Protokoll der Sitzung vom 28.04.2004

(Ursula Körtner [CDU]: Jetzt kommt wieder das Wolkenkuckucksheim!)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen von CDU und FDP, Sie befürchten eine Fehlsteuerung auf dem Ausbildungsmarkt, wenn die Umlage kommt. Sie sei ein empfindlicher Eingriff in das duale Ausbildungssystem. Ja, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wo leben Sie denn? Diese Fehlsteuerung haben wir durch die Macht des Faktischen schon längst. Uns fehlen in jedem Jahr in zunehmendem Maße Ausbildungsplätze. Wir müssen jetzt handeln. Nicht die Ausbildungsplatzabgabe wird zu Fehlsteuerungen führen, sondern der Markt, wie er im Augenblick nicht funktioniert, ist Ursache für Fehlsteuerungen. Warum verschließen Sie noch immer Ihre Augen wider besseres Wissen vor eindeutigen Zahlen und Fakten? Selbst der uns nicht gerade wohlgesonnene Chefredakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung erkennt an, dass die Ausbildung in Deutschland seit Jahren tief in der Misere steckt. Tun Sie es Herrn Mauersberg gleich, und sorgen auch Sie dafür, dass dieser Negativtrend durch eine entsprechende Ausbildungsplatzumlage jetzt endlich beendet wird.

Seit vier Jahren bauen Arbeitgeber massiv Ausbildungsplätze ab. Von 1999 bis heute sind mehr als 80 000 Ausbildungsplätze verloren gegangen.

(Hermann Eppers [CDU]: Wenn die Unternehmen wirtschaftliche Schwie- rigkeiten haben, ist das normal!)

Von den verbleibenden Lehrverträgen, die abgeschlossen werden, Herr Eppers, finanziert die öffentliche Hand aus staatlichen Mitteln pro Jahr 60 000 neu. Das kann so nicht weitergehen. Das ist nicht mehr das duale System. Die Fehlsteuerung ist bereits da.

(Hermann Dinkla [CDU]: Wenn es den Betrieben besser ginge, würden sie auch mehr ausbilden!)

Nicht unbedingt die mittelständischen, sondern vor allem große Unternehmen wie Siemens kündigen einen weiteren großzügigen Raubbau auf Kosten der Jugendlichen an. In Norddeutschland will der Konzern in diesem Jahr jeden fünften Ausbildungsplatz streichen. Nur noch 23 % der deutschen Unternehmen bilden überhaupt noch aus.

Vor fünf Jahren waren es noch 30 %. Da hilft keine Pädagogik. Da bedarf es einer sozialen marktwirtschaftlichen Steuerung. Die Frage ist heute nicht mehr die, ob wir in Deutschland eine Ausbildungsplatzumlage brauchen, sondern die, wie sie konkret auszugestalten ist,

(Hermann Eppers [CDU]: Man gut, dass über uns in der Decke keine Holzbalken sind!)

am besten von den Branchen selbst als Vertrag mit den Tarifpartnern ausgehandelt, Herr Eppers. Das sehe ich genauso wie Sie.

(Hermann Eppers [CDU]: Es ist doch ein fundamentaler Unterschied, ob etwas freiwillig gemacht wird oder unter Zwang! - Ursula Körtner [CDU]: Hermann, die lernen das nicht!)

- Die Freiwilligkeit hat irgendwann ihre Zeit gehabt. Es gab sie letztes Jahr; es gab sie vorletztes Jahr. Sie war zwischen den Tarifpartnern mehrfach verhandelt worden. Die Gewerkschaften sind hinters Licht geführt worden. In den Tarifverhandlungen ist Lohnverzicht geübt worden. Ausbildungsplätze sind aber nicht geschaffen worden. Stattdessen sind Ausbildungsplätze abgebaut worden. Jetzt muss der Staat handeln. Wir haben den verfassungsmäßigen Auftrag. Von uns als der verantwortlichen Politik darf nicht länger hingenommen werden, dass bei uns in der Republik mehr als 10 % eines jeden Jahrgangs völlig ohne Ausbildung bleiben. Diese Arbeitskräfte brauchen wir in Zukunft. Wir können auch nicht mit einer besseren Pädagogik in der Schule und mit Früherziehung im Kindergarten langsam gegensteuern, sondern wir müssen heute, in diesem Jahr beginnen. Wir können auf diesen Jahrgang nicht verzichten.

(Ursula Körtner [CDU]: Ja, steuert ihr mal schön!)

Es macht keinen Sinn, immer mehr junge Leute in steuerfinanzierten Berufsvorbereitungsklassen und in außerbetrieblichen Ausbildungsgängen mit wenig Perspektive ackern zu lassen.

(Hermann Eppers [CDU]: Was macht ihr denn mit den Jugendlichen, die nicht richtig schreiben und rechnen können?)

Der Druck, der durch die von der Bundesregierung angekündigten Gesetzesinitiative erzeugt wird, ist dringend notwendig.

(Hermann Eppers [CDU]: Das Nächste ist eine Arbeitsplatzabgabe!)

Die vielen auch aus unserer Sicht unzulänglichen Details im ersten Entwurf resultieren vor allem aus der Verweigerungshaltung von CDU und FDP; denn die wollen das Problem aus parteipolitischem Kalkül doch weiter sich selbst überlassen. Durch den so herrschenden Zwang, ein Gesetz ohne Zustimmung des Bundesrates zu entwickeln, sind zwangsläufig Vorschläge entstanden, die auch aus unserer Sicht alle Branchen und Regionen zu pauschal und einheitlich über einen Kamm ziehen. Deshalb jetzt zwangsläufig all die Sonderbestimmungen und Sonderregelungen. Übrigens enthielt auch Ihr Vorschlag lauter Sonderregelungen für jede Branche.

Natürlich erzeugt der Druck vom Bund auch Gegendruck und Drohgebärden von Wirtschaftsverbänden, nun noch weniger Ausbildungsplätze anzubieten. Da aber muss meiner Meinung nach die Regierung durch. Da muss die Politik durch. Gleichzeitig nämlich häufen sich auch die Angebote für freiwillige Branchenlösungen, deren Wirkung und schlanke Umsetzungsformen immerhin unsere Präferenz waren. Der Pakt für Ausbildung ist an dieser Stelle ein hoffnungsvolles Signal. Unterstützen Sie doch die Initiative des Deutschen Industrie- und Handelstages, und setzen Sie entsprechend auf den Pakt für Ausbildung. Wenn wir das noch mit einer Branchenlösung kombinieren, können wir um die Ausbildungsplatzumlage herumkommen. Wenn wir das Gesetz allerdings nicht beschließen, wird solch ein Pakt sicherlich nicht in trockene Tücher kommen. - Vielen Dank, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Minister Hirche, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin Herrn Kollegen Lenz dankbar, dass er die Entwicklung beschrieben hat, die die SPD in Bezug auf diese Ausbildungsabgabe genommen hat. Es ist ja nicht so einfach, wenn sich der neue Partei

vorsitzende ein Vorhaben, das man sich vorgenommen hat, zu Eigen macht, aber alle SPDMinisterpräsidenten in den Ländern dagegen sind und alle Praktiker rumoren und wenn man hier, um Gesichtswahrung zu betreiben, das auch noch vertreten muss. Das ist keine einfache Aufgabe. Das passiert in allen Parteien, ganz klar.

Meine Damen und Herren, hier geht es nicht nur um das Bauen von Brücken, sondern in erster Linie um die Sache selbst. Wir sind uns in einem Punkt einig: Es müssen Ausbildungsplätze in den Betrieben sein. Jetzt müssen Sie einmal überlegen, warum in Betrieben keine Ausbildungsplätze angeboten werden. Da fehlen Arbeitsplätze. Infolgedessen gehen auch Ausbildungsplätze verloren. Da hilft es nichts, den Betrieben Übernahmegarantien und zusätzliche Kosten in Form von Abgaben abzuverlangen, sondern in allererster Linie muss die Lage der Betriebe verbessert werden. Das ist das Beste, was wir für die Jugendlichen tun können.

Es wird doch seinen Grund haben, meine Damen und Herren, wenn die SPD, die sich ja immer noch „Arbeitnehmerpartei“ nennt, selbst nur 3,6 % ausbildet, also nur halb so viel, wie im Gesetz vorgesehen ist, wenn die Gewerkschaft ver.di, die in Deutschland ja die größte Gewerkschaft ist, nur 0,29 % ausbildet und wenn die Kommunen in diesem Zusammenhang reihenweise hunderttausende und Millionen bezahlen müssten. Meine Damen und Herren, niemand reduziert die Zahl der Ausbildungsplätze doch aus Daffke gegenüber irgendjemandem. Tatsache ist doch vielmehr, das die Gesamtsituation schlecht ist. Vor diesem Hintergrund muss versucht werden, mit den Mitteln der sozialen Marktwirtschaft - ich sage es noch einmal - und nicht mit mehr Staat, wie es Herr Hagenah als Einziger in dieser Debatte gefordert hat, etwas zu bewegen. Herr Hagenah, Sie haben den bemerkenswerten Satz geprägt: Die Freiwilligkeit hat irgendwann ihre Zeit gehabt. - Das ist die Absage an ein Gesellschaftsmodell, das wir mit den Bürgern für die Bürger und für eine freie und offene Zukunft vertreten.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Wenn ich das geißele, dann tue ich das nicht deshalb, weil Herr Lenz, Herr Hermann und Herr Eppers gemeinsam beschrieben haben, dass wir hier eine große Aufgabe vor uns haben. Selbstverständlich sind Stichworte wie „Ausbildungsverbünde fördern“, wie „Ausbildungsvergütungen über

prüfen“ und wie „zweiten Berufsschultag überprüfen“ alles Dinge, die, wenn wir wirklich helfen wollen, zusammengebunden werden müssen und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Wir werden dann insbesondere für die Jugendlichen etwas tun können, wenn die Betriebe wieder das Gefühl haben, dass die Jugendlichen während der Ausbildungszeit auch in den Betrieben sind. Wenn es aber weiterhin so ist - diesen konkreten Hinweis will ich zum Schluss noch geben; ich habe heute mit Vertretern der Malerinnung gesprochen -, dass die Jugendlichen im ersten Ausbildungsjahr zwei Tage Berufsschulunterricht haben, außerdem zweimal 14 Tage lang an einer überbetrieblichen Ausbildung teilnehmen müssen, den dadurch ausfallenden Berufsschulunterricht in der Berufsschule aber noch nachzuholen haben, dann sind sie im ersten Ausbildungsjahr kaum noch im Betrieb.

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Briese?

Selbstverständlich. - Dann fragt sich der Betrieb, warum er die einstellen soll. - Meine Damen und Herren, da müssen wir herangehen, damit die Betriebe die Leute auch ausbilden.

Herr Briese, bitte!

Herr Minister, wie erklären Sie es sich denn, dass die Betriebe, die über Bedarf ausbilden, sich sehr wohl für diese Umlage aussprechen? Kann es denn sein, dass die Wirtschaft in Bezug auf ihre Interessen in dieser Sache gar nicht homogen ist, jedenfalls nicht so homogen, wie Sie es hier darstellen?

Ich habe eine allgemeine Situation beschrieben. Gott sei Dank haben wir in der Wirtschaft unterschiedliche Gegebenheiten. Ich wäre der Letzte, der sagen würde, die Wirtschaft sei da einheitlich. Das ist von Branche zu Branche verschieden, und

es ist von Betrieb zu Betrieb verschieden. Darin müssten wir uns einig sein.

Im Übrigen ist es ganz interessant, dass die kleinen und mittleren Betriebe im Durchschnitt mehr ausbilden als die großen Betriebe.

(Ralf Briese [GRÜNE]: Na eben! Die profitieren doch dann!)

Ich würde mir an der Stelle der SPD, aber auch der Gewerkschaften sehr überlegen - das ist meine Bitte -, warum dort, wo mehr Mitbestimmung vorhanden ist, weniger ausgebildet wird als in den kleinen Betrieben. Wir sollten darüber nachdenken - nicht im Sinne des gegenseitigen Vorwurfs, sondern wir sollten darüber nachdenken, wie wir die Bedingungen positiv verändern könnten.

Meine Damen und Herren, genauso wie es nur einen Betriebsrat gibt, wenn es vorher einen Betrieb gibt, gibt es nur Ausbildungsplätze, wenn es Arbeitsplätze gibt. Deswegen müssen wir mehr Arbeitsplätze haben, damit wir mehr Ausbildungsplätze haben.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Meine Damen und Herren, nach § 71 Abs. 2 erteile ich der SPD-Fraktion zwei Minuten Redezeit.

Frau Präsidentin! Herr Hirche, Sie haben richtig beobachtet, dass sich die kleinen und mittleren Betriebe überdurchschnittlich bei der Ausbildung engagieren. Vielleicht ist das für die Koalition in Berlin ein Grund gewesen, die Betriebe mit weniger als zehn Beschäftigten auszunehmen. Immerhin sind das 81 % aller Betriebe, die mit Sicherheit keine Ausbildungsplatzabgabe bezahlen müssen, weil sie weniger als zehn Mitarbeiter haben. Ich muss aber die Fakten richtig stellen, Herr Hermann: Es sind lediglich 19 % der Betriebe, die potenziell betroffen sind, und unter denen gibt es wieder welche, die hinreichend ausbilden. Die Zahl reduziert sich also auf relativ wenige. - Das nur zur Klarstellung.

Herr Hirche, ich glaube, man kann nicht so argumentieren, wie Sie das gemacht haben. Wenn die Wirtschaft gut läuft und wir insgesamt viele Arbeitsplätze haben, dann sind auch Ausbildungsplätze da. Wenn die Wirtschaft schlecht läuft, ha

ben wir folgerichtig auch weniger Ausbildungsplätze. Das ist ein wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Fatalismus, der im Augenblick der besonderen Situation, in der wir uns befinden, in keiner Weise Rechnung trägt.

(Ursula Körtner [CDU]: Wie wollen Sie das denn machen?)

Die Generation, die jetzt gerade ausgebildet werden muss, ist diejenige, die mit ihren Sozialversicherungsbeiträgen für die geburtenstarken Jahrgänge, die immer älter werden, jahrzehntelang die Altersversorgung finanzieren muss. Mit anderen Worten: Diese Generation muss so gut ausgebildet werden wie keine andere vorher, um diese Aufgabe zu bewältigen.

(Beifall bei der SPD - Ursula Körtner [CDU]: Machen Sie das mal, wenn Sie keine Aufträge haben!)

- Hören Sie mir mal zu! - Aber was zeichnet sich jetzt ab? Wir müssen über das Problem reden. Das Problem, das sich jetzt bei diesem Jahrgang abzeichnet, ist, dass nicht nur 10 %, wie wir es sonst haben, ohne Ausbildung bleiben, sondern dass vermutlich 15 % eines Jahrgangs keinen Ausbildungsplatz bekommen, darunter auch Abiturienten. Es sind nicht nur Hauptschüler, die nicht hinreichend gut lesen und rechnen können, die in diesem Jahr keinen Ausbildungsplatz bekommen,

(Wolfgang Hermann [FDP]: Aber in der Mehrheit!)

darunter sind auch Realschüler und Abiturienten. Das ist eine volkswirtschaftliche Katastrophe, die wir da zulassen.

Noch ein Punkt, Herr Hirche: Ich hatte erwartet, dass Sie als Wirtschaftsminister über ein Problem reden, das hiermit sehr eng verbunden ist, und dass Sie das Thema etwas tiefer ausleuchten, als nur die Frage anzusprechen: Soll hier staatlich interveniert werden, oder soll der Staat draußen bleiben? Wir haben im Augenblick, im Jahr 2004, Arbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel. Schon ab dem Jahr 2010 wird die deutsche Wirtschaft einen Fachkräftemangel erleben,

(Zuruf von der FDP: Den haben Sie teilweise heute schon!)