Protokoll der Sitzung vom 14.05.2003

(Beifall bei den GRÜNEN)

Schließlich fand gerade vor wenigen Tagen die Anhörung der Verbände zum Entwurf des Schulgesetzes statt. Glaubt man den Worten des Ministers, so gab es für die schwarz-gelbe Schulpolitik überall in Niedersachsen nur Applaus.

(David McAllister [CDU]: Ganz über- wiegend!)

Herr Minister, in der Presse haben Sie gesagt, bei der Anhörung der Verbände müsse man gut zuhören. Ich habe während der zweitägigen Anhörung sehr genau hingehört. Sie waren zwar nicht da, aber trotzdem dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass es zwar bei den Unternehmerverbänden, die den freien Elternwillen am liebsten völlig abschaffen wollen, Begeisterung gab.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Zugleich gab es aber eine ganze Reihe von pädagogisch fundierten Stellungnahmen, die sehr kritisch mit Ihrem Gesetzentwurf umgegangen sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das ging von den Eltern über die Schülerinnen und Schüler bis hin zu den kommunalen Spitzenverbänden, die Ihre Reform vor Ort umsetzen sollen, Herr Klare. So begeistert waren die nicht.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Man se- lektiert! Ich bekenne mich!)

Herr Minister, es wäre schön, wenn Sie ab und zu hinhören würden, wenn ich über Ihre Regierungserklärung spreche. Herr Minister, es ist richtig, dass die Einstellung so vieler Lehrkräfte ein positives Zeichen ist. Auch die Streichung der unsäglich komplizierten Förderstufe findet unsere Zustimmung.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Ihre grundsätzliche Entscheidung in der niedersächsischen Schulpolitik ist aber nicht nur rückwärts gewandt und deshalb falsch, sondern sie entbehrt auch jeder fachlichen und pädagogischen Begründung. Es ist einfach nur eine konservative Weichenstellung. Ihr Entwurf des Schulgesetzes

ignoriert alle Ergebnisse von TIMSS, PISA und jetzt von IGLU.

(Zuruf von der CDU: Ignoranz hoch drei!)

- Hören Sie einmal zu, ich werde Ihnen das schon darlegen.

Die Zementierung des streng gegliederten Schulsystems mit einer noch stärkeren Trennung nach der 4. Klasse ist nämlich das genaue Gegenteil dessen, was alle seriösen Untersuchungen und Bewertungen der PISA-Studie und der internationalen Vergleichstests übereinstimmend als Konsequenz fordern.

Im Ausschuss haben Sie sich sogar geweigert, den PISA-Experten Herrn Professor Jürgen Baumert als Sachverständigen zur Diskussion einzuladen. Nur zur Anhörung wollten Sie 15 Minuten vorsehen. Das war zu wenig. Sie haben sich geweigert, Jürgen Baumert einzuladen.

Auch die Erkenntnisse der IGLU-Forscher wollen Sie entgegen unseres Antrags nicht vor einer Beschlussfassung über Ihr Schulgesetz zur Kenntnis nehmen.

Meine Damen und Herren von der Koalition, ich kann mir sehr gut vorstellen, was Sie nicht hören wollen. Ich zitiere Professor Hans-Günther Rolff, Dortmunder Institut für Schulentwicklung:

„Als Konsequenz müssen wir die innere Schulreform konsequenter durchführen. Wir müssen viel individualisierter in den Klassen arbeiten. Hier können wir von Schweden, aber auch von den Niederlanden viel lernen. Wir müssen gleichzeitig aber auch an der Schulstruktur arbeiten, damit sie der inneren Form nicht entgegenläuft. Denkbar wäre hier außer der Verlängerung der Grundschulzeit zumindest das Zusammenlegen von Haupt- und Realschule, wie es schon in den neuen Bundesländern geschieht.“

Meine Damen und Herren, Sie wissen, in kaum einem anderen Land entscheidet die soziale Herkunft derart über den Bildungsweg wie in Deutschland. Genau das wollen Sie mit Ihrem neuen Schulgesetz und mit Ihrer Schulpolitik weiter festschreiben und verschärfen. Sie schaffen ein Schulsystem, welches die Schwächen des vorheri

gen Systems wiederholt, verfestigt und sich international als Verlierermodell erwiesen hat. Zur Erinnerung: Nicht Bayern ist PISA-Sieger geworden. Bayern ist nur Mittelmaß. PISA-Sieger sind andere.

(Friedhelm Biestmann [CDU]: Das ist ein toller Vergleich! Das habe ich noch nie gehört! Bayern und Baden- Württemberg sind eindeutig vorn!)

- Niedersachsen ist ganz schlecht. Das wissen Sie ja! Das wird natürlich noch besser.

Die Koalitionsfraktionen wollen von all dem nichts wissen. Sie weigern sich und entziehen sich bisher standhaft jeder fachlichen Diskussion. Sie haben keine pädagogisch überzeugenden Argumente dafür, warum die Dreigliedrigkeit, die frühe Trennung und das Lernen in angeblich homogenen Gruppen zu besseren Schulerfolgen für alle Kinder führen soll, während IGLU genau das Gegenteil beweist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ihr Schulgesetz entspricht in zentralen Punkten nicht den Anforderungen einer modernen demokratischen Gesellschaft. Das möchte ich Ihnen an einigen wenigen Punkten verdeutlichen:

Der Gesetzentwurf beschwört zwar immer wieder die Durchlässigkeit, verhindert sie jedoch durch seine strukturellen Vorgaben. Wann und wie Förderung erfolgen soll, bleibt noch völlig nebulös. Abgesichert ist eine Durchlässigkeit bis jetzt nur nach unten, wenn nämlich die Kinder am Ende der Klasse 5 abgestuft werden können.

Sie schaffen in der fünften Klasse eine verschärfte Auslese. Der angeblich freie Elternwille wird bereits nach Klasse 5 massiv eingeschränkt. Wir haben darüber bereits im letzten Plenum ausführlich diskutiert. In der Anhörung haben uns die Verbände diesen Punkt ausdrücklich bestätigt. Frühe Selektion verhindert nicht nur, dass Leistungspotenziale von Kindern ausgeschöpft werden, sondern das geringere Anregungspotenzial in homogenen Gruppen verhindert überhaupt, wie PISA-Forscher deutlich gemacht haben, dass Kinder optimal gefördert werden können.

(Zuruf von der CDU: Sprechblasen!)

Mit Ihrer Definition unterschiedlicher Bildungsaufträge von Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen bewirken Sie eine klare

Benachteiligung von Hauptschulen - auch wenn Sie hier wieder das Gegenteil behauptet haben -, besonders aber von Gesamtschulen. Unterschiedliche Bildungsaufträge konterkarieren das angeblich beabsichtigte Durchlässigkeitsprinzip, von dem Sie so gerne sprechen. Dasselbe gilt für Ihre schulformbezogenen Bildungsstandards. Anstatt mit verbundenen Systemen flexible Reaktionsmöglichkeiten auch auf veränderte Schülerzahlen zu schaffen und dem Restschulcharakter der Hauptschule entgegenzuwirken, wie es auch die Kommunen als Schulträger gefordert haben, wird von Ihnen die Kooperative Haupt- und Realschule aus dem Gesetz kurzerhand gestrichen. Sie reden von einer Stärkung der Hauptschule. Ihr Handeln aber bewirkt genau das Gegenteil.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Den Erhalt der Stellen für Sozialpädagogen und -pädagoginnen an den Hauptschulen, den auch die SPD nicht über das Jahr 2003 hinaus abgesichert hat, können auch Sie nicht versprechen. Dazu, Herr Minister, hätte ich heute deutliche Worte von Ihnen erwartet. Wenn Sie in Ihrer Fraktion und bei der FDP-Fraktion für diesen Komplex keine Unterstützung finden, Herr Minister, kann ich Ihnen sagen: In diesem Punkt unterstützen wir Sie gern.

Großen Widerstand gibt es zu Recht gegen die Streichung der Gesamtschulen als Regelschulen aus dem Gesetz. Diese Entscheidung und der von Ihnen verhängte Ausbaustopp engen die Vielfalt unserer Bildungslandschaft ein; Sie lassen eine Schulform ausbluten, die von vielen Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern sowie Eltern gewünscht wird und erfolgreich Bestand hat. Das alles ist von Ihnen ideologisch motiviert.

(Beifall bei den GRÜNEN - Sigmar Gabriel [SPD]: Das wird nachgebes- sert!)

- Wird wahrscheinlich nachgebessert. Genau. Auch bezüglich der Gesamtschulen scheint bei Ihnen der Elternwille genauso wenig zu gelten wie im Hinblick auf Kooperative Haupt- und Realschulen. Gemeinsam mit zahlreichen Verbänden u. a. den kommunalen Spitzenverbänden - fordern wir den Erhalt der Gesamtschule im Gesetz als Regelschulangebot mit der Möglichkeit der Weiterentwicklung

(Beifall bei den GRÜNEN)

und die Möglichkeit zur Errichtung neuer Verbundsysteme und Gesamtschulen dort, wo dies von den Eltern gewünscht wird. Besonders in nicht so stark besiedelten Gebieten - solche gibt es im Flächenland Niedersachsen - wird es nur mit Gesamtschulen möglich sein, ein vernünftiges wohnortnahes Bildungsangebot auch mit gymnasialen Gängen zu schaffen. An dieser Stelle, Herr Minister und meine Damen und Herren von der CDU und von der FDP, werden Sie sich bewegen müssen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Noch kurz etwas zu dem wichtigen Thema Durchlässigkeit in der CDU/FDP-Schulpolitik. Das generelle Abitur nach zwölf Jahren wird dazu führen, dass weniger Jugendliche das Abitur erreichen und Leistungspotenziale nicht ausgeschöpft werden können. Unsere Abiturquote ist schon jetzt im internationalen Vergleich viel zu niedrig. Mit dem Abi nach Klasse 12 - das wage ich zu prophezeien - wird sie noch sinken. Angesichts Ihrer dann so verdichteten Stundentafel im Gymnasium wird es für Schülerinnen aus Gesamtschulen und Realschulen, die auf das Gymnasium wechseln wollen, fast unmöglich, den Anschluss zu schaffen, es sei denn, sie legen ein Extra-Schuljahr ein. Das nennen Sie Durchlässigkeit? - Für mich ist das im besten Fall unüberlegt, im schlimmsten Fall so gewollt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Richtiger wäre es, wie wir es in unserem Antrag vorschlagen, das Abitur nicht generell nach zwölf Jahren vorzuschreiben, sondern individuelle Möglichkeiten der Schulzeitverkürzung vorzusehen: Eine gute Ausstattung der flexiblen Eingangsstufe an den Grundschulen mit Fachpersonal, damit die 1. und die 2. Klasse in einem Jahr, zwei Jahren oder drei Jahren durchlaufen werden können, sowie Förderangebote in der 10. Klasse, damit das individuelle Überspringen der 11. Klasse erleichtert wird. Damit hätten wir auch das schwierige Problem der Übergänge von den Realschulen und den Gesamtschulen in die gymnasiale Oberstufe vom Tisch. Man muss sich doch eines klar machen: Hier wird generell ein Abi nach 12 Jahren gefordert, wohlwissend, dass 30 % unserer Abiturienten in Niedersachsen 14 Jahre bis zum Abitur brauchen, weil sie an irgendeiner Stelle eine so genannte Ehrenrunde eingelegt haben.

Meine Damen und Herren, momentan fehlen organisatorisch und konzeptionell die Strukturen für

Ganztagsunterricht an den Gymnasien. Herr Busemann, Ihre bayrische Kollegin, Frau Hohlmeier, hat gesagt: Ein achtjähriges Gymnasium muss als Ganztagsschule angelegt sein. Neue Arbeitsformen und eine veränderte Rhythmisierung der Unterrichtszeit werden zentrale Elemente dieses neuen Schultyps sein. - Solche Konzepte vermissen wir bei der niedersächsischen CDU-Regierung noch völlig. Sie aber wären die Voraussetzung, um über eine generelle Verkürzung der Schulzeit überhaupt ernsthaft reden zu können.

Ich möchte jetzt nicht noch stärker ins Detail gehen, an welchen Stellen der Anhörung abenteuerliche Ungereimtheiten zu Tage getreten sind. Ich nenne nur ein Beispiel: Die 10. Klasse als Gelenkfunktion. Völlig unklar geblieben ist in der Anhörung doch, wann in welcher Schulform welcher Abschluss vergeben werden soll und wie die Übergänge geregelt werden sollen.

Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahren hat die CDU der Kultusministerin und dem Ministerpräsidenten in der Schulpolitik zu Recht immer wieder Übereifer und blinden Aktionismus vorgeworfen. Was CDU und FDP hier jetzt allerdings vorführen, ist keinen Deut besser.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zu keinem der wesentlichen Punkte im Gesetzentwurf gibt es bisher Durchführungsverordnungen oder Erlasse, die wir im Kultusausschuss hätten zur Kenntnis nehmen können. Niemand konnte die Frage beantworten, wie denn die neue gymnasiale Oberstufe aussehen soll. Eine Auswertung der Anhörung der Verbände sei in der Kürze der Zeit nicht zu schaffen, heißt es. Von den zahlreichen bisher aufgeworfenen juristischen Fragen zum Gesetzestext konnte bis gestern - erst gestern wurde eine Vorlage vorgelegt - keine beantwortet werden.

(Hans-Jürgen Klein [GRÜNE]: Das ist ja ein Chaos! - Dorothea Steiner [GRÜNE]: Mindestens!)

Meine Damen und Herren, das ist „Dalli-Dalli“ auf Kosten der Bildungschancen unserer Kinder.