Protokoll der Sitzung vom 05.03.2003

Die Online-Redaktion der HAZ hat es deutlich formuliert:

„Wo allerdings genau gespart werden und vor allem wem dabei wehgetan

werden soll, haben die Koalitionsvereinbarung von CDU und FDP und auch Herr Wulff vor dem Landtag offen gelassen.“

Diese Fragen, Herr Wulff, hätten Sie gestern der Öffentlichkeit und dem Landtag zumindest andeutungsweise beantworten müssen. Aber von mir aus machen Sie es in 99 Tagen. Wir wollen gern so lange warten, aber spätestens dann ist es soweit.

Wer einen echten Aufbruch will, wer das Land von seiner erdrückenden Schuldenlast befreien will, der darf es nicht bei der Ankündigung belassen, bis 2007 rund 6 000 Stellen einzusparen, zumal bis dahin durch die bereits von der SPDLandesregierung gefassten Beschlüsse 6 000 Stellen wegfallen werden. Sie können ja einmal Herrn Meyerding nach den kw-Vermerken fragen, die im Haushalt stehen. Danach fallen bis zu diesem Zeitpunkt schon 6 000 Stellen weg. Übrigens, wie ist eigentlich Ihre Ankündigung gemeint, noch einmal 6 000 Stellen zu streichen? Ist das brutto oder netto? Denn bei Lehrkräften und Polizei wollen Sie ja, wie wir es auch getan haben, gleich 3 500 Stellen mehr schaffen. Wir haben Ihre Ankündigung so verstanden, dass die von uns beschlossenen 6 000 Stellenstreichungen von Ihnen durchgezogen werden. Das müsste ja zu Ihrer Eröffnungsbilanz gehören. Wenn Sie dann noch einmal 6 000 Stellen streichen wollen, reden wir also über 12 000. Alles andere wäre doch eine Mogelpackung, nicht?

(Zustimmung bei der SPD)

Wir wollen doch ehrlich in die neue Zeit gehen. Wir wollen der Schuldenfalle entgehen, aber dann müssen wir Mut zu wirklich weitergehenden Entscheidungen haben. Ich nenne Ihnen ein paar, bei denen wir zur Debatte und sicherlich auch zur Entscheidung bereit sind:

Berufsbeamtentum: Wir müssen ran an die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums in der Verfassung. Das geht nicht anders.

(Zustimmung bei der SPD)

Denken Sie nur an das verheerende Urteil zur Teilzeitbeamtenschaft in der damaligen Situation, als wir jungen Lehrerinnen und Lehrern Arbeit beschaffen wollten. Wenn Sie das deutsche Tarifrecht und den Arbeitsmarkt flexibilisieren wollen, warum sagen Sie dann eigentlich kein Wort zum Berufsbeamtentum? Das hat mich wirklich gewun

dert. Da ist eine Aufgabe, die sich wirklich lohnen würde.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Pensionsfalle: Wer aus ihr heraus will, der wird wohl über die Versorgungsbezüge und vor allem über das 13. Monatsgehalt reden müssen. Das gibt es nämlich bei Arbeitern und Angestellten nicht. Für Aktive wie für Pensionäre wird gelten, dass wir um Folgendes nicht herumkommen werden: Wir müssen die niedrigen und die mittleren Einkommen stärken, da darf nicht gestrichen werden, aber bei den oberen Einkommensgruppen werden wir über Versorgung und Pension sowie über die 13. Monatsgehälter sprechen müssen, meine Damen und Herren. Dazu haben wir den Mut.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Staatliche Transferzahlungen: Wir geben aus Steuergeldern Hilfen an Menschen, die es wirklich nicht nötig haben. Ich sage es noch einmal: Ich begreife nicht, warum ein neu ins Amt gewählter Ministerpräsident und ein zurückgetretener Ministerpräsident Kindergeld bekommen. Ich verstehe es nicht. Ich weiß auch, dass das Bundesverfassungsgericht sagt, wir müssten alle gleich behandeln. Verdammt noch mal, wir gehen doch sonst bei vielen überflüssigen Fällen an die Verfassung; dann lassen Sie uns doch mal dafür sorgen, dass ein paar Menschen in diesem Land kein Kindergeld mehr bekommen und dafür vielleicht ein paar andere, die es nötiger haben, mehr. An solche Themen müssen wir heran, meine Damen und Herren!

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Und wir müssen Subventionsabbau betreiben. Aber da darf Ihnen nicht immer nur der Bergbau einfallen, da werden die Subventionen nämlich abgebaut. Es kann doch nicht sein, dass Ihre moderne Landwirtschaftspolitik darauf setzt, dass weiterhin 50 % des EU-Haushalts für Subventionen im Agrarbereich gezahlt werden. Das kann doch nicht wahr sein!

(Zustimmung bei der SPD)

Da werden wir doch wohl etwas machen müssen. Oder endet bei Ihnen der Mut in der Politik, wenn es um Ihre eigene Klientel geht?

Herr Ministerpräsident, so müssen Aufbrüche aussehen, wenn verkrustete Strukturen wirklich aufgebrochen werden sollen. Die Wahrheit darf man eben nicht scheuen, wenn man Neues wagen will. Stattdessen gab es gestern Allgemeinplätze, die wir tausendmal gehört haben, auch in Reden aus unseren Reihen. Als ich mich auf Ihre Rede vorbereitet habe, dachte ich wirklich: Na, der hat eine satte Mehrheit, der hat fünf Jahre Zeit, der wird Mut haben und etwas Neues anfangen. Aber stattdessen war es - das muss ich sagen - eher eine brave Oppositionsrede. Ich habe nur eine Erklärung dafür: Sie waren von Ihrem Wahlsieg genauso überrascht wie wir.

(Heiterkeit bei der CDU)

Sonst hätten Sie doch wenigstens an ein paar Stellen konkreter werden müssen, außer von uns die Regierungspolitik abzuschreiben. Kommen Sie doch nicht mit der Ausrede: Wir machen eine Regierungserklärung aus der Opposition heraus. Ein paar von Ihnen sind zwar erst einen Tag hier im Landtag, aber alle anderen haben doch permanent behauptet, sie wüssten, wo es lang geht im Lande, und haben doch ständig alles Mögliche aufgeschrieben.

(Zustimmung bei der SPD)

Ob Globalisierungsprozess, demografischer Wandel und wachsende Integrationsprobleme in den Städten und Gemeinden und auch in unseren Bildungseinrichtungen, ungebremst steigende Sozialhilfelasten in den Kommunen oder der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft - keines dieser Themen findet sich in Ihrer Regierungserklärung und in der Koalitionsvereinbarung. Aber noch gravierender ist: Sie haben auf all diese Phänomene, die auch in Niedersachsen längst Wirklichkeit sind, nicht nur keine Antworten gefunden, Sie machen sich nicht einmal die Mühe, sie zu suchen.

Das Gleiche gilt für die Regierungserklärung. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes von gestern. Von einer modernen Analyse gegenwärtiger Entwicklung nicht die Spur. Statt Komplexität Plattitüden, statt Modernität Vergangenheitsbewältigung und statt Erkenntnisgewinn Ideenarmut. Einen Aufbruch in eine neue Zeit kann nur der darin erkennen, der fest im letzten Jahrhundert steht. Sie haben offenbar nicht nur personell Anleihen in der Albrecht-Ära genommen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich will das an ein paar zentralen Feldern der Landespolitik deutlich machen. Fangen wir bei Wirtschaft und Arbeit an, dem Kapitel mit vagen Absichtserklärungen oder konkreten Maßnahmen, die Sie bei uns abgeschrieben haben. Ich würde gern dazu ein paar Punkte ansprechen.

Natürlich - wie war das anders zu erwarten - werden Sie als Erstes das Landesvergabegesetz befristen und wollen es nach ein paar Jahren wieder aufheben. Dreister kann man die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die anständigen Handwerker der Bauwirtschaft in Niedersachsen wirklich nicht hinters Licht führen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Erst schreiben Sie Briefe und sagen, Sie würden dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zustimmen, dann stimmen Sie im Landtag dagegen. Das war die Wahllüge Nr. 1. Kommen Sie nicht mit der Behauptung, Sie hätten das nur deshalb gemacht, weil der Gesetzentwurf in den Ausschussberatungen so stark verändert und der ÖPNV mit aufgenommen worden sei. Der ÖPNV stand zum Zeitpunkt Ihres Briefes schon im Gesetzentwurf. Dann haben Sie noch einmal erklärt, der ÖPNV solle aus dem Gesetz wieder entfernt werden. Dafür werden sich hoffentlich die ver.di-Funktionäre, auf die Sie im Wahlkampf so stolz waren, herzlich bedanken. Ich jedenfalls kann keinen Unterschied erkennen zwischen einem Bauarbeiter und einem Busfahrer, deren Arbeitsplätze durch Lohndumping und Schwarzarbeit aus Osteuropa bedroht werden. Wir wollen beide schützen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Und nun verkünden Sie noch, dass Sie das ganze Gesetz nach spätestens fünf Jahren auffliegen lassen wollen. Das ist dann Wahllüge Nr. 2.

Übrigens waren Sie in Ihrem Regierungsprogramm, Herr Ministerpräsident, sogar noch konkreter. Da hieß es, zwar gebe es genügend Nachfrage nach Arbeit, aber leider nicht zu dem Preis, zu dem viele Tätigkeiten angeboten würden. Darüber muss man auch genau nachdenken. Das soll wohl heißen: Zwar gibt es genügend Arbeit, aber leider wollen viele Menschen davon auch noch leben. Der berühmte niedersächsische Schriftsteller Walter Kempowski hat den Roman „Tadellöser & Wolff“ geschrieben. Bei Ihnen geht es in Zukunft wohl eher um den neuen Arbeitstitel „Tagelöhner

und Wulff“. Das kann nicht das Ziel von Landespolitik sein.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wer das für übertrieben hält, dem sei ein Blick in die Bild-Zeitung von vorgestern empfohlen. Dort ruft der neue Ministerpräsident zum Kampf gegen Sozialschmarotzer auf. Damit sind übrigens nicht die ehrenwerten Mitglieder unserer Gesellschaft gemeint, also z. B. Ärzte, die Krankenkassenleistungen noch bei schon Verstorbenen abrechnen, oder Steuerhinterzieher, die ihr Schwarzgeld ins Ausland schaffen, sondern einzig und allein Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger.

Damit Sie uns richtig verstehen: Wir wollen auch, dass Sozialhilfemissbrauch bei Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen und BAföG-Empfängern hart bekämpft wird. Wir haben das übrigens in einem Programm im Jugendarbeitslosigkeitsbereich bereits in die Tat umgesetzt. Aber wir werden nicht dulden, dass Sie einen nach meinem Eindruck viel dramatischeren Sozialmissbrauch immer ausblenden. Sozialmissbrauch ist nämlich auch, wenn man in diesem Land gut lebt, seine Kinder kostenlos auf die Schule schickt, in aus Steuergeldern hoch subventionierte Theater geht, aber nicht bereit ist, im Rahmen der Gesetze und seiner Leistungsfähigkeit Steuern zu zahlen. Das ist auch Sozialmissbrauch, meine Damen und Herren!

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Für Sie ist das wahrscheinlich ein Kavaliersdelikt. Ich glaube, Ihnen geht es einzig und allein darum, Sündenböcke zu finden, damit Sie nicht klar machen müssen, wo denn eigentlich Ihre Ansätze zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind. Sie brauchen Sündenböcke!

Ich bin sehr für Gerechtigkeit. Ich bin sehr für Leistung. Ich bin dagegen, dass sich Leute soziale Leistungen erschleichen. Aber ich bin auch dagegen, dass es als Kavaliersdelikt gilt, wenn man Geld ins Ausland schafft und man dann auch noch stolz darauf ist, dass man den Staat ordentlich beschissen hat. Das ist nicht unsere Politik, meine Damen und Herren! Dabei machen wir nicht mit!

(Beifall bei der SPD)

Wie sehr Sie nur auf Ablenkung abzielen, wird bei einem Thema deutlich, bei dem ich nun wirklich

nicht gedacht habe, dass dies möglich ist. Dem Thema der Jugendarbeitslosigkeit und deren Bekämpfung widmen Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung nur eine einzige müde Zeile.

Herr Ministerpräsident, Sie hatten im Wahlkampf erklärt: Jugendarbeitslosigkeit wird bei mir Chefsache. – Ich vermute, das war als Drohung gemeint.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie nicht jeden Tag – wirklich jeden Tag – an diesem Thema dran sind, werden Sie sehr schnell feststellen, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Niedersachsen wieder schnell steigt und wir bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit und der Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland nicht mehr auf Platz 1 stehen werden.

Meine Damen und Herren, der zweite Bereich ist Bildung und Wissenschaft. Hier können Sie sich auf manches verlassen, was wir schon getan haben: 90 000 Kindergartenplätze, massive Lehrereinstellungen mit 160 Millionen Euro mehr im Landeshaushalt, die Verlässliche Grundschule, die Sie jahrelang bekämpft und die Sie gestern unter einem neuen Namen für ganz Niedersachsen gefordert haben. – Nichts gegen Lernzuwachs.

(Zuruf von der CDU)

- Wenn das falsch sein sollte, sind wir alle sehr gespannt darauf, was Sie anders machen wollen. Wir werden schauen, ob Sie das unterstützen. Ganztagsschulen, die Stärkung der Selbständigkeit von Schulen, die Schaffung des modernsten Hochschulrechts in Deutschland – das war und ist moderne Landespolitik auf der Höhe der Zeit und war immer orientiert an den Bedürfnissen der Menschen bei uns in Niedersachsen.

Von diesem modernen Zuschnitt der Landespolitik findet sich in Ihrer Koalitionsvereinbarung und auch in Ihrer Regierungserklärung nichts mehr. Keine Antwort auf die Frage, wie die niedersächsische Wirtschaft in zehn Jahren einen Anteil an Hochschul- und Berufsakademieabsolventen von 30 bis 40 % einstellen soll. Wie beantworten Sie das? - Sie sind selig über das bayerische Schulmodell. Die haben eine Abiturquote von 18 %! Das ist nicht zukunftsfähig für die Wirtschaft hier in Niedersachsen!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)