niedriglohnbereich muss - auch in Verbindung mit neuen Konzepten, ähnlich wie im Kombilohnbereich - eine angemessene Einkommenssituation erreicht werden, sodass auch junge Menschen mit einer geringeren beruflichen Qualifikation ein Gefühl der Sicherheit und den Mut haben können, eine Familie zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen. Das erreichen wir nicht mit politischen Kampfparolen und der ideologischen Brechstange, sondern mit Augenmaß und Vernunft. Ich hoffe, dass das, was der Vizekanzler gestern Abend gesagt hat, nämlich „Wir kriegen das hin“, in diesem Jahr mit einem klugen Kompromiss Realität werden kann. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herzlichen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Herr Kollege Hagenah das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ja ganz interessant, quasi beim Koalitionsausschuss der Großen Koalition dabei sein zu können, wenn die Argumente hier ausgetauscht werden. Ungefähr so muss es gestern Abend auch zugegangen sein.

Herr Dinkla, wir müssen möglichst schnell eine Lösung finden. Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten, die in Deutschland zu niedrigen Armutslöhnen beschäftigt sind, steigt leider. 560 000 Menschen

sind inzwischen trotz einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen - mit steigender Tendenz. Deswegen besteht Handlungsdruck für die Regierenden im Bund.

Der Mindestlohn ist dabei nur ein Baustein, der nötig ist, der aber in ein kluges Gesamtkonzept eingebaut werden muss. Dabei kann man sich vielleicht auch näherkommen. Ich habe sehr wohl die zarten Zugeständnisse in Ihrem Beitrag verstanden. Deswegen kommt auch von mir ein konstruktiver Beitrag. Verbindliche Mindestarbeitsbedingungen müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer davor schützen, ausgebeutet zu werden - dabei sind wir uns einig - und trotz Arbeit arm zu sein. Neue Regelungen für Mindestarbeitsbedingungen müssen möglichst bald kommen, um die Lohnspirale nach unten zu stoppen - da hat Herr Lenz absolut recht; wir müssen schnell handeln -; sie dürfen aber nicht als Ersatz für Tarif-, Gleichstellungs- oder Verteilungspolitik missbraucht werden. Ein Mindestlohn soll nur die Wirkungen der Marktmechanismen nach unten begrenzen, sie aber nicht grundsätzlich außer Kraft setzen.

Deswegen, Herr Dinkla: Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn ist für die Sicherstellung von Mindestarbeitsbedingungen ungeeignet. Das ist also überhaupt kein Feindbild, gegen das es sich zu kämpfen lohnt. Dafür setzen wir uns auch gar nicht ein und die SPD-Fraktion - wenn ich sie richtig verstehe - auch nicht. Aufgrund seiner Inflexibilität führt ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn zu Arbeitsplatzverlusten - da sind wir uns einig -, Schwarzarbeit und Firmenaufgaben, während eine branchen- und regionalspezifische Ausgestaltung des Mindestlohnes die Beschäftigten vor Ausbeutung schützen und zugleich Arbeitsplätze sichern kann.

(Zustimmung von Wolfgang Hermann [FDP])

Diese Differenzierung sollten auch die Kritiker von Mindestlöhnen bei ihren Argumentationen endlich berücksichtigen.

Es wäre außerdem seriöser, wenn Sie die Frage mit beantworten würden, warum die bei uns vorhandenen Mindestlöhne, die in bestimmten Branchen ja schon funktionieren, nicht zu den von Ihnen immer dargestellten Schreckensszenarien füh

ren. Zum Beispiel im Baubereich funktioniert das Ganze ja schon.

Meine Damen und Herren, folgende drei Maßnahmen muss ein Gesetzespaket zur Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen unserer Meinung nach umfassen:

Erstens. Der Anwendungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes muss auf alle Branchen ausgeweitet werden.

Zweitens. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung muss so reformiert werden, dass branchenbezogene Mindestlöhne nicht mehr dem Veto branchenübergreifender Arbeitgeberverbände unterliegen und die Tarifvertragsparteien der Branche so umfassende Verantwortung für ihre Branche übernehmen können. Ich glaube, das ist auch unstrittig.

Drittens. Eine gesetzliche Regelung muss rechtlich verbindliche Mindestlöhne und Mindestarbeitsbedingungen unter Beteiligung der Sozialpartner und der Wissenschaft in jenen Branchen ermöglichen, in denen eigene Tarifstrukturen nicht vorhanden sind. Deswegen haben wir ja einen so hohen Anteil an nicht tariflich gebundenen Arbeitsverhältnissen bei uns, Herr Dinkla. Mit dem Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen von 1952 - meines Wissens hat damals schon die CDU regiert - existiert nämlich grundsätzlich schon ein Instrumentarium zu dieser gesetzlichen Festlegung. Unsere Vorväter und -mütter haben hier also mit Mindestarbeitsbedingungen für jene Branchen vorausgedacht, die nicht organisiert sind. Aufgrund der hohen Verfahrenshürden wurde dies bisher nicht angewandt. Das könnte man aber durchaus machen. Die Große Koalition hat die entsprechende Mehrheit im Bund. Entweder durch eine Reform des Gesetzes von 1952 oder durch einen neuen gesetzlichen Rahmen müssen die Festsetzung und die regelmäßige Überprüfung und Anpassung von branchen- und regionalspezifischen Mindestlöhnen gewährleistet sein, auch damit das Ganze nicht dadurch kontraproduktiv wird, dass man an der falschen Stelle die Hürde einzieht.

Meines Erachtens können wir uns bei dem, was wir hier tun, nicht allein auf Mindestlöhne beschränken. Neben den Mindestlöhnen müssen wir dringend auch für mehr Arbeit im unteren Lohnsegment sorgen. In diesem Zusammenhang kann ich nur an das erinnern, was ich vorhin schon bei der Aktuellen Stunde deutlich gemacht habe: Die Große Koalition hat es auch in der Hand, hier

durch eine entsprechende steuerliche Regelung tatsächlich Arbeit in unteren Einkommensgruppen günstiger zu machen und an dieser Stelle auch mit steuerlichen Subventionen einzutreten.

Das muss unbedingt parallel zu Mindestlöhnen passieren, damit Arbeit im unteren Einkommenssegment wieder ein auskömmliches Leben ermöglicht. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Danke schön. - Für die FDP-Fraktion hat Herr Kollege Hermann das Wort.

Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Wenn die gleichen Leute, die sonst immer amerikanische oder angelsächsische Verhältnisse mit dem Ende des Sozialstaates gleichsetzen, plötzlich genau diese Verhältnisse als leuchtende Vorbilder anführen, nur weil es dort Mindestlöhne gibt, werde ich doch etwas misstrauisch.

(Christian Dürr [FDP]: Zu Recht!)

Um es gleich vorweg zu sagen: In der heutigen Zeit braucht der deutsche Arbeitsmarkt keine Mindestlöhne. Die Argumente, die für einen Mindestlohn sprechen, sind meistens schwach - besonders diejenigen Argumente, die in diesem Antrag genannt werden.

Interessant ist schon die erste Feststellung in diesem Antrag, dass niedrige Löhne nichts mit einem Lohnwettbewerb mit dem Ausland zu tun hätten. Diese Feststellung freut mich natürlich. Dann frage ich mich aber, warum Sie nicht einmal Arbeitnehmer aus den neuen EU-Mitgliedstaaten zu uns lassen wollen.

Im nächsten Punkt machen Sie eine weitere sehr wichtige Feststellung, Herr Lenz. Sie schreiben nämlich, der Druck auf die Löhne habe seine Ursache in der hohen Arbeitslosigkeit. Auch das ist vollkommen richtig. Ihr Antrag führt aber in die falsche Richtung. Sie bekämpfen nicht die Ursache, also die Arbeitslosigkeit, sondern die Symptome in Form niedriger Löhne. Sie verhalten sich wie ein Arzt, der die richtige Diagnose stellt, aber, statt eine Behandlung vorzunehmen, nur Schmerzmittel verschreibt, um den Patienten ru

higzustellen. Bei Ihnen, Herr Lenz, möchte ich kein Patient sein.

(Beifall bei der FDP)

Bisher haben die Tarifpartner verlässlich dafür gesorgt, dass in den Tarifverträgen vernünftige Löhne stehen. Doch heute scheinen die Gewerkschaften sich selbst nicht mehr zu trauen. Wie sonst ist es zu erklären, dass der DGB einen Mindestlohn fordert, der über seinen eigenen Tarifabschlüssen liegt? Niedrige Löhne aushandeln und dann nach dem Gesetzgeber rufen - genau das ist der Weg, den wir nicht wollen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ein Mindestlohn von 7,50 Euro würde in den neuen Bundesländern 22 % und in den alten Bundesländern 8,6 % der Arbeitnehmer erfassen - und damit den Staat zum Tarifpartner machen, meine Damen und Herren. Genau das ist nicht gewollt. So beerdigt man die Tarifautonomie.

(Christa Elsner-Solar [SPD]: Keine Krokodilstränen, bitte!)

Ich gebe zu, dass es Länder gibt, in denen Mindestlöhne funktionieren. Dort finden wir Mindestlöhne aber immer in Kombination mit flexiblen Arbeitsmärkten und guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Dadurch werden die negativen Auswirkungen der Mindestlöhne überkompensiert.

Was aber passiert, wenn Sie einen strengen Kündigungsschutz mit hohen Mindestlöhnen kombinieren, sehen Sie in Frankreich, meine Damen und Herren. Wer dort Arbeit hat, ist gut dran. Wer aber Arbeit sucht und nicht die nötige Qualifikation aufweist, hat Probleme. Es ist daher keine Überraschung, dass in Frankreich die Jugendarbeitslosigkeit 23 % beträgt. In Gesamtdeutschland liegt sie übrigens bei 9,4 %. In den Vorstädten - also dort, wo insbesondere die Migranten leben - beträgt sie bei uns 22 % und in Frankreich sogar 36 %. Die gewaltsamen Proteste dort hängen also nicht zuletzt mit der Abschottung des französischen Arbeitsmarktes zusammen. Solche Zustände wollen wir in Deutschland nicht.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Schauen wir lieber zu den Ländern, die Sie sonst immer als leuchtende Beispiele für gute Politik nehmen. In Skandinavien sind Mindestlöhne unbekannt. Dort weiß man kaum, wie man dieses Wort schreibt. Dafür liegt die Arbeitslosigkeit z. B. in Dänemark bei nur 3,5 %.

Setzen wir also auf flexible Arbeitsmärkte und eine gute soziale Absicherung! - Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Herzlichen Dank. - Für die Landesregierung hat Herr Minister Hirche das Wort. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will es klipp und klar sagen: Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktoin führt tarifpolitisch und tarifrechtlich in die Irre. Sie tun so, als gehe es Ihnen um eine tarifvertragliche Lösung für den Niedriglohnsektor. In Wirklichkeit reden Sie einer flächendeckenden Einführung von Mindestlöhnen das Wort.

Erstens. Sie fordern die Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf eine ganze Reihe von weiteren Branchen - auf die Zeitarbeit, den Einzelhandel, die Gastronomie und das Bewachungsgewerbe -, ohne dass eine dem Baugewerbe vergleichbare Situation tatsächlich nachgewiesen wäre. Man muss die Frage beantworten - das haben wir für das Baugewerbe getan -, ob es in den genannten Branchen ohne Mindestlöhne tatsächlich zu sozialen Verwerfungen käme. Meine Damen und Herren, es ist und bleibt Gewerkschaftsaufgabe, im Zusammenhang mit Tarifverträgen Löhne zu fixieren. Dann gibt es im politischen Prozess die Möglichkeit, Allgemeinverbindlichkeit zu erklären.

Zweitens. Sie fordern, die Voraussetzungen, Tarifverträge für allgemein verbindlich zu erklären, zu senken, und wollen die Ausnahme zur Regel machen. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes wäre dann nicht mehr ein auf Antrag von Arbeitgebern und Arbeitnehmern allgemein verbindlich erklärter Tarifvertrag, sondern allein der Antrag einer Tarifpartei. Ihr Antrag würde diese tarifpolitisch, aber auch tarifrechtlich sehr problematische Entwicklung noch

fördern. Meine Damen und Herren, das sind in Wahrheit Staatseingriffe zur Aushöhlung der Tarifautonomie.

Drittens. Sie wollen eine neue Niedriglohnkommission einrichten, paritätisch besetzt mit Arbeitgebern, Arbeitnehmern und - neu - der Wissenschaft, die dort, wo es keine tariffähigen Sozialpartner mehr gibt, verbindlich Mindestlöhne vorschlägt. Meine Damen und Herren, das nenne ich Einführung von flächendeckenden Mindestlöhnen durch die Hintertür. So etwas ist mit dieser Landesregierung nicht zu machen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Flächendeckende tarifliche Mindestlöhne haben beschäftigungspolitisch fatale Folgen. Gerade gering qualifizierte langzeitarbeitslose Menschen finden oft nur über den Niedriglohnsektor Zugang zum Arbeitsmarkt. Der Kollege Hermann hat das soeben am Beispiel Frankreichs deutlich gemacht, wo wir die Negativwirkung besonders gut beobachten können. Wenn wir Arbeitsplätze zu einem niedrigeren Lohn verbieten, schaden wir damit vor allem den Schwächsten. Der Mindestlohn raubt ihnen die Chance, auf dem Arbeitsmarkt überhaupt Fuß zu fassen. Tarifautonomie heißt aber auch Tarifverantwortung. Auch hätten die bereits im Dienstleistungsbereich zu häufig sehr niedrigen Löhnen Beschäftigten keine Vorteile durch einen verordneten Mindestlohn. Gerade kleinere Betriebe und Unternehmen insbesondere in den neuen Ländern könnten höhere Löhne einfach nicht bezahlen. Eine Weiterreichung der dadurch entstehenden Kosten an den Kunden scheidet ebenfalls aus, da eine immer noch schwache Binnennachfrage dadurch weiter zurückgehen würde.

Es ist natürlich klar, dass bei Einführung eines Mindestlohns niemand z. B. nach Polen zum Friseur fahren würde. Die Kunden gehen stattdessen zum befreundeten Friseur nach nebenan, der die Leistung schwarz anbietet. Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit sind die Kehrseite von Mindestlöhnen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Meine Damen und Herren, es kann nicht unser Ziel sein, diese Entwicklung noch zu verstärken. Ihr Antrag bewirkt bei allem guten Willen, den Sie haben, mehr Arbeitslosigkeit gerade dort, wo wir die größten Probleme haben, Menschen in Arbeit zu bringen. Ich meine, dass wir in Berlin die Instrumente haben, die wir benötigen, und ich hoffe