Protokoll der Sitzung vom 08.10.2008

Heinrich Peter Hellwege war bei tiefer Heimatverbundenheit - in die übrigens Hamburg immer eingeschlossen war; er kannte alle Hamburger Mundartlieder, und er war bis ins höhere Alter regelmäßig Besucher des Sankt-Pauli-Theaters - alles andere als provinziell. Damit will ich ihn in keiner Weise gegen einen derzeit leichthin der Provinzialität gescholtenen Politiker aus dem deutschen

Südwesten abgrenzen - Sie wissen, wen ich meine -, den ich sehr zu schätzen gelernt habe. Was an Provinzialität in sogenannten Metropolen möglich ist, erleben wie nahezu jeden Tag. Von daher ist der Vorwurf ohnehin schwer aufrechtzuerhalten.

Mein Vater bewegte sich mit der Eleganz, der Grazie und auch der Behändigkeit eines übergewichtigen Herrn - er hat immer weit über 200 Pfund gewogen; schon in seiner Jugend neigte er zu einer gewissen Verfettung -, dies aber mit großer Stilsicherheit und mit großer Gelassenheit. Er war ein sehr gesuchter Tänzer, meine Damen, und er konnte sehr gut tanzen.

(Heiterkeit)

Bezeichnend für ihn war aber - und darunter hat er sehr gelitten -, dass er in zwei Personenkreisen ein inneres Die-Hacken-Zusammennehmen nie hat vermeiden können. Dies waren Doktoren und Professoren - deswegen war er ja auch so stolz, dass ich einer geworden bin -, deren Erbärmlichkeiten er, der Nichtakademiker, nicht selten beobachten konnte, und dies waren Großindustrielle und auch vielfach Bankiers, die, wie er oft bemerkte, glaubten, ihn antreten lassen zu können. Er war außerordentlich ehrpusselig, was hinter seiner robusten Natur versteckt war. Er hat nicht immer die Kraft gehabt, Unverschämtheiten aus diesen Richtungen mit der nötigen Härte zurückzuweisen.

Über sein Unverhältnis zur Presse will ich aus Zeitgründen nicht näher ausführen. Ohne Zweifel hatte er hier eine seiner mehr als zwei Achillesfersen; lassen Sie mir dieses Bild so einmal durchgehen. Es sei daran erinnert, dass er nach dem Krieg einer der wenigen war, den die Engländer mit einer Zeitungslizenz ausgestattet hatten. Er hat das nicht zu verwerten gewusst. Ihm ist aber auch die Währungsreform dazwischengekommen.

Ich kann und will es mir nicht vorstellen, dass er einen Fuß in heutige Talkshows gesetzt oder die sogenannten Prominentenspielchen, etwa diese Mätzchen à la Promi-Dinner, mitgemacht hätte. Angesehen hat er sich diese Sendungen, in die er vom Gewicht her gut gepasst hätte, niemals; dafür verbürge ich mich. Politik war für ihn eine viel zu ernste, eine todernste Angelegenheit und keine Frage guter oder schlechter Unterhaltung. Vielleicht wäre weniger Verbissenheit manchmal besser gewesen. Er war einfach in anderen, früheren Strukturen der Öffentlichkeit politisch erfolgreich gewesen. Wann und wo gibt es heute noch Parteiversammlungen wie die damaligen oft tumultuarisch verlaufenden Versammlungen innerhalb des

eigenen Parteivolkes? Ich glaube, die gibt es heute gar nicht mehr. Gegendemonstrationen hat es immer gegeben, aber solche äußerst lebendigen, durch Zwischenrufe und Diskussionen aus dem eigenen Parteivolk getragenen Versammlungen habe ich als kleiner Junge noch miterlebt.

Die Problematik des Autodidakten und des verwöhnten Einzelkindes, das Niederlagen als Unrecht oder auf Verrat und Undank beruhend empfindet und sich leicht in ein Beleidigtsein zurückzieht, bleibt bei ihm immer erkennbar, auch im Umgang mit den Medien und da insbesondere.

Kurzum: Heinrich Peter Hellwege war ein leidenschaftlicher Parteipolitiker, aber kein abgebrühter Berufspolitiker, der bei vorgetäuschter Erregbarkeit seelenruhig hätte einstecken und austeilen können. Beliebigkeit kann man ihm nun wirklich nicht attestieren. Jedermanns Liebling hat er nie sein wollen, wäre er auch nie geworden. Über die resultierende Befähigung zu den politischen Spitzenämtern in heutigen Zeiten will ich hier gar nicht weiter spekulieren.

Zwar konnte mein Vater wegen seiner zwei linken Hände keinen Nagel in die Wand schlagen, wie meine Mutter gelegentlich anmerkte, aber umso tiefer war er schon im Gymnasialalter an Geschichte und Politik interessiert. Er war aber nicht nur interessiert, er war sehr früh auch aktiv, dies allerdings vor dem Hintergrund des welfisch-hannöversch gesinnten Elternhauses und von seinem Onkel Peter im Antiborussen-, ja Antipreußentum noch sehr deutlich bestärkt. Eine Grundhaltung, die ihn für eine Reichspolitik im Sinne Bismarcks völlig unempfänglich machte. Bismarck war der „Gott sei bei uns“, um es einmal deutlich zu sagen.

Bis zu seinem Tod hing ein Bildnis König Georgs V. - von Hannover, darf ich hinzusetzen -, umrahmt von einer gelbweißen Schleife mit der Aufschrift „Der Kampf des Lebens ist der Kampf ums Recht. Georg V.“, in seinem Blickfeld. Davon hat er nicht abgelassen. Portraits der Königin Marie - wer kennt heute noch den Zusammenhang mit der Marienburg? - und späterer Angehöriger des Herzogshauses, aber durchaus auch der Beutewelfin Viktoria Luise, rundeten die Ikonostase neben einem Kupferstich ab, der den „Sieg“ der hannoverschen Truppen über das preußische Heer in der Schlacht bei Langensalza darstellte. Wir alle wissen: aus preußischer Sicht eine Episode, vielleicht sogar eine Bagatelle, am Rande. Für ihn war das aber ein zentrales Ereignis, und während des

Dritten Reiches pilgerte man ersatzweise auch nach Langensalza.

Mir ist bewusst, meine Damen und Herren, dass man derartige Zeugnisse nicht überbewerten sollte. Allerdings ist das immer erneute Nachwirken dieser frühkindlichen, frühjugendlichen Prägungen in den verschiedensten Formen der Sublimierung geradezu verblüffend. Zur Selbstironie war mein Vater auf diesem Feld übrigens völlig unfähig, obwohl ihn das Versagen des Welfenhauses im Dritten Reich und später tief getroffen hat. Allerdings hat er das Königreich Hannover ebenso wenig restaurieren wollen, wie er an einer Adelsrepublik Südniedersachsen Freude gehabt hätte, wie Parolen aus der DHP in der unmittelbaren Nachkriegszeit suggerieren könnten, die er sich niemals, auch nicht ansatzweise, zu eigen gemacht hat.

Der preußische Staat war meinem Vater zutiefst suspekt, und ich vermute, dass ihm der Untergang Preußens 1945 als eine nicht unverdiente Strafe Gottes für die Annexion des Königreichs Hannover 1866 erschienen ist. Er hätte das unterstrichen. Umso leidenschaftlicher ist er jedoch ohne jedes Schwanken und Wanken für die Wiedervereinigung und gegen die Teilung eingetreten, die er als ein ebensolches Unrecht empfand. Aber an einem Besuch Berlins war er nicht interessiert, als die Wiedervereinigung gelungen war. Wörtlich: „Das habe ich im Fernsehen verfolgt.“ So lautete seine Ablehnung damals. Die Ressentiments waren wirksam wie eh und je. Eine geringe Rolle, aber nicht die entscheidende, mag auch seine schon geschwächte Gesundheit gespielt haben.

Heinrich Peter Hellwege, widerrechtlich als Familienvater mit dem ersten Tag des Zweiten Weltkrieges zur Bodentruppe der Luftwaffe eingezogen und im selben Augenblick um die Pkws und Lkws seines mittelständischen Chemikaliengroßhandels gebracht, diente zunächst in Frankreich, später in der Luftverteidigung Hamburgs bis zum letzten Tag des Krieges. Er hatte die Gnade - dass es eine Gnade war, wusste er -, unverwundet zu bleiben und der Gefangenschaft zu entgehen, nicht ohne noch in den ersten Maitagen 1945, von Hamburg vor Kriegsende mit dem Fahrrad auf Schleichwegen heimgekehrt, von einem lieben Nachbarn als Deserteur angezeigt zu werden, was allerdings ein anderer lieber Nachbar ihm rechtzeitig mitteilen konnte. Dass Heinrich Peter Hellwege, inzwischen von den englischen Besatzern, die offenkundig sehr präzise politische Aufklärung betrieben hatten, zum Landrat ernannt, eben diesen Denunzian

ten vor dem englischen Erschießungskommando gerettet haben soll, nachdem auf dem Dachboden seiner Obstscheune nach der Kapitulation eine geladene Pistole gefunden worden war - das war damals ein hinreichender Grund, an die Wand gestellt zu werden -, halte ich für nicht unwahrscheinlich. Ich bin da vorsichtig; denn ich habe gelegentlich meine Zweifel, was die Geschehnisse bei Kriegsende betrifft. Da wurde viel erzählt. Aber dass er so gehandelt haben würde, dessen bin ich mir völlig sicher.

Tapferkeit des einfachen Soldaten hat er bewundert, mit den Militärs und der preußischen Militärtradition verband ihn aber umgekehrt überhaupt nichts. Mit Erfolg und Chuzpe hat er Beförderungslehrgänge umschifft. Obergefreiter ist eine Altersbeförderung, keine Beförderung aufgrund von Leistung. Das möchte ich hier festhalten.

Meine Damen und Herren, dies hat ihn nicht daran gehindert, sich wohl als erster westdeutscher Politiker gegen die pauschalen Verunglimpfungen der Wehrmacht auszusprechen. Deswegen ist er auch von sehr hohen Militärs oft besucht worden, die sich bedankt haben. Die Alliierten hätten, so berichtete er, seine Versammlungen mit Schützenpanzern umstellt und die von ihnen kontrollierte Presse mit der Schlagzeile „Goebbels lebt“ berichten lassen. Ich konnte es nicht überprüfen; ich kenne es nur aus seinen Erzählungen. Ich versuche, es zu überprüfen. Umgekehrt haben Remer und andere Lemuren des westdeutschen Rechtsradikalismus bei Heinrich Peter Hellwege kein Gehör gehabt. Er hätte sie nicht einmal ins Haus gelassen. Sie haben ihn umgekehrt überhaupt nicht verstanden.

An Versuchen, meinen Vater zu instrumentalisieren, hat es in der Tat nicht gefehlt. Gelegentlich hat man sogar geglaubt, man könne mich statt seiner verheizen. Israelische Politiker, die wenige Jahre nach Kriegsende Westdeutschland besuchten, haben ausdrücklich ihn zu treffen gewünscht und viele andere Gesprächspartner nicht zugelassen. Er war stolz, seinen jüdischen Freunden geholfen zu haben. Er war zu stolz, dies an eine kleine oder große Glocke zu hängen. „Berufswiderständler“ mochte er nicht. Zu solchen Ausdrücken war er im familiären Kreis bereit, um ganz bestimmte - wenige, aber bekannte - Politiker zu bezeichnen. Ich lasse hier aus Pietät die Namen weg.

In seiner kompromisslosen Ablehnung des Nationalsozialismus - das war von Anfang an so, an

keiner Stelle wollte er à la Gerstein mitlaufen, „um Schlimmeres zu verhindern“; das gab es bei ihm nicht - wurde er auch durch konservative Sozialdemokraten bestärkt, wie z. B. durch seinen Schwiegervater, den Maurerpolier Wilhelm Ahlers, Wilhelmshaven, Paulstr. 14 - wer es überprüfen will, Herr Jüttner -, der von früher Jugend an der SPD und natürlich auch seiner Gewerkschaft angehört hat, und zwar ein Leben lang. Er war im Ersten Weltkrieg als Verwundetenträger in der Somme-Schlacht zum überzeugten Pazifisten geworden. Hitler bedeutete für meinen Großvater Krieg. Da gab es gar kein Vertun. Nach dem Mai 1945 standen sich „Willy“ und „Hein“ aber wieder gegenüber. So war das eben.

Ich führe den mir in allem Ernst mit auf den Lebensweg gegebenen Rat: „Johann, halte Dich an die Sozialdemokraten. Auf ‚die’ kannst Du Dich verlassen!“ auf seine Erfahrung mit Sozialdemokraten und die tapfere Zurückweisung der Hitlerherrschaft durch die SPD zurück. Das hat er nie vergessen. Dass weiteste Teile der DeutschHannoverschen Partei Hitler zum Teil mit Enthusiasmus begrüßt hatten, war meinem Vater immer gegenwärtig - bei aller Verbundenheit mit der Handwerker- und Bauernschaft, mit dem kleineren Mittelstand.

Umso mehr hing er allerdings an den gar nicht so wenigen Getreuen, die es tatsächlich in großer Zahl gegeben hat. Zur Ehre dieser Stillen im Lande sei hier der Bauer Klaus Heintz aus Farven genannt - der Name sagt Ihnen vermutlich überhaupt nichts, oder allenfalls einigen wenigen aus dem Elbe-Weser-Bereich -, der an jedem 18. August während des Dritten Reiches und danach zu seinem Heinrich Hellwege gepilgert ist, um zum Geburtstag zu gratulieren. Das gehörte sich damals in weiten Teilen in Norddeutschland noch so. Ich könnte eine durchaus lange Liste mit Namen dieser Männer und Frauen zusammenstellen, an die man häufiger denken sollte. Seine Geburtstage erreichten noch in den frühen 1980er-Jahren Volksfestcharakter, wenn auch nicht in Hasselmannschen Dimensionen; das gebe ich gerne zu. Ich habe mir eine Sottise aufgeschrieben, die ich weglasse.

Nun, meine Damen und Herren, mein Vater hat mir den Ungehorsam nachgesehen und mir meinen CDU–Beitritt im Jahre 1972 verziehen. - Ich war überrascht, Herr Präsident, dass er schon 1961 übergelaufen sein soll. Das überprüfe ich. Ihm wäre nichts anderes übrig geblieben: Die DP gab es noch, und diese sich auflösende DP wollte er

nicht unterstützen. Aber dass er gleich übergetreten sei? - So hätte ich ihn nicht eingeschätzt; das überprüfe ich.

Er hat mir, wie gesagt, die CDU-Mitgliedschaft verziehen. Gewählt hatte ich die Deutsche Partei, solange diese von Heinrich Hellwege geführt wurde. Sich selbst hat er seine CDU-Mitgliedschaft sehr übel genommen. Er ist ja dann auch - wie Sie, wie ich meine, zutreffend sagen - ausgetreten.

Wie er die borussische Geschichtsschreibung des Reiches von 1870/71 als Geschichte der Sieger des Überfalls über das Königreich Hannover empfand, so erschien ihm der Aufstieg der CDU in den einstigen Hochburgen der DP letztlich als Unrecht, als auf Verrat zurückzuführende Überwältigung, ja als Kränkung. So war er. Ein tiefes Misstrauen gegenüber der CDU hat ihn nie verlassen, wobei er natürlich durchaus gerne Ausnahmen machte. Seinen Nachlass wollte er um keinen Preis der Konrad-Adenauer-Stiftung überlassen; denn, so Heinrich Peter Hellwege, die CDU tue alles, um seinen Beitrag zur Nachkriegsgeschichte Niedersachsens und Deutschlands nicht erwähnenswert erscheinen zu lassen. Ich gestehe - das sage ich hier auf eigenes Risiko -, dass manche Publikationen und Verhaltensweisen heute gelegentlich diesen Verdacht auch bei mir aufkommen lassen. Umso dankbarer bin ich der heutigen Veranstaltung wegen.

Gern besuchte mein Vater die Parteitage der CSU, nie dagegen die der CDU

(Heiterkeit)

- ich kann es nicht ändern -, ohne dass er nach dem Tod von Fritz Schäffer zum Führungskreis der CSU engere Bindungen gehabt hätte. Es war wahrscheinlich mehr das Milieu, das ihn faszinierte. Er hat sich nie verziehen, dass ein Angebot Schäffers zur Bildung einer Arbeitsgemeinschaft der Parlamentarier beider Parteien durch eine Büroschlamperei unerhörten Ausmaßes unbeachtet und ungenutzt geblieben war. Schäffer hat ihn darauf angesprochen, mein Vater wusste von nichts - da waren Monate vergangen. Ob daraus eine bundesweit agierende Partei neben der CDU hätte entstehen können, ist eine Frage, die natürlich offen bleiben muss. Was das vor dem Hintergrund der heutigen Entwicklung heißen würde - ich weiß es nicht. Er, dem es an Orden und Ehrenzeichen nicht mangelte, hat mir in den späteren 1980er-Jahren seinen einen Herzenswunsch gebeichtet, ich möchte doch über Herrn Stoiber vorfühlen, ob er nicht der Bayerischen Verdienstme

daille würdig sei. Ich gebe zu, ich habe das im Tagesgeschäft vernachlässigt, ich habe es sogar vergessen, wie ich gestehen muss. Es tut mir leid.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal zu der Geschichte zurückkehren, die die Bilder in meinem Elternhaus von Heinrich Peter Hellwege erzählen. Da wird es sehr niedersächsisch. Ein vom Vater besonders geliebtes Foto zeigte ihn mit Bischof Hanns - Hanns mit zwei n, wie er nie zu betonen vergessen hat - Lilje beim Torteessen. Die beiden aßen sehr gerne gemeinsam, wie das Bild wiedergibt. Er bewunderte den Landesbischof wegen seiner Weltläufigkeit und seiner Kenntnis vieler Fremdsprachen. Mein Vater war ein treuer Sohn seiner Kirche - der Herr Landtagspräsident hat darauf hingewiesen -, aber er war eher ein Kulturprotestant, als dass er theologisch versiert oder auch nur interessiert gewesen wäre. Er machte sich seinen eigenen Reim auf „seinen“ lieben Gott. Er liebte die Posaunenfeste und Kirchenlieder. Und Hermannsburg war für ihn der Vatikan. Das darf man einfach mal so sagen.

Dies hat ihn nicht gehindert, mir den Verrat am Glauben der Väter vorzuwerfen, als ich eine Katholikin heiratete. Umso bemerkenswerter - letztlich wiederum aber auch nicht - ist seine überaus starke Affinität zur Katholischen Kirche als Institution und politische Kraft. Natürlich war der kleine Ludwig Windhorst, der große Gegner Bismarcks, meinem Vater auf einem schönen Bild immer gegenwärtig. Wie übrigens auch Heinrich Brüning, für den er merkwürdigerweise geschwärmt hat. Vielleicht hat er sich zu wenig mit ihm befasst. Größte Bewunderung bekundete er aber erstaunlicherweise für bestimmte katholische Bischöfe, deren Fotos er um sich haben wollte: für Bischof Jansen aus Hildesheim und für einen Bischof aus Osnabrück, zu dem ich etwas mehr sagen möchte. Von diesen beiden großen Kirchenführern hatte er sogar in seinem bayerischen Feriendomizil Fotos.

Gerhard Franziskus Demann - ich weiß nicht, wer diesen Namen hier noch kennt; ich muss gestehen, ich habe mich auch erst wieder daran erinnern müssen -, Sohn eines Tischlermeisters aus Freren, war meinem Vater wie der ein Leben lang schmerzlich vermisste Bruder erschienen, als er ihm am 20. März 1957 anlässlich der erforderlichen Eidesleistung gegenüber dem Niedersächsischen Ministerpräsidenten in Hannover begegnete. Beide müssen über die Intensität der Begegnung nahezu verstört gewesen sein, wie mein Vater mehr andeuten als erzählen konnte. Da war seine Kraft zu Ende. Am 27. März im Osnabrücker Dom

geweiht, verstarb Bischof Demann, noch ehe er die Gläubigen hatte segnen können. Mein Vater, der natürlich in Osnabrück dabei war und sich gern auch einmal als Spökenkieker betätigte, wusste von einer Weissagung in diesem Zusammenhang zu erzählen. Meine Damen und Herren, er war ohnehin ein hinreißender Erzähler, aber auch ein guter Redner, der, etwa bei Neujahrsansprachen - so z. B. alljährlich in Sittensen -, die Zuhörerschaft mit seinem Gedonner wirklich in Weltuntergangsstimmung versetzen konnte. Mich als Kind hat jedes Mal die Angst ergriffen.

Wiederum: Heinrich Peter Hellwege konnte die von ihm im kleinen Kreis gern als „Berufskatholiken“ verunglimpften CDU-Spitzen, die er im Emsland und in Südoldenburg verortete,

(Heiterkeit)

nicht recht „verknusen“ - bei aller Verehrung für die Kirche und bei aller Verehrung für den hohen Klerus.

Meine Damen und Herren, Niedersachsen ist ein sehr weites Feld, das muss ich Ihnen nicht sagen. Natürlich war er stolz, ein Deutscher zu sein, wie Ernst Albrecht zur Recht geschrieben hat. Er war stolz, ein Niedersachse zu sein, was denn sonst? Aber wenn er in sich hineinhorchte, dann, glaube ich, war seine Heimat das Elbe-Weser-Dreieck und die Lüneburger Heide. Dahinter und danach und darüber hinaus wurde er schon vorsichtig. Gerade das Elbe-Weser-Dreieck mit der Lüneburger Heide und der geistigen Hauptstadt Hermannsburg war seine - wie der Spanier sagen würde - Patria Chica, das kleine Vaterland.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit dem Bemerken abschließen, dass ich meinen Vater gern in eine Reihe mit Wilfried Hasselmann und Heinrich Jürgens stelle, die beide aus der DP gekommen waren, ebenso mit Heinrich Warnecke. Wenn es nicht so unhistorisch wäre, scheute ich mich nicht, ihn auch mit Kurt Beck, mit Egon Franke und mit Joke Bruns in eine Reihe zu stellen, gewiss auch mit meinem Freund Willi Döring oder meinem Kreisvorsitzenden bei der CDU Verden, Kurt Meyer-Borstel. Viele andere könnte ich nennen: Personen, denen ich begegnen durfte, nicht seine Zeitgenossen, Menschen eines Schlages, der in Niedersachsen nicht selten ist, der den Weg in die Politik aber offenbar nur noch selten findet, zumal es heute über die Deutsche Partei nicht mehr geht. Auch dies halte ich für ein Verdienst dieser Partei: dass viele sich eingewöhnen konnten, um dann später in dem größeren Rahmen - für

mich die CDU - aufzugehen. Im Einzelnen wäre zu dieser Personenreihe vieles zu bemerken und natürlich auch einzuschränken.

Wie Wilfried Hasselmann seine Marianne, so hatte mein Vater sein Lieschen - sie hieß wirklich Lieschen; wenn er sie ärgern wollte, nannte er sie Elisabeth -, und vielen der eben genannten war ähnliches Glück beschieden. Klug und mit kaum zu täuschender Menschenkenntnis hat meine Mutter, der jeder Trubel zuwider war, in nicht nur einer kritischen Gefechtslage ihren Ehemann vor Kurzschlüssen bewahrt, immer an seiner Seite und auf seiner Seite, bis zur Selbstverleugnung - trotz ihres innig geliebten sozialdemokratischen Vaters, der mit ihr Kampflieder der Arbeiterbewegung übte, wenn sie ihm mittags den Henkelmann auf die Baustelle brachte, und der zuerst den Gewerkschaftsbeitrag bezahlte - das hat er mir persönlich erzählt -, dann den gesamten Lohn der Ehefrau Marie übergab und sich sein Leben lang mit einem kleinen Taschengeld für Kautabak zufrieden gab. Davon erzählte meine Mutter allerdings erstmals in ihren letzten Lebensjahren, lange nach dem Tod ihres Ehemannes. Sie verstarb 2005. Das Langzeitgedächtnis hat das alles aufbewahrt.

Ihre Antwort ist mir unvergessen, wenn wir Kinder - ich habe zwei Schwestern - fragten, ob „der Besuch“ wieder weg sei, dessentwegen wir wieder einmal still zu sein hatten: „Ja! Gott sei Dank!“, sagte sie dann. Dieser Stoßseufzer war alles andere als selten; denn Heinrich Peter Hellwege liebte es, besucht zu werden. Am Ende des Lebens hat er oft am Fenster seines Hauses in Neuenkirchen 45, Post Horneburg - also, salopp gesagt, in der Walachei, die er nie verlassen mochte -, gesessen und vergeblich nach Besuchern Ausschau gehalten. Viele Getreue waren schon längst verstorben. Aus eigenem Antrieb Freunde aufzusuchen, das war seine Sache nicht; da war er irgendwie blockiert. Seine politischen Kommentare zum Zeitgeschehen begannen oftmals mit den Worten: „Zu meiner Zeit hätte es das nicht gegeben, dass …“. Ohne es auszusprechen, sagte er damit, dass seine Zeit vorüber war. Es wurde still um ihn. Hin und wieder wurde er von falschen Freunden in Versuchung geführt, die Bühne noch einmal zu suchen. Nicht zuletzt hat sein Lieschen ihn dann mit der ihr gelegentlich eigenen Drastik zur Vernunft gerufen. Das ist sehr vornehm und zurückhaltend ausgedrückt. Meine Damen und Herren, glauben Sie mir dies, zumal es auch noch auf Plattdeutsch geschah. Wenn die beiden wirklich beieinander waren, dann wurde Platt geredet.

Mir bleibt die Erinnerung an einen großen Mann - das sage ich voller Stolz -, dem Recht und Treue über alles gingen, der aber auch schmerzende Entscheidungen zu treffen und diese auch gegen sich selbst durchzustehen wusste. Ich bin sehr stolz auf meinen Vater, auf meine Eltern. Diese Feierstunde mag dazu beitragen, das Vergessen hinauszuschieben. Deswegen, verehrter Herr Landtagspräsident, sage ich noch einmal meinen Dank. Ich meine, dass Heinrich Peter Hellwege unser aller Erinnerung verdient.

Für Ihr geduldiges Zuhören danke ich Ihnen allen, meine Damen und Herren.

(Lebhafter Beifall)

Professor Dr. Thomas Vogtherr, Vorsitzender der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen e.V.:

Herr Landtagspräsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Sehr verehrte Mitglieder der Landesregierung! Meine Damen und Herren! Vor allem aber: Sehr geehrter Herr Hellwege! Was soll man da noch sagen? Was soll ich als jemand sagen, der aus zwei Gründen für einen Auftritt an dieser Stelle völlig ungeeignet ist, der im Jahre 1955, als Ihr Herr Vater Ministerpräsident geworden war, geboren wurde und in dessen Pass noch dazu steht, dass seine Geburt in Berlin stattgefunden hat? - Es gibt also zwei Gründe, weswegen ich hier nicht stehen sollte. Dass ich doch hier stehe, verdanke ich der Einladung des Herrn Landtagspräsidenten, für die ich mich herzlich bedanke. Ich will Sie eine Viertelstunde lang traktieren, allerdings nicht mit Anmerkungen zu den Parteienlandschaften, wie es das Programm verheißt. Es reicht, wenn wir uns mit einer Landschaft beschäftigen; sie ist schon unübersichtlich genug, wie Sie gleich sehen werden.

Von 1955 bis 1959 amtierte Heinrich Hellwege, der damals führende Politiker der Deutschen Partei (DP) , als zweiter Ministerpräsident dieses Bundeslandes. Der Sozialdemokrat Hinrich Wilhelm Kopf war ihm in diesem Amt vorangegangen, eine der bedeutenden Gründergestalten deutscher Länder nach 1945. Kopf sollte Hellwege dann ab 1959 und bis 1961 noch einmal im Amte folgen. Dass Heinrich Hellweges vier Regierungsjahre in zwei unterschiedliche Teile auseinandergefallen sind, haben wir schon gehört: Zunächst amtierte er an der Spitze einer Koalition aus der DP, der CDU, der FDP und dem Bund der Heimatlosen und Entrechteten (BHE) , in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode

in einer großen Koalition mit SPD und CDU, gegenüber denen die DP, seine eigene Partei, der bei Weitem kleinere Partner war.