Protokoll der Sitzung vom 23.03.2006

gestalten. Sie aber drücken sich davor, die wichtigsten Zukunftsfragen dieses Landes möglichst schnell zu beantworten.

Jeder Monat, der verstreicht, ist ein verlorener Monat. Alle Steuerungsmaßnahmen, die eingeleitet werden müssen, wirken sehr langfristig. Deshalb muss so früh wie möglich damit begonnen werden. Schon heute ist abzusehen, dass der ursprüngliche Fahrplan, nämlich bis zum Ende diesen Jahres einen Enquetebericht vorzulegen, auf keinen Fall eingehalten werden kann. Von elf Unterpunkten des Einsetzungsbeschlusses hat die Enquete-Kommission noch nicht einmal zwei behandelt. Realistischerweise ist frühestens Mitte 2007 mit einem Endbericht zu rechnen. Aber Sie gaukeln den Leuten vor, sie würden noch in dieser Legislaturperiode entscheidende Weichen stellen. Das glauben wir Ihnen nicht, meine Damen und Herren; denn das wird nicht mehr gehen.

Die Enquete-Kommission dient Ihnen als bequemes Nirwana, in dem Sie Ihnen unangenehme Themen wie die Pflege bis zum Ende der Legislaturperiode verschwinden lassen können. Die Zeit drängt aber mehr, als Sie es wahrhaben wollen. Deswegen muss sofort gehandelt werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Menschen in Niedersachsen brauchen die Sicherung der häuslichen Versorgung. Sie brauchen den Ausbau ambulanter Versorgungsstrukturen. Sie brauchen den Ausbau und die Bereitstellung hinreichender vorpflegerischer und pflegebegleitender Dienste. Sie brauchen Prävention und Rehabilitation, um Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern und, wenn möglich, zu verhindern. Die an Demenz erkrankten Menschen und ihre Angehörigen brauchen den weiteren Ausbau von spezifischen niedrigschwelligen Angeboten und auch die Forcierung von gerontopsychiatrischen Zentren und alternativen Wohnformen.

Ich frage mich in diesem Zusammenhang: Wie stehen Sie eigentlich zu der geplanten Verschacherung des Heimgesetzes auf die Länderebene im Rahmen der Föderalismusreform? Müssen die Pflegebedürftigen da nicht Angst haben, dass das Land Standards schleift, z. B. die Fachkraftquote?

(David McAllister [CDU]: Dieses Misstrauen gegen die Landespolitik!)

Wir haben ja schon erlebt, dass diese Landesregierung die Pflegebedürftigen mit der Änderung

des Pflegegesetzes und der Abschaffung des Pflegewohngeldes wieder reihenweise in die Sozialhilfe treibt. Die Sozialhilfeträger machen sehr gerne von der jetzt eingeräumten Möglichkeit Gebrauch und stecken die Menschen zwangsweise wieder in Mehrbettzimmer. Das ist die Situation der Pflege in Niedersachsen, wie diese Landesregierung sie geschaffen hat.

Meine Damen und Herren, das Thema Pflege bleibt auf der politischen Agenda. An der Qualität der Pflege zeigt sich, ob wir im Alter, bei zunehmender Hilfsbedürftigkeit ein menschenwürdiges Leben werden führen können. Welche Maßstäbe wollen wir und vor allem Sie da setzen? - Bislang haben wir zumindest im Zusammenhang mit dem Pflegegesetz nur einen Abbau von Standards, die wir bislang als selbstverständlich erachtet haben, erlebt.

Sagen Sie uns doch einmal, was die pflegebedürftigen Menschen in Niedersachsen in der Zukunft von Ihnen zu erwarten haben. Vor allem: Fangen Sie endlich an zu arbeiten, und stellen Sie rechtzeitig die entscheidenden Weichen; denn das ist jetzt nötig. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - David McAllister [CDU]: Maßlos übertrieben! Das ist typisch, Frau Helmhold!)

Danke schön. - Für die SPD-Fraktion spricht Frau Kollegin Groskurt. Sie haben das Wort!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Der demografische Wandel erfordert eine andere Politik“ ist von der Aussage her voll zu unterstützen. Viel zu lange schon bejammert Politik die Auswirkungen des demografischen Wandels, ohne jedoch grundsätzliche Wege für eine Lösung aufzuzeigen oder zu beschreiten.

Wir haben im Sozialausschuss Anfang des Jahres den Landespflegebericht bekommen. Hier wird auf 659 Seiten zum einen die Istsituation beschrieben. Zum anderen werden die statistischen Entwicklungen bis 2020 bzw. 2050 aufgezeigt. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass wir uns nicht auf dem Landespflegebericht ausruhen dürfen. Die Zahl der pflegebedürftigen Einwohnerinnen und Einwohner

Niedersachsens betrug Ende 2003 laut Pflegestatistik 218 363 Personen. Bis 2020 wird sich diese Zahl unter Zugrundelegung der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Landesamtes auf 263 538 erhöhen. Bis 2050 wird sich die Zahl auf 411 158 Personen erhöhen und damit fast verdoppeln.

Nun kann es nicht sein, dass dieser mit sehr viel Zeit und Personalaufwand erstellte Bericht in eine Schublade kommt und nicht zu gezielt entwickelten Maßnahmen führt, die dem unweigerlich bestehenden erhöhten Pflegebedarf entgegenwirken.

Aus dem Landespflegebericht ergeben sich zwingend Arbeitsaufträge. Um nur einen als Beispiel herauszugreifen: In Bezug auf die Zertifizierung von Pflegeeinrichtungen und die Forderung nach Pflegestandards wird auf Seite 28 erkannt und auch ausgeführt, dass Zertifizierungen als Kennzeichen geprüfter Qualität für die Nachfrager von Pflegeleistungen von Nutzen sind. Gleich folgend auf Seite 29 wird erklärt, dass Zertifizierungsverfahren die Transparenz erhöhen. Ich zitiere: Ziel ist die Anerkennung von Zertifizierungsverfahren zur Verringerung der Zahl von Qualitätsprüfungen durch den MDK. In Klammern steht zur Verdeutlichung: Entbürokratisierung, Entlastung der Einrichtungsträger.

Leider haben Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der FDP, gerade im letzten Plenum - wie von Frau Helmhold gerade erwähnt - den Antrag der SPD-Fraktion zur Zertifizierung abgelehnt. Irgendwie etwas voreilig, meine ich.

(Norbert Böhlke [CDU]: Überhaupt nicht!)

Ihren Arbeitsrhythmus sollten Sie einer Prüfung unterziehen. Mal sind Sie zu schnell, mal sind Sie zu langsam.

Aufgrund dieser eindeutigen Aussagen und Zahlen, sehr geehrte Ministerin Frau Ross-Luttmann, ist Ihr Vorwort ein bisschen dünn. Sie erklären dort:

„Eine kontinuierliche Beobachtung der Versorgungssituation der pflegebedürftigen Menschen im Land ist vor dem Hintergrund der demografischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen erforderlich.“

Wir meinen, Beobachtung allein ist nun wirklich nicht ausreichend.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist ein Schritt in die richtige Richtung, nämlich nicht nur zu beobachten, sondern ein Handlungskonzept vorzulegen. Insgesamt empfinden wir diesen Antrag allerdings als etwas überfrachtet und hätten uns gut vorstellen können, ihn in fünf Anträge aufgeteilt zu beraten.

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: Das kön- nen wir doch noch machen!)

Deshalb sollten wir uns den Antrag im Detail anschauen, da wir, glaube ich, in vielen Punkten einer Meinung sind. Wenn wir das heute feststellen können, ist das doch eine Basis für unsere weitere Arbeit für die Zukunft der Pflege.

Der Punkt 1 beinhaltet die von allen Fraktionen gewünschte Entwicklung „Ambulant vor stationär“. Die geforderten trägerunabhängigen Pflegeberatungsstellen werden immer notwendiger, um pflegenden Angehörigen eine Orientierung zu geben. Angehörige können nicht damit allein gelassen werden, aus der Vielfalt der unterschiedlichen Betreuungsangebote das geeignete auszuwählen.

Bei Punkt 2 - Förderung des bürgerschaftlichen Engagements - hat die SPD-Fraktion nach den bisherigen Erfahrungen mit der derzeitigen Landesregierung Bedenken, dass sie bürgerschaftliches Engagement mit ehrenamtlicher Arbeit gleichsetzt und sich scheibchenweise aus der Verantwortung herausziehen könnte. Ich habe noch immer die häufig verwendete Redewendung „Eigenverantwortung“ im Ohr.

Auch zu den Punkten 3, 4 und 5 schlagen wir vor, sie einzeln zu diskutieren. Vor allem Ihr Punkt 5 zur Pflegeausbildung muss unbedingt konkretisiert und mit klaren Forderungen unterstützt werden. Hierbei ist die Landesregierung, die Sozialministerin, in der Pflicht, die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen einzufordern, eventuell durch gesetzliche Festschreibung, Quoten, Refinanzierung oder Ähnliches. An dieser Stelle haben wir die Sorge, dass die Regierung diesen wenig konkreten Antrag zur Beliebigkeit verkommen lässt.

Sehr geehrte Damen und Herren, aus der Sicht der SPD-Fraktion ist es außerdem wichtig, bei der

Zukunft der Pflege nicht allein die tatsächliche Pflegebedürftigkeit aufzuzeigen, sondern im Gegenzug im Rahmen des demografischen Wandels auch verstärkt die Chancen des Alters zu sehen und den Wandel zu nutzen, um neue Märkte zu erschließen. Die Seniorenwirtschaft bietet Chancen für mehr Wachstum und Lebensqualität bei Jung und Alt. Die Politik ist gefordert, Veränderungen positiv mitzugestalten, Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen und nicht nur Angst zu schüren. Hierbei müssen wir von der Mangelerhebung zur Bedarfserhebung kommen. Die Teilhabe Pflegebedürftiger am gesellschaftlichen Leben muss Grundlage einer Strukturreform sein. Das ist ein Auftrag an Länder und Kommunen, der gemeinsam zu bewältigen ist.

Durch viele dieser Maßnahmen kann ein längeres selbständiges Leben unterstützt und die Pflegehäufigkeit reduziert werden. Die SPD-Fraktion wird sich aktiv in diese Prozesse einbringen. Bei der Abstimmung über den in dieser Form vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird sich die SPD-Fraktion aus den erwähnten Gründen der Stimme enthalten. - Danke schön.

(Beifall bei der SPD - Ursula Helmhold [GRÜNE]: Eigentlich schade!)

Herzlichen Dank, Frau Groskurt. - Für die CDUFraktion spricht Frau Kollegin Kohlenberg. Sie haben das Wort!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir begrüßen grundsätzlich, dass Sie sich mit dem wichtigen Thema „Zukunft der Pflege Perspektiven für 2030“ beschäftigen. Wir würden es noch mehr begrüßen, wenn Sie es dort täten, wo es hingehört. Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Grünen, ich muss befürchten, dass Sie den Einsetzungsbeschluss für die EnqueteKommission nicht sorgfältig gelesen haben. Anderenfalls hätte Ihnen auffallen müssen, dass Ihr Antrag zum Thema „Der demografische Wandel erfordert eine andere Politik: Zukunft der Pflege in Niedersachsen - Perspektiven für 2030“ dorthin - und nur dorthin - gehört. Wir alle haben uns verständigt - ich erinnere daran: alle -, dass der Bereich Pflege dort umfassend behandelt wird.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, seit kurzem liegt der erste Landespflegebericht vor. Dieser Bericht wird eine zentrale Grundlage für die Arbeit der Enquete-Kommission sein. Er enthält die Datengrundlage und wichtige Ergebnisse, die wir brauchen. Wir werden auch im Sozialausschuss noch weiter über den Landespflegebericht sprechen. Wegen dieser Themenüberschneidung wäre es besser gewesen, Sie hätten Ihren Antrag zurückgezogen. Es gibt aber auch noch die Möglichkeit, Ihren Antrag in die Beratungen der Kommission einzubeziehen. Das wäre die Lösung, die allen Seiten gerecht würde.

(Beifall bei der CDU)

Die Arbeit der Kommission stützt sich auf bereits vorhandene Daten und Analysen zum gegenwärtigen Stand und zur künftigen Entwicklung in Bezug auf die Altersstruktur, die Geschlechterverteilung, den Anteil der Erwerbstätigen, Menschen mit Behinderungen, Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund.

Besonders intensiv berücksichtigt die Kommission die unterschiedlichen Voraussetzungen und Entwicklungsperspektiven der Regionen des Flächenlandes. Die spezielle Situation im ländlichen Raum und die völlig anderen Verhältnisse in Ballungsgebieten werden beachtet.

Für jedes Handlungsfeld werden zunächst eine Situationsanalyse und mittel- und langfristige Prognosen erarbeitet. Dies macht deutlich, dass die Arbeit der Kommission ungleich differenzierter ist, als dies in einer einzelnen Antragsberatung im Sozialausschuss geleistet werden kann.

(Beifall bei der CDU)

Die Kommission wird konkrete Lösungsvorschläge für den Landtag erarbeiten und darüber hinaus die wichtige gesellschaftliche Diskussion anstoßen. Viele Menschen sind nicht hinreichend für unsere demografische Entwicklung sensibilisiert. Wir machen uns noch viel zu wenig bewusst, welche gewaltigen Veränderungsund Schrumpfungsprozesse mit der Bevölkerungsentwicklung einhergehen.

Der Tätigkeitsschwerpunkt der Enquete-Kommission liegt zum einen auf der Darstellung der Konsequenzen des demografischen Wandels, zum anderen gibt er konkrete Politikempfehlungen. Dabei werden die Auswirkungen auf die Landes-, Regions- und Kommunalpolitik berücksichtigt.

Hierbei möchte ich Sie an die Fragestellungen des einstimmig verabschiedeten Beschlusses zur Einsetzung der Enquete-Kommission erinnern und einige davon herausgreifen, z. B. im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen: Wie wird sich innerhalb Niedersachsens die Situation der zunehmenden Zahl von Menschen mit Behinderungen entwickeln? Welche besonderen Aufgaben ergeben sich aus der steigenden Zahl älterer Menschen mit Behinderungen für das Land, die Kommunen und die Einrichtungen der Behindertenhilfe? Wie können die Strukturen der Eingliederungshilfe an die steigenden Zahlen von Leistungsempfängern angepasst und zugleich die hohe Qualität gesichert werden?

Die Fragestellungen zum Thema Gesundheit lauten wie folgt: Welche Ansprüche an die Versorgung sowie an das Angebot von Rehabilitationseinrichtungen in Niedersachsen ergeben sich aus dem demografischen Wandel? Dazu gehören auch die Förderung und Weiterentwicklung von Palliativmedizin, Hospizen und Hospizdiensten in Niedersachsen. Inwiefern können Eigenverantwortung und gesundheitsbewusstes Verhalten in der Bevölkerung stärker gefördert werden? Wie können wirksame und zugleich kostengünstige „alternative“ Heilmethoden künftig stärker als sinnvolle Ergänzung und Alternative zur „klassischen“ Medizin gefördert und weiterentwickelt werden?

Die Fragestellungen zum Thema Pflege lauten wie folgt: Wie wird sich die Zahl der hilfs- und pflegebedürftigen älteren Menschen in Niedersachsen voraussichtlich entwickeln, wie viele dieser Menschen werden künftig von Angehörigen, von ambulanten Pflegediensten und in stationären Einrichtungen versorgt werden, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Landespolitik? Welche Hilfen benötigen ältere Menschen, insbesondere altersverwirrte und demenzkranke Menschen, im Vorfeld und Umfeld der Pflegebedürftigkeit, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Land und Kommunen? Mit welchen Maßnahmen kann die künftige stationäre Pflegebedürftigkeit möglichst lange hinausgezögert oder verhindert werden? Welche Herausforderungen stellen sich an Inhalt, Umfang und Qualitätssicherung der Ausbildung und Ausübung von Pflegeberufen, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Landespolitik?

Wie werden sich die Wohnbedürfnisse verschiedener Bevölkerungs- und Altersgruppen verändern,

und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Wohnungsbau und Stadtplanung?