Protokoll der Sitzung vom 15.09.2004

Natürlich ist seit 2001 in allen Bundesländern eine ganze Menge diskutiert und neu angepackt worden. Das stellt doch niemand in Frage. Wir dürfen aber nicht die Lautstärke der Diskussion mit der Wirksamkeit der Entwicklung verwechseln. Zweitens müssen wir beachten, dass die einzelnen Bausteine, die angepackt worden sind, in ein Gesamtkonzept passen müssen. Das ist doch die entscheidende Frage. Dass sich jemand bewegt, sagt doch noch nichts darüber aus, ob er zum Ziel kommt. Ich kenne Leute, die treten auf der Stelle und wundern sich, dass sie, obwohl sie sich noch mehr bewegen, nicht recht voran kommen.

(Heinz Rolfes [CDU]: Das müssen Sie ja ganz genau wissen!)

Das ist Ihr Problem, meine Damen und Herren. Sie haben keine Vision für die Entwicklung der Bildungslandschaft in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten. Das ist das Problem.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - David McAllister [CDU]: Wie schön, dass Sie die haben!)

Deshalb packen Sie nur vom Gleichen mehr drauf und halten das für die Lösung.

Ich sehe einen zentralen Konflikt zwischen Ihnen und uns: Wir wollen das Bildungswesen ausrichten auf Integration und Motivation,

(Zuruf von der CDU: Sagen Sie doch gleich, Sie wollen die Einheitsschule!)

während ich bei Ihnen Selektion und Sanktion unterstelle. Das ist die Differenz hinsichtlich der Langfristlinien, über die wir zu reden haben.

Der zweite Vorwurf, den ich Ihnen mache: Sie haben ein falsches Verständnis von Begabung. Das ist in der Debatte über das Schulgesetz wieder deutlich geworden. Deshalb treffen Sie übrigens auch falsche Strukturentscheidungen.

Der dritte Vorwurf, den ich Ihnen mache: Sie ignorieren die sozialpolitische Bedeutung von Bildungspolitik, weil Ihnen der Begriff „Chancengleichheit“ im Kern nichts sagt.

Der vierte Vorwurf, den ich Ihnen mache: Sie orientieren sich hinsichtlich der Ergebnisse des Bildungssektors am Arbeitsmarkt von morgen. Das ist das Spannende an der OECD-Studie. Dort heißt es, entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung und für die Arbeitsproduktivität eines Landes ist, dass mehr in weiterführende Ausbildungsgänge gesteckt wird und dass die Menschen in diesen Ausbildungsgängen vor allem lernen, den sozialen Wandel zu organisieren. Das ist sehr viel wichtiger als einzelne Qualifikationen, die heute vielleicht abgefragt werden.

(Zustimmung bei der SPD)

Das ist Ihnen, glaube ich, fern. Deshalb auch das Unverständnis an dieser Stelle. Wir kritisieren nicht alle Projekte, die Sie vorantreiben, Herr Busemann. Weit gefehlt! Wir glauben aber, dass der Masterplan falsch ist, der Ihren einzelnen Aktivitäten zugrunde liegt.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Glauben heißt nicht wissen!)

- Sie sind schlauer, das weiß ich. - Das wird an einer Stelle in Ihrer Rede sehr deutlich. Sie erzählen frank und frei, Bayern sei ein PISA-Siegerland.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Das ist ja so!)

Das ist der Kern Ihres Problems. Sie orientieren sich an einem Bundesland, das an ein paar Stellen besser abgeschnitten hat als wir - und das übrigens eine geradezu peinliche Abiturquote hat.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wenn Sie es mir nicht glauben, Herr Klare - mir glauben Sie nicht, das weiß ich -, dann empfehle ich Ihnen, das Gutachten für die bayerische Wirtschaft „Bayern 2020“ zu lesen. Da heißt es im Vorwort: Wer in Bayern glaubt, sich ausruhen zu dürfen, weil es besser als andere Länder abgeschnitten hat, der hat sich gewaschen. - Nicht der Vorsprung von Bayern ist das Thema, sondern der Rückstand aller deutschen Bundesländer gegenüber den internationalen Siegerländern. Aber das haben Sie nicht begriffen! Sie wollen bayerischer werden. Das geht in die Hose, und zwar voll und ganz.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wo sind die Themen, die zu bearbeiten sind? Über Bildungsfinanzierung ist zu reden. Das sollten wir miteinander machen. Aber ich stelle fest: Niedersachsen wird in den nächsten Jahren zum Bildungssparland. Wir sind schon dabei: Hochschulen - 50 Millionen Euro im letzten Jahr, durchgeschrieben, 10 Millionen noch extra drauf. Im nächsten Jahr werden sie über 50 Millionen Euro beim pädagogischen Personal einzusparen haben. Sie erzählen hier etwas über die Notwendigkeit vorschulischer Bildung und sind sich nicht fein genug, 2 Millionen Euro bei der Sprachförderung im Kita-Bereich zu streichen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Da gilt der alte Satz „An den Taten werden wir sie erkennen und nicht an den Sprüchen“. Wir wissen natürlich auch, dass das Geld hier nicht im Keller liegt und dass eine Umschichtung im Landeshaushalt nicht immer leicht ist. Aber, meine Damen und Herren, wo ist denn Ihre Kreativität an den Stellen, wo etwas ginge? Herr Gabriel hat Ihnen gestern ausgerechnet, was es beispielsweise bedeuten würde, wenn die Landesregierung im Bundesrat beim Thema Eigenheimzulage den Vorschlägen

der Bundesregierung folgen würde. Wir reden über mehr als 680 Millionen Euro an zusätzlichen Mitteln für den Bildungsetat allein in dieser Wahlperiode, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Mit 680 Millionen Euro kann man einiges bewegen. Ich habe heute gelesen, dass jetzt auch Frau Merkel für den Ausbau der Ganztagsschulen ist. Sie sagte heute Morgen im Radio, wir müssten wieder mehr in das Bildungssystem investieren, und hat dann einen ganz grandiosen Vorschlag zur Finanzierung gemacht: Sie plädierte für ein einfacheres Steuersystem. Wahrscheinlich ist dieses einfachere Steuersystem das, was Sie im Oktober letzten Jahres in Leipzig auf dem CDU-Bundesparteitag in Euphorie beschlossen haben.

(Ursula Körtner [CDU]: Ab 2006!)

Diese Beschlussfassung dürfte ungefähr zu einem Defizit von 60 bis 70 Milliarden Euro jährlich führen, wenn man Kopfpauschale und das Merz’sche Steuerkonzept zusammen nimmt. Wie man aus 60 bis 70 Milliarden Euro weniger zusätzlich in Ganztagsschulen investieren kann, bleibt das Geheimnis von Frau Merkel. Sie wird es Ihnen wahrscheinlich irgendwann erklären. Ich freue mich, wenn ich das von Ihnen höre.

(David McAllister [CDU]: Sie wollen Steuern erhöhen!)

- Ich habe Ihnen doch gerade einen Vorschlag genannt, aber dazu ist die Landesregierung ja nicht bereit.

Ich will nur sagen: Sie kommen immer mit Ideen, aber wenn es konkret wird, dann tauchen Sie ab.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Das gilt für das Thema Eigenheimzulage, und das gilt beispielsweise für das Thema „vorschulischer Bereich“. Diejenigen, die noch kontinuierlich wissenschaftliche Aufsätze lesen, wissen, dass wir den Stand der Wissenschaft bei diesem Thema nur begrenzt aufgenommen haben. Das gilt für die Hirnforschung, und das gilt für die Lernpsychologie. Wir müssten inzwischen alle wissen, welche Bedeutung der vorschulische Sektor hat. Vor diesem Hintergrund ist es sehr in Ordnung, dass der Bildungsauftrag in diesem Bereich gestärkt wird. Es ist sinnvoll, dass die Kooperation zwischen

Kitas und Schulen verbessert wird. Alles keine Frage!

Aber, Herr Busemann, wo bleibt denn Ihre Forderung nach Gebührenfreiheit im dritten Kita-Jahr? Ich zitiere aus der Aktuellen Stunde vom 23. Oktober 2002:

„... möchten wir dahin kommen, dass wir die Eltern im dritten Kita-Jahrgang von den Beiträgen freistellen. Ich glaube, das ist eine wirksame, vernünftige und bezahlbare Maßnahme.“

Das glaube ich auch!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Sigmar Gabriel [SPD]: 0,3 % im Haushalt!)

Herr Busemann, ran an die Arbeit!

(Sigmar Gabriel [SPD]: Er hatte ge- sagt: „trotz eines maroden Landes- haushalts!“)

An der Sache werden wir ihn gerne messen. Es ist ihm ja sogar noch gelungen, das in die Koalitionsvereinbarung reinzuschreiben. Meine Damen und Herren, jetzt warten wir mal ab. Wer es mit vorschulischer Bildung ernst meint, der darf nicht nur pfeifen, der muss auch trommeln.

(Zuruf von der CDU: Thema verfehlt!)

- Sie entscheiden nicht, wer welches Thema verfehlt hat.

Bei alledem, meine Damen und Herren, ist eines entscheidend: Das ist die Qualität des Unterrichts. Da lese ich heute mit Erstaunen, was unser Landtagskollege Schwarz gestern alles so zum Besten gegeben hat. Ich glaube, dass bei einem Teil von Ihnen lediglich im Kopf ist: „Fakten, Fakten, Fakten“, frühe Zensurengebung, Pflichtunterricht, Abfragen, ganz schnelle Vergleiche usw. Mit dieser Vorstellung bin ich auch groß geworden. Aber ich sage Ihnen: Die ist veraltet, die ist total veraltet.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Von allen gemeinsam getragen!)

Was wir brauchen, meine Damen und Herren, zeigen uns die anderen Länder. Da geht es um Lernen lernen und darum, Sachverhalte mit dem Lebensalltag zu verbinden. Herr Busemann, ich verweise nur auf den Bericht über den MathematikTest in der heutigen Ausgabe der Hannoverschen

Allgemeinen Zeitung, warum eine Schule gut abschneidet und eine andere nicht. Das war ganz spannend. Da geht es darum, dass Kinder voneinander lernen, da geht es um Projektorientierung, um Handlungsfähigkeit und um den Umgang mit heterogenen Gruppen.

Da gibt es im Kultusministerium interessante Ansätze. Was Herr Busemann zum Bildungsbündnis mit der Bertelsmann-Stiftung gesagt hat, ist ein vernünftiger Baustein. Im Orientierungsrahmen Schulqualität vom September letzten Jahres sind vernünftige Anregungen enthalten. Herr Busemann, da ergibt sich doch eher die Frage, warum Sie das nicht verpflichtend für die Schulen machen. Warum machen das nur 100 Schulen und die anderen 3 300 Schulen nicht? Das ist doch die Frage!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Da geht es auch um die Frage der Schulinspektionen. Auch das ist eine Sache, bei der Sie wahrscheinlich eher uns als Ihre Regierungsfraktionen hinter sich haben, wenn ich das richtig einschätze.

Ich teile auch Ihre Einschätzung, dass die Klassengrößen und die Zahl der Pflichtstunden nicht unbedingt das Nonplusultra für Unterrichtsqualität sind. Das zeigt sich auch am Beispiel von Finnland, das relativ wenig Pflichtstunden hat. Das Entscheidendere sind die Unterrichtskultur und die Unterrichtsqualität. Sie packen etwas drauf. Ob wir es an der Stelle schaffen, das bezweifle ich etwas, weil ich den Eindruck habe, dass gegen diese notwendige Radikalisierung des Schulalltags zumindest in den Regierungsfraktionen massive Vorbehalte bestehen. Das scheint mir das Problem zu sein. Sie sind nicht in der Lage loszulassen, aber genau das muss hier passieren.