Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

Ich zitiere den Ministerpräsidenten, der uns bei seinem Amtsantritt am 1. Juli 2010 noch erklärte:

„Noch in diesem Jahr plant die Landesregierung eine Schulgesetzänderung, um den Umsetzungsprozess behutsam und in enger Abstimmung insbesondere mit den Kommunen als Schulträger in Gang zu setzen.“

Das war letztes Jahr. Wie viel Zeit hat Herr Minister Althusmann vertan? Wie viel Zeit hat diese Landesregierung bei diesem wichtigen Thema vertan?

(Beifall bei der SPD)

Nach meiner Auffassung, sehr geehrte Damen und Herren, ist es nur dem massiven Druck des Landeselternrats, des Verbandes Niedersächsischer Lehrkräfte, des SoVD und vieler anderer zu verdanken, dass jetzt endlich ein Gesetzentwurf vorliegt.

(Björn Thümler [CDU]: Das ist zwar falsch, aber das macht ja nichts!)

Meine Damen und Herren, ich habe bereits im August vor einem Jahr zu unserem Gesetzentwurf im Plenum gesagt: Die Diskussion verlangt von allen Akteuren Mut, einen langen Atem und eine ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit, aber auch Gesprächsbereitschaft. Es erfordert Mut, zu akzeptieren, dass nicht alles von Anfang an perfekt sein kann, dass wir alle Erfahrungen im Umgang mit der Unterschiedlichkeit machen müssen, wie es Eltern von Kindern mit Behinderungen im Übrigen vom Tag der Geburt oder von Beginn der Behinderung an ohne zusätzliche Ausbildung und Qualifikation können müssen und auch leisten.

(Jens Nacke [CDU]: Sagen Sie mal etwas zum Inhalt des Gesetzes!)

Der Paradigmenwechsel, der der Inklusion zu folgen hat, ist: Nicht mehr der einzelne Mensch muss sich an bestehende Systeme anpassen, sondern die Strukturen und Systeme werden sich an den einzelnen Menschen anpassen. Inklusive Bildung ist zugleich eine Chance für alle Kinder und Jugendlichen. Nur, das Bildungssystem in Niedersachsen ist von Inklusion leider noch meilenweit entfernt.

(Beifall bei der SPD)

Es grenzt Kinder mit Behinderungen aus. Lediglich eine Quote von 6,6 % der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf geht in eine Regelschule.

Dennoch stellt der von CDU und FDP vorgelegte Gesetzentwurf - Herr Klare hat es gesagt - in § 4 voran, dass jede - ich betone: jede - Schule zu einer inklusiven Schule wird. Diese Schulen sind mit entsprechender Unterstützung auszustatten, damit sie in die Lage versetzt werden, diesen Anspruch umzusetzen. Damit begründet der Gesetzentwurf den Rechtsanspruch der Eltern, eine Schulform für ihr Kind wählen zu können. Dieser Rechtsanspruch ist auch der Kern unseres Gesetzentwurfs, den wir vor einem Jahr eingebracht haben. Schade, dass Sie die Erkenntnis erst jetzt erlangen. Aber besser spät als nie!

Der Gesetzentwurf meiner Fraktion sieht den Rechtsanspruch jedoch ohne Wenn und Aber vor. Anders Ihr Gesetzentwurf, Herr Klare. Er räumt eine Korrektur der Wahlentscheidung der Eltern ein. So ist es in § 59 vorgesehen. Nach diesem Vorschlag kann ein Kind gegen den Elterwillen an eine andere Schule überwiesen werden. Das ist einer der Knackpunkte in Ihrem Gesetzentwurf, den wir so nicht mittragen können. Wir lassen nicht zu, dass Elternwille und Kindeswohl gegeneinander ausgespielt werden, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir haben das an dieser Stelle im Übrigen schon einmal diskutiert. Dabei ging es aber um die Abschulung nach Klasse 6 am Gymnasium. Ich erinnere mich noch daran, dass wir davon gesprochen haben, Kindeswohl und Elternwillen gegeneinander abzuwägen.

Meine Damen und Herren, wir wollen die Eltern entscheiden lassen, was das Beste für ihr Kind ist. Das ist auch aus unserer Perspektive manchmal schwer. Vielleicht ist es nicht immer das Beste. Aber wir meinen, dass das, was für Kinder ohne Behinderungen gilt, auch für Kinder mit Handicap gelten muss. Eltern entscheiden über die Schulform für ihr Kind, und Kinder mit Behinderungen müssen nicht mehr vor ihren Eltern beschützt werden als Kinder ohne Behinderungen. Für uns gibt es kein Elternrecht 1. und 2. Klasse, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Inklusion ist machbar. Kinder mit und ohne Behinderungen sind gemeinsam in einer Schule gut aufgehoben. Damit wir dieses Recht allerdings nicht im luftleeren Raum implantieren, fordern wir einen Aktionsplan für die Umsetzung der inklusiven Bildung.

Damit der Prozess gelingt, ist es notwendig, alle Akteure auf diesem Weg zu beteiligen. In diesem Aktionsprogramm gibt es viele Punkte, die umgesetzt werden sollen. Ich nenne nur die räumliche Ausstattung, die Unterstützung der Kommunen in diesem Bereich und die Lehrerbildung, die deutlich um sonderpädagogische Elemente angereichert werden muss.

Inklusion ist im Übrigen nicht zum Nulltarif zu haben. Der Prozess der Inklusion bedarf einer nachhaltigen finanziellen Absicherung. Es darf kein Sparmodell werden. Inklusion darf am Ende kein negativ besetzter Begriff werden.

Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf kann von uns hinsichtlich der Regelungen zu den Abschulungen so nicht mitgetragen werden. Das habe ich erwähnt. Eines bleibt aber festzuhalten: Die Umsetzung der Inklusion ist die Umsetzung eines Menschenrechtes. Die Umsetzung von Menschenrechten eignet sich nach unser Auffassung nicht dazu, sich politisch profilieren zu wollen. Deshalb werden wir uns konstruktiv in die Beratungen einbringen und versuchen, unsere Vorschläge aus dem Entschließungsantrag und dem Gesetzentwurf in den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf einzubringen. Wir betrachten Inklusion als Vielfalt und als Bereicherung für alle Menschen in unseren Schulen und Kindertagesstätten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Starker Beifall bei der SPD und Zu- stimmung von Ina Korter [GRÜNE])

Ich erteile jetzt der Kollegin Korter das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fast drei Jahre lang hat sich die Regierungskoalition in Niedersachsen Zeit gelassen, um nach dem Inkrafttreten der UN-Konvention einen Gesetzentwurf zur inklusiven Schule vorzulegen. Fast drei Jahre lang haben Sie die Eltern behinderter Kinder, die eine inklusive Schule für ihre Kinder wollten, hingehalten und mit Ihrer Begründung vertröstet, Sorgfalt müsse vor Eile gehen.

(Editha Lorberg [CDU]: Ja, so ist es doch!)

Und jetzt kommen Sie mit einem Gesetzentwurf, der eigentlich das Schlechteste ist, was in der Bundesrepublik bislang vorgelegt worden ist.

(Widerspruch bei der CDU und bei der FDP)

Herr Klare, bei Ihnen kann man wirklich etwas lernen. Bei Ihnen kann man nämlich lernen, wie man es nicht machen soll.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Das glaubt Ihnen niemand! Das ist unverschämt! - Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Ihre Gesetzesbegründung macht deutlich, dass Sie immer noch nicht begriffen haben, was Inklusion eigentlich bedeutet.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Aber Sie meinen, Sie hätten es begriffen!)

- Gucken Sie doch einmal in Ihre Begründung! Dort schreiben Sie - ich zitiere -:

„Wenn aber Elternentscheidungen zu einer Über- oder Unterforderung der Kinder durch falsche Schulformwahl führen, müssen Kinder vor Scheitern, folgender Lernunlust oder gar völligem Schulversagen geschützt werden. Daher ist es notwendig, dass eine Schulwahlentscheidung der Erziehungsberechtigten im Interesse des Kindeswohls korrigiert werden kann.“

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, Inklusion heißt doch nicht, zu fragen, ob das Kind an dieser Schule richtig ist, sondern Inklusion bedeutet, Schule so zu gestalten, dass sie für das Kind richtig ist und es optimal fördert. Schule muss sich für das Kind passend machen. Es geht nicht darum, die Kinder an verschiedene Schulen zu sortieren. Wenn wir mit dem Kultusausschuss in Südtirol eines wirklich gesehen und gelernt haben, dann war es genau das: Schule muss sich für das Kind passend machen.

(Ulf Thiele [CDU]: Das ist doch eine Schaufensterrede, Frau Korter! - Un- ruhe - Glocke des Präsidenten)

Meine Damen und Herren, die Koalition will Förderschulen nahezu komplett erhalten, bis auf die Primarstufe mit dem Förderschwerpunkt Lernen, und zwar nicht nur für eine Übergangszeit, sondern auf Dauer. Damit wird eine Doppelstruktur aufgebaut, die extrem teuer ist. Wenn nahezu alle Förderschulen weiterbetrieben werden, wird zu wenig Geld und werden zu wenig Förderschullehrkräfte in die inklusiven Schulen kommen. Dann können wir sie nicht so ausgestalten, dass sie Kinder wirklich gut fördern können. Das wissen Sie!

(Zuruf von der CDU: Sie wollen die Einheitsschule!)

Schon jetzt hören wir, dass für die regionalen Integrationskonzepte in Niedersachsen nicht genug Förderschullehrkräfte zur Verfügung stehen. Das ist kein Wunder; denn seit Jahren vernachlässigen Sie die Ausbildung von Förderschullehrkräften sträflichst.

(Zustimmung von Miriam Staudte [GRÜNE])

Meine Damen und Herren von CDU und FDP, wirklich skandalös an Ihrem Gesetzentwurf ist aber die geplante Regelung, dass Kinder mit Behinderungen auch gegen den Willen ihrer Eltern und gegen den Willen ihrer Erziehungsberechtigten auf eine Förderschule überwiesen werden können.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: So viel zur Inklusion!)

Meine Damen und Herren, das ist ein Verstoß gegen den Anspruch der Kinder auf Inklusion, wie er aus der UN-Konvention abgeleitet wird.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Jens Nacke [CDU]: Frau Korter, haben Sie es nicht eine Num- mer kleiner?)

Das ist ein klarer Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, und das wissen Sie auch ganz genau. Aber Recht und Gesetz werden von dieser Landesregierung und von CDU und FDP ja sowieso sehr eigenartig interpretiert. Das kennen wir schon. Da wird hin- und hergebogen, bis es passt.

(Jens Nacke [CDU]: Das ist ja lächer- lich!)

So wird im Gesetzentwurf der CDU und der FDP z. B. der aus der UN-Konvention folgende Rechtsanspruch der Kinder auf Inklusion abgestritten. Dabei gibt es bundesweit bekannte Gutachten, die das Gegenteil behaupten. Aber Sie in Niedersachsen wissen es ja wieder besser.

Herr Althusmann versteckt sich lieber hinter dem vermeintlichen Kindeswohl, wie wir im Fernsehinterview sehen konnten. Was das ist, darüber sollen nicht die Eltern befinden, sondern letztlich doch die Schule und die Landesschulbehörde.

Meine Damen und Herren von CDU und FDP, worum es Ihnen wirklich geht, wird aus der Begründung zu § 61 Ihres Gesetzentwurfes deutlich. Dort heißt es:

„Der Schutz der anderen am Schulleben beteiligten Personen sowie die Aufrechterhaltung des ordnungsgemäßen Schulbetriebs können das Recht der Erziehungsberechtigten auf freie Schulformwahl … jedoch einschränken.“