Protokoll der Sitzung vom 12.07.2006

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Schünemann, Sie haben sich bislang durch eine Politik ausgezeichnet, die gut integrierte und oft auch gut ausgebildete junge Menschen in Länder abgeschoben hat, deren Sprache und Kultur sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kannten. Sie haben den Handlungsspielraum der Ausländerbehörden durch Erlasse und Weisungen immer weiter eingeschränkt und die gnadenlose Abschiebung von Menschen durchgesetzt, die oft in Deutschland geboren waren und schon mehr als ein Jahrzehnt hier gelebt haben.

Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein Einwanderungsland. Diese Erkenntnis reift auch in konservativen Kreisen immer mehr. Es war Adenauer, Herr McAllister, der den deutschen Arbeitsmarkt für die ersten so genannten Gastarbeiter geöffnet hat.

(David McAllister [CDU]: Richtig!)

Aber es hat mehrere Jahrzehnte gedauert, bis die Union akzeptiert hat, dass es nicht nur Arbeiter waren, sondern dass Menschen kamen, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. Heute sind wir ein multikulturell geprägtes Land, so, wie viele andere westliche Industrieländer. Mittlerweile wird dieser Tatbestand auch von ein

zelnen Ministern der Union und auch von Leitartiklern der FAZ nicht mehr infrage gestellt.

Gleichwohl haben Sie versucht, Herr McAllister, diesen Begriff immer mehr zu einem Kampfbegriff werden zu lassen - Sie in Ihrer Rede und Herr Schünemann in seiner Rede -, der die Grenzen dessen markieren soll, was Sie nicht mehr für zumutbar halten. Herr Schünemann verwahrt sich in seiner Rede denn auch gegen eine Interpretation dieses Begriffes durch unsere Parteivorsitzende Claudia Roth.

Im selben Atemzug aber nehmen Sie positiven Bezug auf einen Begriff des amerikanischen Soziologen Amitai Etzioni, der von einer Mosaikgesellschaft spricht. Etzioni hat diesen Begriff in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung folgendermaßen abgegrenzt - ich zitiere -:

„Die Bilder der beiden konträren Positionen sind vielsagend. Auf der einen Seite ist von Schmelztiegel die Rede, in dem alle Unterschiede eingeschmolzen werden. Auf der anderen Seite wird von einer Salatschüssel gesprochen, in der verschiedene Zutaten bunt zusammengewürfelt werden, aber jede ihre Farbe und ihr Aroma behält.“

Sie können also Multikulti auch mit Mosaik übersetzen. Damit habe ich gar kein Problem, Herr Schünemann. Im Kern meinen beide Begriffe dasselbe. Sie beschreiben die bundesrepublikanische Wirklichkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Jenseits dieser gelebten bundesrepublikanischen Wirklichkeit und dieser Diskussion über Begriffe stemmen Sie sich, Herr Wulff und Herr Schünemann, immer wieder gegen die notwendigen Konsequenzen, die eine echte Integration der Einwanderer und ihrer Kinder ermöglichen. Die Zahl der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die die allgemein bildenden Schulen in Niedersachsen ohne Schulabschluss verlassen, ist doppelt so hoch wie bei ihren Klassenkameraden ohne Migrationshintergrund. In den letzten Jahren ist diese Zahl sogar noch angewachsen. Das dokumentiert ein dramatisches und beschämendes Versagen unseres Bildungssystems und der verantwortlichen Landesminister.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Zahl der Migranten, die Zugang zum öffentlichen Dienst gefunden haben, sei es bei der Polizei, als Lehrer oder Sozialarbeiter, ist immer noch völlig unterdurchschnittlich.

Sie, Herr Minister Schünemann, reden von Integration. In der Praxis sind Sie aber hauptsächlich damit beschäftigt, die Einbürgerung von einbürgerungswilligen Menschen zu erschweren und allerlei Bedingungen zu erfinden, um die Einbürgerung hinauszuzögern oder zu erschweren. Da ist Ihr CDU-Kollege und -Minister in Nordrhein-Westfalen, Herr Laschet, schon weiter. Zitat: „Jede Einbürgerung ist ein Integrationserfolg“, sagt er der Zeit. Und er hat Recht. Die Einbürgerung steht daher auch nicht am Ende eines Integrationsweges quasi als Belohnung, nein, die Einbürgerung steht am Anfang dieses Prozesses. Auch hier sind wir mit Herrn Laschet einer Meinung.

(Dr. Harald Noack [CDU]: Falsch!)

Eine verantwortliche Integrationspolitik begegnet diesen Menschen auf Augenhöhe und mit Wertschätzung und stellt in allen Bereichen des öffentlichen Lebens sicher, dass Demütigungen unterbleiben und Gleichberechtigung durchgesetzt wird.

Ich möchte, dass Niedersachsen weltoffener und toleranter wird. Menschen aus anderen Regionen, anderen Ländern, anderen Kulturen sind hier willkommen, nicht nur zur Fußballweltmeisterschaft.

(Zustimmung von Ina Korter [GRÜ- NE])

Sie sollen respektvoll und freundlich aufgenommen werden, egal, ob sie als Gastprofessorin oder Gastprofessor, als Studentin oder Student oder als Flüchtling kommen. Sie sind eine Bereicherung für das Leben in diesem Land.

Meine Damen und Herren, kommen Sie mir jetzt nicht wieder mit Ihren ökonomischen Bedenken und dem alten Lied über den Missbrauch von Sozialleistungen, der sich durch Ihre Rede hindurchzieht.

(Ernst-August Hoppenbrock [CDU]: Findet aber statt!)

Nur ein Hinweis: Die Bundesstatistiken über die Einzahlungen und Leistungen in und aus den Sozialkassen belegen, dass Einwanderer mehr zahlen, als sie bekommen, also unser Sozialsystem unter dem Strich entlasten und nicht belasten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Viele Flüchtlinge beziehen nur deshalb Sozialleistungen, weil man ihnen das Arbeiten verboten und damit dumpfe Vorurteile bestätigt hat. Wer als Einwanderer oder Flüchtling anerkannt wird, ist im Zuwanderungsrecht geregelt. Dabei gibt es eine ganze Menge Spielräume von Bund, Ländern und Kommunen, die wir nutzen können.

Mittlerweile hat auch die wirtschaftswissenschaftliche Debatte eine völlig neue Richtung genommen. Der Leiter des Berlin-Instituts, Reiner Klingholz, macht in neuen Untersuchungen deutlich, dass die demografische Entwicklung eine bislang völlig unterschätzte Bedeutung in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes hat. Bereits heute müssen wir erkennen, dass wir eine sehr hohe Arbeitslosigkeit von Menschen ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung bei einem sich verstärkenden Mangel an Fachkräften haben. Auch deshalb ist es von essenzieller Bedeutung, dass wir Zuwanderern und Kindern von Einwanderern die besten Bildungschancen eröffnen.

Neue Untersuchungen aus den USA - von Deutsche Bank Research oder auch von der OECD zeigen, dass die Länder künftig die Nase vorn haben werden, die in der Lage sind, Menschen aus anderen Kulturen und anderen Ländern bestmöglich zu integrieren, ihre Ideen aufzunehmen, und ihnen Chancen und Wege für einen erfolgreichen Bildungs- und Ausbildungsprozess aufzeigen.

Was ist denn in modernen Unternehmen los? Dort ist Diversity längst zu einem wichtigen Faktor für wirtschaftlichen Erfolg geworden.

Diese Prozesse werden von Ihnen, Herr Minister Schünemann, nach wie vor konterkariert.

(David McAllister [CDU]: Was?)

Bei Ihnen stehen immer noch Abschreckung und Abschiebung im Vordergrund. Das halten wir für einen falschen Ansatz. Wir wollen der Integrationspolitik unseres Landes eine neue Perspektive geben. Wir halten es für notwendig, Zuwanderer von Beginn an als künftige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger anzuerkennen. Unser Ziel ist es, dass sich mehr Zugewanderte für die Einbürgerung entscheiden, weil sie sich mit dieser Gesellschaft und diesem Staat identifizieren. Eine solche Politik der Anerkennung ist endlich notwendig. Schließlich kann es sich keine demokratische Ge

sellschaft auf Dauer leisten, Teile ihrer Bevölkerung von der rechtlichen und politischen Teilhabe auszuschließen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir wollen die Integrationspolitik in Deutschland auf eine neue Grundlage stellen. Wir wollen einen gesellschaftlichen Integrationsvertrag, der sich an alle am Integrationsprozess Beteiligten richtet. Ein umfassendes Angebot aufeinander abgestimmter Integrationsmaßnahmen soll die Teilhabechancen für Zugewanderte verbessern und ihnen ermöglichen, sich unserer Gesellschaftsordnung zu öffnen und ihren Teil zur Entwicklung des Landes beizutragen.

Hierfür präsentieren wir in dem Beschluss unserer Bundestagsfraktion vom Mai dieses Jahres einen so genannten Integrationsfahrplan. Für die aus unserer Sicht 15 wichtigsten integrationspolitischen Handlungsfelder legen wir erstmals für alle am Integrationsprozess Beteiligten offen und transparent dar, welche Aufgabe ihnen zukommt. So soll die aufnehmende Gesellschaft z. B. gesellschaftliche Mobilität und sozialen Aufstieg auch für Zuwanderer ermöglichen und fördern und so Teilhabegerechtigkeit gewährleisten. Unsere Gesellschaft muss es sich zur ureigensten Aufgabe machen, alles zu tun, damit die künftigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger so bald wie möglich die Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllen.

Von den dauerhaft hier lebenden Migrantinnen und Migranten erwarten wir, dass sie bereit sind, sich für unsere Gesellschaftsordnung zu öffnen und ihren Teil zur Entwicklung dieses Landes beizutragen. Hierzu gehört nicht nur der Erwerb der deutschen Sprache. Sie sollen auch das individuell Mögliche tun, um die Voraussetzungen für eine Einbürgerung selbstständig zu erfüllen. Wer selbstbestimmt hier leben will, muss auch anderen Menschen das Grundrecht auf eine freie Entfaltung der Persönlichkeit zugestehen und darf sie z. B. nicht daran hindern, sich sozial, politisch, religiös oder kulturell weiterzuentwickeln und sich gegebenenfalls auch aus dem Zusammenhang der eigenen sozialen bzw. kulturellen Gruppe zu lösen.

(Dr. Harald Noack [CDU]: Sehr rich- tig!)

Meine Damen und Herren, die Integrationspolitik unseres Landes benötigt einen neuen methodischen Ansatz. Wir wollen gemeinsam mit den hier lebenden Migrantinnen und Migranten nach den

Faktoren suchen, die Integrations- und Bildungserfolge bzw. beruflichen und sozialen Aufstieg fördern und ermöglichen, und wir wollen klären, welche Hindernisse hierfür überwunden werden müssen.

Herr Schünemann, wenn der CDU-Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen mit dem Grünen Daniel Cohn-Bendit beim Thema Integration gemeinsam Position bezieht, dann schrillen bei Ihnen die Alarmglocken. Das passt nicht in Ihr Weltbild. Sie, Herr Minister Schünemann, führen hier im Auftrag Ihres Herrn einen verdeckten Machtkampf im eigenen Lager.

(David McAllister [CDU]: Was?)

Im Vorfeld des mehr als unglücklich vorbereiteten Integrationsgipfels wollen Sie, Herr Schünemann, hier Pflöcke einschlagen. Sie machen in Ihrer Rede unmissverständlich klar, dass Sie keine sinnvolle Bleiberechtsregelung wollen, sondern die konsequente Rückführung von Menschen, die oft deutlich mehr als ein Jahrzehnt in Deutschland leben, von Kindern, die keine andere Heimat als Deutschland kennen.

(Minister Uwe Schünemann: Das ha- be ich gar nicht gesagt!)

Individuelle Abschiebungshindernisse - sei es eine medizinische Indikation, sei es ein Bürgerkrieg im Heimatland - wollen Sie nicht mehr anerkennen. Längst haben Sie Ihren Ausländerbehörden verboten, diese Fragen zu prüfen.

Sie reißen Familien auseinander, um Ihre Agenda durchzusetzen. Dass Sie hier das Wörtchen „freiwillig“ einfügen, ist in diesem Zusammenhang unerträglich, weil Sie genau wissen, dass die betroffenen Familien sich nur unter großem Druck trennen werden.

Und dann spekulieren Sie noch über eine Begrenzung der Rechtsmittel und bedauern, dass bislang kein verfassungskonformer Weg zur Verfügung steht. Hier muss ich allerdings deutlich machen: Diese Passage steht in Ihrem Redemanuskript, aber Sie haben sie hier nicht vorgetragen. Alles andere findet sich so am Ende Ihres Beitrags wieder.

Herr Schünemann, wohl selten sind einem zuständigen Minister dermaßen die Leviten gelesen worden, wie es Ihnen durch Ihre eigene Ausländerbeauftragte Gabriele Erpenbeck widerfahren ist.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Da hilft auch nicht der Versuch, Frau Erpenbeck heute durch abstrakte Lobpreisungen in Ihrer Rede quasi für Ihre Politik zu vereinnahmen. Schärfer kann man all Ihre unseligen Vorgaben beim Bleiberecht nicht kritisieren,

(David McAllister [CDU]: Was?)

und deshalb zitiere ich Frau Erpenbeck: