Protokoll der Sitzung vom 19.02.2004

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit markigen, ja mit großspurigen Sprüchen hat der Kultusminister vor einem Jahr seine Schulpolitik charakterisiert. Von der umfassendsten Schulstrukturform in der Geschichte des Landes Niedersachsen seit 50 Jahren hat er geredet. Er glaubte, mit dieser Strukturreform Bildungsgeschichte schreiben zu können. Die Unterrichtsversorgung wollte er mit 2 500 neuen Lehrerstellen auf 100 % bringen.

(Zuruf von der CDU: Abwarten!)

Meine Damen und Herren, schon nach einem Jahr zeigen sich die ersten deutlichen Risse im Lack. Nach einer Umfrage von Infratest dimap hat die CDU in nur einem Jahr in Niedersachsen 5 Prozentpunkte an Zustimmung zu ihrer Schul- und Bildungspolitik verloren.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - La- chen bei der CDU)

Die große Zustimmung zu Ihrer - -

(Hans-Werner Schwarz [FDP]: Die FDP hat gewonnen!)

- Sie können das ja nachlesen.

(Hans-Werner Schwarz [FDP]: Das steht ja darin!)

Die große Zustimmung zu Ihrer Schulpolitik, auf die Sie sich immer so gerne vollmundig berufen, Herr Minister, bröckelt bereits deutlich. Das ist auch kein Wunder, wenn man eine Bilanz Ihrer Schulpolitik zieht.

Die beiden zentralen und einzigen eigenen Projekte - denn alles andere stammt ja von der Vorgänger-Regierung -, mit denen sich Herr Busemann hier so gerne als Kraftprotz und Herkules dargestellt hat, sind die Schulstrukturreform und die Einstellung von 2 500 Lehrkräften. Seine Strukturreform hat einen entscheidenden Vorteil: Sie beeindruckt durch ihre Schlichtheit ganz nach dem Motto: Was vor 50 Jahren einmal gut war, das muss für die Zukunft auch richtig sein.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Wi- derspruch bei der CDU - Ursula Ernst [CDU]: Legen Sie mal eine andere Platte auf!)

Spätestens nach den PISA-Ergebnissen, wenn die anderen europäischen Länder wieder gegenüber Niedersachsen weggezogen sind und auch noch vor den anderen Bundesländern liegen, werden wir sehen, dass das die falsche Schulpolitik ist, weil sie wieder Potenziale aussortiert, weil sie zu früh trennt. Sie werden große Schwierigkeiten bekommen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren von der CDU und von der FDP, Sie werden riesige Schwierigkeiten haben, diese antiquierte Schulpolitik noch weiter zu rechtfertigen. Die schwarz-gelbe Schulstrukturreform in Niedersachsen ist nicht modern, wie Herr Busemann immer gerne betont, und sie ist schon gar nicht zukunftsfähig. Sie ist einfach nur gegliedert, sonst nichts.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Auch mit dem zweiten großen Projekt, mit den 2 500 neuen Stellen, mit denen die Unterrichtsversorgung auf 100 % gebracht werden sollte, ist die Landesregierung schon jetzt am Scheitern. Ausgerechnet für den Unterrichtsversorgungserlass hat der Minister gleich zweimal das Veto des Landeselternrates kassiert. Wann kommt das schon mal vor? Sie berufen sich doch so gerne auf die große

Zustimmung dort. Der große, selbst inszenierte Jubel für den großen Kraftakt mit diesen neuen Stellen ist jetzt schon verebbt. Ihr Etikettenschwindel ist längst erkannt; denn es wird deutlich - das habe ich Ihnen schon einmal vorgerechnet -, dass Sie die 2 500 Stellen komplett verbrauchen - das rechnet Ihnen auch das MK vor -, um die Rückkehr zum sehr teuren gegliederten Schulsystem ab Klasse 5 finanzieren zu können.

Es ist ganz einfach: Vier Schulsysteme nebeneinander mit einer völlig aussortierten Sonderschule sind eben viel teurer als eine Schule für alle.

(Minister Walter Hirche: Die Einheits- schule ist das Teuerste, was es über- haupt gibt!)

Für eine tatsächliche Verbesserung der Schule, für Förderkonzepte, für den Ausbau zusätzlicher Ganztagsschulen bleibt dann natürlich nichts mehr übrig. Im Gegenteil, um auf Ihre statistisch gerne hochgerechneten 100 % Unterrichtsversorgung zu kommen, verschlechtern Sie die Bedingungen für alle Schulen dramatisch. Die Klassenfrequenzen werden in den Realschulen und den Gymnasien auf 32 Schüler angehoben. Das sind in der Tat bayerische Verhältnisse! Die Lehrerstunden für große Klassen werden gestrichen. Individuelle Förderung schreiben Sie zwar ins Schulgesetz, aber Sie setzen nicht eine einzige Stunde dafür ein und erhöhen die Klassenfrequenzen. Das Schlimmste ist: Die Lehrerstunden für Ganztagsschulen werden radikal gekürzt. So können Sie nur eine Nachmittagsaufbewahrung, eine Beaufsichtigung garantieren, aber kein vernünftiges pädagogisches Ganztagskonzept.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Meine Damen und Herren von der CDU und der FDP, der Unterrichtsversorgungserlass ist gekennzeichnet von dem ideologischen Eifer, mit dem die CDU die Gesamtschulen verfolgt. In der Summe mehr als 10 %, ja sogar bis zu 15 % Lehrerstunden werden den Gesamtschulen mit diesem Erlass gestrichen.

Mit der neuen Arbeitszeitverordnung, die die Landesregierung gerade ausarbeiten lässt, macht sie offenbar mit ihrem Gesamtschulhass noch weiter. Auch in der neuen Arbeitszeitverordnung sollen ganz überproportional Stunden bei den Gesamtschulen gestrichen werden. Etwa ein Drittel aller Stunden, die durch die Novelle der Arbeitszeitver

ordnung eingespart werden, wollen Sie allein rein bei den Kooperativen Gesamtschulen wegnehmen. In den Zeitungen können wir gerade lesen, dass die Anmeldezahlen für die Gesamtschulen steigen wie nie zuvor. Und Sie streichen und versuchen immer weiter, diese Schulart zu demontieren!

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Sie tun das, obwohl Sie genau wissen, dass viele Eltern eine gemeinsame Schule für ihre Kinder, eine Schule, die die Bildungswege lange offen hält, favorisieren und öfter wünschen als je zuvor. Aber darüber schweigt der Kultusminister lieber in seinen Presseerklärungen. Er lässt sich gerne breit aus über die Anmeldezahlen für das Gymnasium und zur Realschule. Aber darüber, was bei den Gesamtschulen los ist, hat sich in den Zeitungen nichts gefunden.

Ich meine, mit ihrer ideologischen Antigesamtschulpolitik gerät die Landesregierung immer mehr ins Abseits. Sie wird das nicht mehr lange durchhalten können. Statt sich am Elternwillen zu orientieren, wie Sie ja immer in der Gesetzesberatung gesagt haben, vollziehen Sie eine Schulstrukturänderung auf dem Rücken der Schulen und auf dem Rücken der Kinder.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Busemann versichert ein ums andere Mal ganz großspurig: „Wir trauen uns diesen Kraftakt zu, wir schaffen diesen Kraftakt.“ Wissen Sie denn, auf wessen Rücken Sie diesen Kraftakt schaffen wollen? - Das ist doch nicht das Kultusministerium oder der Minister, der diesen Kraftakt schafft, sondern das sind die Schulen und vor allem Kinder, auf deren Rücken Sie diese übereilte Schulstrukturreform durchziehen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Bernd Alt- husmann [CDU]: Wir geben den Kin- dern eine gute Zukunft, Frau Kolle- gin!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer Einblick in die 4. Klassen hat, konnte schon im laufenden letzten Schuljahr beobachten, wie sich in den Grundschulen das Klima verändert hat. Die Debatten um Trend und Empfehlung beginnen, alles zu überlagern. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass jetzt schon im Sortierungsdruck und Leistungsstreben „Wohin gehe ich mal, zu welcher Schulreform?“ die Lernfreude in den Grundschulen verloren geht.

(Zuruf von der CDU)

- Ich glaube, Sie haben dort noch nicht nachgefragt, oder Sie lesen nicht, was die Grundschulen Ihnen schreiben.

(Zuruf von der CDU: Oh doch! - Her- mann Eppers [CDU]: Wie viel Rede- zeit hat sie eigentlich noch?)

Meine Damen und Herren, im nächsten Schuljahr ist zu befürchten, dass die Kinder, die in die 5. und 6. Klasse kommen, in eine chaotische Situation geraten werden. Sie werden in Schulen kommen, deren Kollegien gerade zum großen Teil neu zusammengesetzt werden, die noch keine Zeit hatten, zusammenzufinden und gemeinsame Konzepte zu entwickeln.

(Wolfgang Ontijd [CDU]: Das ist im- mer so, wenn man neu beginnt!)

Sie werden gerade an Gymnasien zu großen Teilen auf Lehrkräfte stoßen, die nicht für diese Schulform ausgebildet sind. Sie werden in mindestens 170 Außenstellen, davon 130 an Gymnasien, unterrichtet werden. Diese Außenstellen liegen zum Teil kilometerweit von den Stammorten entfernt und sind ohne richtigen Kontakt zu einer Schule mit einem einheitlichen Konzept.

Herr Busemann, Sie setzen die Kinder einem Experiment aus, das in der Schulgeschichte Nachkriegsdeutschlands wohl einmalig ist.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Genau diese Kinder - wieso eigentlich genau nur diese Generation? - werden die Ersten sein, die nach Ihrem unbedingten Willen das Abitur nach der Klasse 12 machen sollen und auch damit noch belastet werden. Sie werden Stundentafeln mit 33 Stunden, ab Klasse 9 mit 34 oder 35 Stunden bekommen. Dazu werden sie noch Hausaufgaben machen müssen. Mindestens eine Stunde am Tag ist dafür eher zu niedrig angesetzt. Das heißt, ab Klasse 9 beträgt die Arbeitszeit 40 Wochenstunden und mehr. Das ist zum Teil länger als die Arbeitszeit berufstätiger Eltern.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Ursula Körtner [CDU]: Die ar- beitenden Eltern haben zwischen- durch keinen Sport oder keine Musik!)

- Frau Körtner, Sie können das gleich gerne aus Ihrer Sicht bewerten! - Das alles geschieht ohne

Vorbereitungszeit für die Schulen, ohne Zeit, pädagogische Konzepte zu entwickeln oder sich auf den demnächst existierenden Ganztagsbetrieb an den Gymnasien umstellen zu können. Aus welchem Grund geschieht das? - Einzig und allein deshalb, weil sich Kultusminister Busemann in einem ehrgeizigen Wettstreit mit seinen Kolleginnen Wolff aus Hessen und Schavan aus Baden-Württemberg unbedingt an die Spitze der Bewegung setzen möchte! Er möchte der Erste sein, der die Regelung bezüglich des Abiturs nach Klasse 12 durchzieht.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der CDU)

Ich bin erstaunt, Frau Körtner, dass es Ihnen dabei völlig egal ist, dass dieser Ehrgeiz auf dem Rücken der Kinder, die in die 5., 6. oder 7. Klasse kommen, befriedigt werden soll. Ich finde das schon ziemlich dreist.

(Joachim Albrecht [CDU]: Es ist ein Vorteil für die Kinder, wenn sie nach zwölf Jahren Abitur machen können!)

- Warten Sie einmal ab, was sich da tun wird. Wir jedenfalls halten das für unverantwortlich. Wir sind damit auch nicht allein.

Wir fordern die Landesregierung auf, die Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre bis zum Abitur zumindest so lange auszusetzen, bis das Chaos der schwarz-gelben Schulreform beseitigt ist, zumindest bis der erste Schub überstanden ist, und bis die Schülerzahlen wirklich deutlich zurückgehen und wesentlich mehr Stunden zur Verfügung stehen. Damit würden Sie sich endlich für das verantwortlich zeigen, was Sie gerade in den Schulen anrichten.

Wir sind der Überzeugung, dass die schwarz-gelbe Schulpolitik in eine grundsätzlich falsche Richtung geht

(Hermann Eppers [CDU]: Jetzt sagen Sie es zum zehnten Mal! Es wird trotzdem nicht besser! – Gegenruf von Enno Hagenah [GRÜNE]: Das kann man gar nicht oft genug sagen, Herr Eppers!)

- Sie haben es immer noch nicht verstanden; ich sage es Ihnen gerne noch einmal -, weil sie auf zu frühe Sortierung setzt und das gesamte Schulleben ausschließlich auf Unterricht reduziert.