Protokoll der Sitzung vom 15.09.2004

Natürlich haben Sie an dieser Stelle Recht: Das Chaos ist im August bzw. September dieses Jahres nicht in der Schärfe aufgetreten,

(Reinhold Coenen [CDU]: Überhaupt nicht!)

wie einige dies prognostiziert haben. Das stimmt. Meine Damen und Herren, womit hat das aber zu tun? - Ich glaube, das hat ganz viel damit zu tun, dass die Beschäftigten des Landes, die Beamten und Angestellten - egal, ob in den Schulen oder in den Behörden -, loyale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind und die ihnen aufgegebene Arbeit auch umsetzen.

(Beifall bei der SPD)

Die haben sich dabei richtig Mühe gegeben, und zwar unabhängig von der Frage, wie sie inhaltlich dazu stehen. Nachdem jetzt ein Großteil der Arbeit gemacht worden ist, kommen die ein bisschen zur Ruhe und stellen fest, welch ein Chaos in der Realität passiert. Das mischt sich dann natürlich auch mit Fatalismus. Wenn ich weiß, dass mein Aufschrei eh keine Folgen hat, dann mache ich es irgendwann auch nicht mehr. Ich habe das beim Thema Konnexitätsprinzip erlebt. Ich habe mit den kommunalen Spitzenverbänden über die Frage gesprochen, ob sie denn dem Umstand nachgehen, dass für die Schulträger zusätzliche Kosten

entstehen. Die haben mir gesagt: Natürlich entstehen zusätzliche Kosten, und zwar in erheblicher Höhe. - Sie machen sich aber nicht die Arbeit, all das aufzulisten, weil die dafür verwendete Zeit rausgeschmissen wäre; denn die Leitung der Kultusbürokratie hat unmissverständlich mitgeteilt, dass es auf keinen Fall Geld gebe.

(Ursula Körtner [CDU]: Es war ja auch keine neue Aufgabe!)

Wenn man dann im Nachhinein kommt und sagt, die hätten nichts beantragt, oder bezüglich der Gesamtschulen darauf hinweist, dass es dort keine Initiativen gebe, weil die sich derzeit angesichts der Tatsache, dass sie in den nächsten vier Jahren keine Chance sähen, gerade alle aufgelöst hätten, dann ist das nicht in Ordnung, meine Damen und Herren. Zur Fairness gehört dazu, das auch korrekt wiederzugeben.

Die Debatte über die Unterrichtsversorgung geht weiter. Im Jahr 2005 haben Sie mehr als 50 Millionen Euro im Haushalt zu bringen, Herr Busemann. Ich zitiere jetzt einmal, was Sie dazu im Schulverwaltungsblatt geschrieben haben: Das sind, wie versprochen, 2 500 Planstellen mehr als vor dem Regierungswechsel. Diese Zahl wird auch im kommenden Schuljahr trotz aller Sparzwänge konstant bleiben. - Ich glaube, dass die Zahl der Planstellen konstant bleiben wird. Wahrscheinlich aber werden Sie 1 000 Planstellen nicht besetzen, meine Damen und Herren.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Quatsch!)

Das haben Sie der niedersächsischen Öffentlichkeit nicht gesagt. Im nächsten Jahr wird das aber deutlich werden.

(Beifall bei der SPD)

Dann ist Schluss mit Ihrem Thema Unterrichtsversorgung, es sei denn, Ihnen fällt noch unheimlich viel mehr ein, was Sie sonst noch aus dem System rausquetschen können.

Was das Thema Lernmittelfreiheit angeht, wissen wir ja nicht erst seit gestern um die Unterfinanzierung der Bildung in Deutschland; sowohl gemessen am Bruttoinlandsprodukt als auch am Anteil der öffentlichen Ausgaben. Da ist es besonders eklatant. Wir alle wissen doch auch um den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Chancen, auch beruflichen Chancen. Gerade hier ist Deutschland Schlusslicht, wie wir wissen. Sie

haben eben selbst gesagt, wir dürften niemanden hängen lassen. Wie aber sollen die Niedersachsen diese Aussage vor dem Hintergrund der Tatsache bewerten, dass Sie zu Beginn dieses Jahres die Hausaufgabenhilfe gestrichen haben? Das sind die Schwächsten dieser Gesellschaft, und da war Aufruhr, aber Sie sind darüber hinweg gegangen. Die Kollegin von der FDP war mit in meinem Wahlkreis und hat dort gesagt: Das ist ja alles schrecklich. Wir wollen mal sehen, was wir machen können. Das kriegen wir bestimmt noch hin. - Eine Woche später kam der Haushaltsbeschluss, und es war Feierabend.

Wie ist es beim Thema Lernmittelfreiheit? Auch da wird ausgeführt: Alles paletti. Wenn aber über die Hälfe der niedersächsischen Stadt- und Kreiselternräte beschlossen hat, sich an der Volksinitiative zu beteiligen, scheint da nicht alles in Ordnung zu sein. Auch der Schulleitungsverband hat Sie im Anhörungsverfahren darauf hingewiesen, dass hier ein Verfahren durchgezogen wird, das so nicht haltbar ist und zu massiven Komplikationen führt. Sie müssten auch die vielen Zeitungsartikel gelesen haben, die das deutlich machen. Sie aber sagen zum Thema Lernmittelfreiheit, ich zitiere: Mit dem Beginn des neuen Schuljahres wurde die entgeltliche Leihe von Lernmitteln eingeführt. Damit können Eltern eine spürbare Entlastung bei den Kosten für die Beschaffung von Lernmitteln für ihre Kinder erreichen.

(Walter Meinhold [SPD]: Unglaublich ist das!)

Das ist doch wirklich unglaublich. Sie streichen die Lernmittelfreiheit und schreiben im Schulverwaltungsblatt von Entlastung für die Eltern.

(Heidrun Merk [SPD]: Unverschämt ist das!)

Zynischer kann man mit dem Thema Lernmittelfreiheit gar nicht umgehen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Als drittes Beispiel will ich ein paar Bemerkungen zur Ganztagsschule machen. Der Legendenstricker schlägt zu. Ich kann mich erinnern, dass Sie, Frau Körtner, hier ausgeführt haben, Ganztag sei im Kern familienfeindlich. Wir reden hier über eine gesellschaftspolitisch hoch umstrittene Frage, mit der sich das konservative Weltbild richtig schwer tut. Herr Busemann war natürlich clever genug zu

merken, dass er weitere Ganztagsschulen nicht verhindern kann. 4 Milliarden Euro aus Berlin sind einfach eine gute Ansage. Daran konnte auch Niedersachsen nicht vorbei.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wenn man eine Sache nicht verhindern kann, muss man ganz vorn in die Spitze und Störpotenzial aufbauen. Das haben Sie gemacht. Dafür will ich zwei Beispiele nennen. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie im August dieses Jahres 100 Anträge genehmigt haben. Bei dieser Gelegenheit muss man natürlich sagen: Von diesen 100 werden 50 mit Lehrerstunden bestückt, die denen weggenommen werden, die vorher schon Ganztagsschulen waren. Das ist der erste Teil der Geschichte. Zu gut Deutsch: Herr Busemann hat keinen Cent hinzugetan.

Punkt 2 der Veranstaltung: Auch die anderen 50 wollten natürlich gern in das Programm aufgenommen werden, weil sie ein pädagogisches Konzept haben und weil im Zweifel die Schulträger auch an einer investiven Weiterbaumaßnahme interessiert sind. Herr Busemann ist dann auf folgenden Gedanken gekommen: Wenn die Schulträger und die Schulen schriftlich erklären, dass sie keinerlei Bedarf nach zusätzlichen Lehrerstunden haben, ist er bereit, mit ihnen darüber zu reden. Das ist Ganztag light.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Nein, das ist Erpressung! Nicht Ganztag light!)

Vogel friss oder stirb! Das ist die Situation bei diesen Schulen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Sigmar Gabriel [SPD]: So ist es!)

Was bleibt ihnen übrig? Sie haben sich darauf eingelassen, weil sie an den Baugeldern aus Berlin interessiert waren. Besonders spannend finde ich - darauf werden wir im nächsten Jahr achten - die lobende Bemerkung von Herrn Busemann, 50 der neuen Ganztagsschulen richten die Nachmittagsangebote mit eigenen Mitteln im Rahmen ihrer Unterrichtsorganisation und in Kooperation mit außerschulischen Partnern ein. Das schreibt er, und so hat er es heute auch gesagt. Er hat das als besonders erfreuliche Bereitschaft zur Eigenverantwortung und Eigenleistung gelobt. Meine Damen und Herren, meine Befürchtung ist, dass er

die Schulen jetzt zwei Jahre gewähren lässt und dann hier sagen wird: Diese 50 waren sehr initiativ und haben den Nachweis geführt, dass Ganztag ohne Finanzierung des Landes möglich ist. Das Einsparpotenzial der Zukunft auf Kosten von Ganztag! Ich finde das unerhört. Das muss man in dieser Deutlichkeit auch sagen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Das geht natürlich auch einher mit dem Erlass über Ganztag, den Sie in die Welt gesetzt haben. Er ist so etwas wie Bikinimodell: Beides gehört zur gleichen Einrichtung, ist aber sehr unverbunden miteinander.

(Heiterkeit bei der SPD)

Morgens findet Pflichtunterricht statt, und nachmittags dürfen Ehrenamtliche kommen. Meine Damen und Herren, diese Art von Ganztagsschule ist eine Mogelpackung.

(Zustimmung bei der SPD)

Sie mag frauen- und familienpolitisch diskutabel sein. Bildungspolitisch ist sie falsch, und wir reden hier über Bildungspolitik.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ganztag bedeutet: rhythmisierter Tagesablauf, andere Zeitstruktur, andere Lernform. Ganztag heißt nicht: Morgens Pflichtunterricht, und nachmittags hängen wir etwas dran. Das ist eine Diskreditierung eines zentralen bildungspolitischen Projekts der Zukunft.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Schluss mit dem Blick zurück. Jetzt stellt sich die Frage: Was steht uns mit Ihnen bevor? Ich war schon erstaunt über Ihre Reaktion auf den Bericht der OECD, meine Damen und Herren. Es handelt sich um eine der angesehensten internationalen Organisationen, die sich im Übrigen mit Wirtschaftsfragen befasst und die ein Interesse daran hat, dass qualifiziertes Personal für wirtschaftliche Dynamik zur Verfügung steht. Die OECD erstellt weltweit jedes Jahr einen solchen Bericht.

(Zuruf von der CDU: Mit alten Daten!)

- Natürlich nicht mit den Daten aus 2004. Das geht nicht, das wissen auch Sie. Da wollen wir uns mal

nichts erzählen. In dem Bericht geht es um Langfristlinien. Gestern gab der niedersächsische Kultusminister dazu eine Presseerklärung.

(Minister Walter Hirche: Mit den Daten aus der SPD-Regierungszeit!)

- Auf dem Niveau wollen wir nicht diskutieren.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Das ist klar! - weitere Zurufe von der CDU)

- Der Bericht basiert auf den Daten aus 2001. Herr Busemann hat hier gesagt: Bei der Umsetzung solcher Geschichten reden wir über die zurückliegenden 10 bis 15 Jahre. Was soll deshalb Ihr Einwurf, Herr Hirche? Das ist doch albern.

(Friedhelm Biestmann [CDU]: Er hat doch Recht!)

- Ja, natürlich hat er Recht. Darum geht es doch gar nicht. Aber ich mache gleich eine Bemerkung dazu: Sie sollten anders damit umgehen und lieber ein Stück Nachdenklichkeit entwickeln, wie es beispielsweise Frau Ahnen, die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, fertiggebracht hat. Bei Ihnen stattdessen nur schlanke Selbstgefälligkeit, überhaupt kein Gespür und keine Sensibilität dafür, dass ein solcher Bericht in der Öffentlichkeit zu Recht auch als Fortsetzung von Defiziten begriffen wird, die ja auch konkret beschrieben werden, meine Damen und Herren.

Natürlich ist seit 2001 in allen Bundesländern eine ganze Menge diskutiert und neu angepackt worden. Das stellt doch niemand in Frage. Wir dürfen aber nicht die Lautstärke der Diskussion mit der Wirksamkeit der Entwicklung verwechseln. Zweitens müssen wir beachten, dass die einzelnen Bausteine, die angepackt worden sind, in ein Gesamtkonzept passen müssen. Das ist doch die entscheidende Frage. Dass sich jemand bewegt, sagt doch noch nichts darüber aus, ob er zum Ziel kommt. Ich kenne Leute, die treten auf der Stelle und wundern sich, dass sie, obwohl sie sich noch mehr bewegen, nicht recht voran kommen.