Aber es gibt noch einen weiteren tragenden Pfeiler in unserem Gemeinwesen: den gesellschaftlichen Konsens in Bezug auf unser Steuersystem - ein leistungsgerechtes, progressives Steuersystem, in dem das Existenzminimum über den Grundfreibetrag von der Steuer freigestellt ist und darüber hinaus der Grundsatz gilt: Starke Schultern tragen mehr.
Konkret: Wir starten mit einem Eingangssteuersatz von 15 % und enden mit einem Spitzensteuersatz von 42 %. Plus Soli und Kirchensteuer ergibt sich so ein Spitzensteuersatz von knapp 50 %. Das bedeutet unter dem Strich, dass das obere Drittel
der Einkommensteuerzahler knapp 80 % des gesamten Einkommensteueraufkommens trägt. Das entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden einer breiten Mehrheit in diesem Land.
Wenn wir diese beiden Bereiche - Tarifpartnerschaft und Einkommensbesteuerung - zusammenführen, gelangen wir an eine Sollbruchstelle im Hinblick auf die Gerechtigkeit. Lohnerhöhungen führen aufgrund des progressiven Steuertarifs dazu, dass der Steuersatz auf das zu versteuernde Einkommen steigt. Allerdings kann die Progression dazu führen, dass ein großer Teil der Lohnerhöhungen den Beschäftigten wieder genommen wird.
Die Ursache hierfür liegt in der Geldentwertung. Wenn jemand bei einer unterstellten Preissteigerung von 2 % auch 2 % mehr Lohn oder Einkommen erhält, dann zahlt er eben nicht 2 % mehr Lohn- oder Einkommensteuer, sondern einen etwas höheren Prozentsatz. Diesen Mechanismus bezeichnet man gemeinhin als kalte Progression. Eben diese trifft im Wesentlichen Arbeiter und Angestellte im unteren und mittleren Einkommensbereich. Bis zum Jahr 2010 ist der Effekt der kalten Progression durch verschiedenste Steuerentlastungen ausgeglichen worden. Seither wirkt die heimliche Steuererhöhung allerdings wieder.
Die Bundesregierung hat unter dem Datum 15. Februar 2012 einen Gesetzentwurf im Bundestag eingebracht, der diesem Effekt formal nicht beschlossener Steuererhöhungen entgegenwirkt. Neben der ohnehin verfassungsrechtlich gebotenen Anpassung des Existenzminimums - sprich: Grundfreibetrag - in zwei Stufen in 2013 und 2014 um 4,4 %, das sind 350 Euro, auf dann 8 354 Euro sieht der Entwurf vor, exakt diese Anhebung auch auf den Tarifverlauf zu übertragen. Das würde eine Verschiebung des Tarifverlaufs bedeuten.
Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf vor, alle zwei Jahre eine Überprüfung im Hinblick auf den jeweils erforderlichen Anpassungsbedarf vorzunehmen. Das ist nach unserer Auffassung systematisch genau der richtige Ansatz.
Was bedeutet der Vorschlag an einem konkreten Beispiel? - Wer monatlich 2 912 Euro brutto verdient, erhält nach einer Tariferhöhung von 3 % 3 000 Euro brutto. Durch die Progression der Einkommensbesteuerung bedeutet dies allerdings weniger als 3 % Nettoerhöhung. Nach der alten Regelung erhält der Beschäftigte von der Bruttolohnsteigerung um 88 Euro nur 45,32 Euro netto, also in etwa die Hälfte. Nach den in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung enthaltenen Ände
rungen würde die Progression weniger stark ausfallen. Den Beschäftigten blieben netto 63 Euro und damit knapp 18 Euro oder 40 % mehr.
Wenn im Bereich des Steuertarifs also niemals Anpassungen vorgenommen würden, stiege die Einkommensteuerbelastung langfristig und kontinuierlich an, was aus wachstumspolitischer Sicht schädlich wäre. Die Ergebnisse der NovemberSteuerschätzung mit den prognostizierten Steuermehreinnahmen lassen den Dreiklang aus Einhaltung der Schuldenbremse, Einhaltung der Maastricht-Kriterien und Verzicht auf die inflationsbedingten Mehreinnahmen bei vollem Aufwuchs in Höhe von 6 Milliarden Euro durch die kalte Progression zu. Darüber hinaus ist es ein klares Signal im Hinblick auf die Geldwertstabilität.
Vor dem Hintergrund der Haushaltskonsolidierung auf der Ebene der Länder und Gemeinden ist es aus unserer Sicht ein fairer Vorschlag, dass der Bund im Rahmen der Umsatzsteuerverteilung nach § 1 des Finanzausgleichsgesetzes die Steuermindereinnahmen trägt, die dann durch den weitergehenden Ausgleich der kalten Progression durch die vorgesehene prozentuale Anpassung des Tarifverlaufs an die Preisentwicklung anfallen. Dies betrifft ein Volumen von 1,2 Milliarden Euro ab dem Jahr 2014.
Meine Damen und Herren, aus der Sicht der CDUFraktion im Niedersächsischen Landtag gilt: Abbau der kalten Progression heißt mehr Geld im Portemonnaie für die Beschäftigten. Abbau der kalten Progression heißt mehr Steuergerechtigkeit. Abbau der kalten Progression ist ein Beitrag zur Geldwertstabilität.
Diese Gesetzesinitiative im Sinne der Interessen der Frauen und Männer, die im unteren und mittleren Einkommensbereich arbeiten, ist zu wichtig, um sie vor dem Hintergrund parteitaktischer Überlegungen zu opfern. Wir setzen auf eine breite Unterstützung in diesem Hause.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Gewerkschaft ver.di hat im Januar ihre Wirtschaftspolitischen Informationen Nr. 1 unter dem Titel „Wem nützen welche Steuersenkungen?“ veröffentlicht. Dort wird ausführlich auch auf die kalte Progression eingegangen - was das ist, brauche ich nicht zu erläutern, das hat Herr DammannTamke eben gemacht -, und dann wird vorgerechnet. Ich zitiere das etwas ausführlicher, weil das Ihre Zahlen korrigiert:
„Um diesen Effekt [der kalten Progression] zu vermeiden, muss von Zeit zu Zeit der Einkommensteuertarif angepasst werden. In den letzten 16 Jahren gab es zehn solcher Tarifsenkungen - zuletzt eine Senkung in zwei Schritten 2009 und 2010...“
Diese haben der kalten Progression nicht nur entgegengewirkt, sondern, wie ver.di schreibt, bei hohen Einkommen weit überkompensiert.
„Wer 1999 ein zu versteuerndes Einkommen von 20 000 Euro hatte, musste 3 785 Euro Einkommensteuer zahlen, 19 %. Im Jahr 2011 lagen die Preise 21 % höher, die gleiche Kaufkraft hatten 24 220 Euro. Darauf waren 2011 3 879 Euro Einkommensteuer zu zahlen, das sind nur 16 %. Die Steuerbelastung auf Einkommen gleicher Kaufkraft lag also 2011 deutlich niedriger als 1999. Bei höheren Einkommen ist die Steuerentlastung deutlich größer, weil besonders der Spitzensteuersatz von 53 % auf 42 % stark gesenkt wurde. Gesamtwirtschaftlich ist die durchschnittliche Lohnsteuerbelastung … auf unter 16 % in 2011 gesunken.“
„Insgesamt hat der Effekt der kalten Progression seit über zehn Jahren somit praktisch keine Rolle gespielt. Der Begriff aber wird von interessierter Seite instrumentalisiert: Die kalte Progression fresse alle Einkommenszuwächse auf und sei für sinkende Nettoreallöhne verantwortlich. Tatsächlich sind für Stagnation oder Rückgang der Reallöhne in den letzten zehn Jahren nicht etwa höhere
Abzüge verantwortlich, sondern deutlich zu geringe Bruttolohnzuwächse, die Ausbreitung des Niedriglohnbereichs und prekärer Beschäftigung, Rückgang der Tarifbindung und zunehmender Druck auf die Löhne.“
Das wird, Herr Dammann-Tamke, bestätigt, wenn Sie in die Begründung Ihres Antrags schauen; Sie haben die Zahlen eben genannt. Wenn Sie dort diese 3 % nennen, so ergibt das tatsächlich 63 Euro mehr. Wenn Sie sich dazu durchringen könnten, z. B. die Tarifforderungen von ver.di und IG Metall nach 6,5 % mehr Lohn zu unterstützen, kämen nicht 63 Euro mehr, sondern - ich habe das berechnet - 93,36 Euro netto mehr zustande.
Wenn Sie also statt kalter Progression Ihr Gewerkschaftsherz - wo immer es liegen mag - entdecken würden, käme tatsächlich Geld in die Tasche. Helfen Sie hier also ver.di, anstatt Nebelkerzen zu werfen!
Ich werde Ihnen im Ausschuss gern noch mitteilen, was in der Anhörung im Bundestag - Sie haben ja im Wesentlichen auf den Bundestag und die dortige Debatte abgehoben - das Institut für Arbeit und Wirtschaft bei der Uni Bremen gesagt hat, das ebenfalls eine ausführliche Stellungnahme zur Frage der kalten Progression abgegeben hat. Insgesamt kommt es zu dem Schluss: Die absolute Verteilungswirkung des Abbaus der kalten Progression, wie Sie ihn vorschlagen, sei eindeutig: Die Entlastung bei den unteren Einkommensgruppen sei extrem gering, während sie bei den Besserverdienenden hoch sei. - Und das ist ja auch der Sinn der ganzen Operation!
Zu einer Kurzintervention erteile ich Herrn Dammann-Tamke von der CDU-Fraktion das Wort. Sie haben eineinhalb Minuten.
Frau Präsidentin! Herr Dr. Sohn, ich will es kurz machen. Sie haben richtig angeführt, dass in der Vergangenheit durch verschiedenste Interventionen des Gesetzgebers die Effekte der kalten Progression nivelliert wurden.
Aber dieser Antrag ist in die Zukunft gerichtet. Es geht um einen systematischen Ansatz dahin gehend, alle zwei Jahre die Geldentwertung und den Verlauf der Steuertariftabelle abzugleichen und das Existenzminimum entsprechend einzuregeln.
Das ist ein richtiger, auf die Zukunft gerichteter Ansatz, der auf Steuergerechtigkeit abzielt, unabhängig davon, was die Tarifpartner in Zukunft in den Tarifverhandlungen aushandeln werden.
Nein, Herr Dammann-Tamke, das stimmt so nicht, und das wird auch deutlich, wenn Sie Ihre eigenen Zahlen anschauen. Ich rechne es Ihnen vor. Ihr Modell würde im ersten Jahr der Entlastung, also 2013, bei einem Jahreseinkommen von 10 000 Euro jährlich 19 Euro mehr bringen, monatlich also 1,58 Euro netto. Ab einem steuerrelevanten Jahreseinkommen von 54 000 Euro liegt der Steuervorteil konstant bei 116 Euro, also bei monatlich knapp 10 Euro.
Das ist Ihre Verteilungsgerechtigkeit. Wenn Sie jetzt in Ihrer Tabelle weiter nach oben gehen, dann kommen Sie bei einem Alleinverdienenden mit einem Jahreseinkommen von 90 000 Euro auf eine monatliche Entlastung von 42,16 Euro.
Das ist das, was Sie eigentlich wollen: eine progressive Entlastung, je besser verdient wird. Wir sind dagegen. Wir haben Ihnen im Bundestag Steuermodelle vorgelegt, die eine wirkliche Entlastung für die unteren Einkommensschichten bringen. Ich kann Ihnen das gerne überstellen,
oder wir behandeln es im Ausschuss. Es geht um eine ernsthafte Steuerentlastung für die unteren Einkommensgruppen. Diese bringt Ihr Modell unter dem Nebelvorwand der kalten Progression explizit nicht mit sich, sondern bewirkt vielmehr das glatte Gegenteil.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit diesem Antrag dokumentieren CDU und FDP, dass sie die Landtagswahl im kommenden Jahr für sich schon verloren gegeben haben. Sonst könnte man einen solchen Antrag doch eigentlich gar nicht stellen.