Ich eröffne die 20. Sitzung im 8. Tagungsabschnitt des Niedersächsischen Landtages der 16. Wahlperiode.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Damen und Herren Minister, sehr geehrter Herr Fürst, sehr geehrte Frau Gröne, sehr geehrte Frau Kleinberger, sehr geehrter Herr Landsberg, sehr geehrter Herr Schartenberg, sehr geehrte Frau Sofer, sehr geehrte Frau Wettberg, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Das Jahr 2008 ist ein Jahr, das uns an eines der dunkelsten Kapitel in der deutschen Geschichte erinnert. Vor wenigen Tagen, am 9. November, jährte sich der Tag, an dem vor 70 Jahren in Deutschland Synagogen brannten und jüdische Geschäfte durch den braunen Mob verwüstet wurden - auch in Hannover sowie zahlreichen anderen Städten im heutigen Niedersachsen.
Die Bilanz des Pogroms, der am 10. November durch die NS-Presse offiziell für beendet erklärt wurde, war erschreckend. 1 400 jüdische Gotteshäuser waren angezündet und in Schutt und Asche gelegt worden. Mindestens 7 500 jüdische Geschäfte waren zerstört und zahllose Wohnungen jüdischer Bürgerinnen und Bürger verwüstet worden.
Besonders bedrückend waren aber die zum ersten Mal massenhaft organisierten brutalen Übergriffe auf die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger selbst. Aktives menschliches Mitgefühl und tatkräftige Hilfeleistungen für die drangsalierten jüdischen Mitbürger regten sich nur selten und blieben die mutige Ausnahme. Nur wenige Deutsche zeigten Zivilcourage. Viele schauten weg. Sehr viele rechtfertigten oder billigten gar diesen brutalen Angriff auf die Menschenwürde der Betroffenen.
Natürlich ist es aus heutiger Sicht in einem demokratischen Rechtsstaat mit all seinen Freiheiten leicht, ein Urteil über diese Menschen zu fällen.
Mit dem Pogrom am 9. November 1938 erreichte die Verfolgung der Juden eine neue und jetzt auch mörderische Qualität. Nicht nur, dass sie aus fast allen öffentlichen Einrichtungen verbannt, ihnen der letzte Rechtsschutz und die letzten Existenzgrundlagen genommen wurden - das Regime zeigte offen seine Gewaltbereitschaft gegen die Gesamtheit der jüdischen Bürgerinnen und Bürger.
Bereits seit der Machtübernahme Hitlers im Jahre 1933 waren jüdische Bürgerinnen und Bürger zunehmend Diskriminierungen durch das NS-Regime ausgesetzt. Der darin sichtbar werdende rassistisch motivierte und zutiefst inhumane Antisemitismus äußerte sich vor allem im Boykott jüdischer Geschäfte und der Verdrängung jüdischer Menschen aus allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen.
Viele von ihnen lebten schon seit Jahrhunderten in Deutschland, waren ein selbstverständlicher Teil der Bevölkerung und nahmen im sozialen Leben und Gefüge unseres Landes wichtige Funktionen wahr. Jüdisches Leben in Deutschland gab es bereits seit mehr als 1 000 Jahren, im heutigen Niedersachsen bereits seit fast 800 Jahren.
Deutschland war ihre Heimat, ihr Vaterland, für das viele von ihnen gut 20 Jahre zuvor in den Krieg gezogen waren, für das sie gekämpft hatten und für das viele von ihnen ihr Leben ließen. Für sie alle waren spätestens die Ereignisse des 9. November 1938 ein bitteres Erwachen.
Die NS-Diktatur deklarierte den Pogrom als „berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes“, und in der Rückschau wissen wir, dass das ein Wendepunkt war - von der Diskriminierung hin zur Deportation und schließlich zur Vernichtung. Er war nicht die „impulsive Reaktion der Volkesseele“, sondern eine von der nationalsozialistischen Führung bis ins Detail organisierte und inszenierte Vernichtungskampagne gegen die Juden in Deutschland.
Am Ende dieser Schreckensherrschaft waren Millionen jüdischer Menschen meist nach unvorstellbaren Leiden und Qualen in Konzentrationslagern
ermordet worden. Das frühere pulsierende jüdische Leben in Deutschland mit seiner großen Tradition hatte das sogenannte Dritte Reich ausgelöscht.
Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Diktatur offenbarte sich das gesamte Ausmaß dieser Katastrophe. In Niedersachsen hat vor allem die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen das unermessliche Leid vor Augen geführt, das jüdischen Menschen zugefügt worden war.
Das neue Dokumentationszentrum im ehemaligen Lager Bergen-Belsen führt dies eindrücklich vor Augen und ist damit ein herausragendes Beispiel für gelungene Gedenkstättenarbeit. Aber diese Arbeit ist noch längst nicht beendet. Es existierten überall in Niedersachsen Lager, insbesondere für die Zwangsarbeit der Häftlinge der Konzentrationslager. Auch diese Stätten des Leidens müssen in die Gedenkstättenarbeit einbezogen und zu Orten der Erinnerung und des Gedenkens werden.
Viele, die Bergen-Belsen überlebt hatten, wollten nach Palästina und haben dort einen wichtigen Beitrag zur Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 geleistet.
Es gab aber auch einige wenige Überlebende und einige Zurückgekehrte, die sich damals darum bemühten, auch in Niedersachsen ein jüdisches Gemeindeleben neu zu schaffen - z. B. in Hannover, in Osnabrück, in Oldenburg und in Braunschweig.
Denjenigen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, die nach 1945 trotz der unsäglichen Gräuel und Erlebnisse in das Land ihrer Väter und Mütter zurückkehrten, gebühren höchste Achtung, Dank und auch Respekt für ihre Bereitschaft, wieder in Deutschland zu leben. Dies gilt umso mehr, als ihnen auch nach dem Kriege noch bis in die 60erJahre hinein eine Stimmung des Verdrängens entgegenschlug. Viele sind in dem Kampf um ihre Rechte etwa auf Entschädigung ein weiteres Mal zum Opfer geworden.
Wenn auch heute Menschen jüdischen Glaubens zu uns kommen, begreife ich dies als Zeichen des Vertrauens. Dies ist aber auch ein Vertrauen, das uns alle als Demokraten in die Verantwortung nimmt und aus dem sich der klare Auftrag ableitet: Niemals wieder dürfen wir in Deutschland ein solches Geschehen zulassen!
Lassen wir nicht zu, dass menschenfeindliche Ideologen jugendliche Herzen und Köpfe vergiften! Und auch dies will ich hier unmissverständlich sagen: Lassen wir nicht zu, dass sie in unsere Parlamente einziehen!
Erinnerung muss stets auch zur Wachsamkeit aufrufen, um Gefahren für die Zukunft zu bannen, sowie vermitteln, dass Menschenwürde, Menschenrechte und Gerechtigkeit eine ständige Aufgabe für Politik und Gesellschaft sind, damit Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit keine Chance haben. Die Lehre, die wir aus dem 9. November 1938 zu ziehen haben, lautet: Nie wieder rassistische, religiöse oder politisch motivierte Unterdrückung oder gar Gewalt! Wir alle müssen konsequent insbesondere gegen rechtes Gedankengut und Übergriffe - egal wo sie geschehen - einschreiten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, einleitend habe ich davon gesprochen, dass das Jahr 2008 ein Jahr ist, das uns an das dunkelste Kapitel in unserer Geschichte erinnert. Lassen Sie mich noch ergänzen: Andererseits jährt sich 2008 auch ein erfreuliches Ereignis in der jüdischen Geschichte. Der 14. Mai dieses Jahres war der 60. Geburtstag des Staates Israel.
Auch wir im Niedersächsischen Landtag haben dieses Geburtstages gedacht und uns in den großen Kreis der Gratulanten eingereiht und so unsere enge Verbundenheit und tiefe Freundschaft mit unseren Freunden in Israel zum Ausdruck gebracht. Deutschland hat sich zu seiner historischen Verantwortung für das entsetzlichste Verbrechen in seiner Geschichte bekannt und Verantwortung übernommen.
Aber es bedarf auch des Mutes der Erinnerung. Erinnerung und Gedächtnis müssen weitergegeben werden - um der Opfer willen, aber auch um unserer selbst willen. Wer aufrichtig sein will, muss sich seiner ganzen Geschichte stellen.
Der heutige Tag ist für mich aber auch ein Anlass, allen denen Dank zu sagen, die in den vergangenen Tagen in zahlreichen Städten und Gemeinden unseres Landes an die Ereignisse vor 70 Jahren erinnert haben - durch Zeitzeugenberichte, Gedenkveranstaltungen, Tagungen und die Dokumentation jüdischen Lebens in den Städten und Gemeinden.
Zunehmend müssen wir erfahren, dass die Generation unserer Kinder und Enkel keine oder nur eine oberflächliche Anschauung davon hat, was
am 9. November 1938 wirklich in Deutschland geschah, was Willkür, Entwürdigung, Vertreibung und Massenvernichtung bedeuten. Deshalb ist es so wichtig, an die damaligen Ereignisse zu erinnern. Das kann auf vielfältige Weise geschehen, am besten und am glaubwürdigsten durch Zeitzeugen, die uns über ihre persönlichen Erlebnisse berichten.
Wir Zuhörer können nur erahnen, wie schmerzhaft es sein muss, immer wieder an das unermessliche Leid erinnert zu werden, das über die jüdischen Familien hereingebrochen ist. Ich bin daher sehr froh, dass heute Herr Helmut Fürst bei uns zu Gast ist und uns gleich erzählen wird - über den 9. November 1938 und über das Leben und Überleben jüdischer Menschen in der nationalsozialistischen Diktatur. Wir alle dürfen dankbar dafür sein, dass Herr Fürst uns an seiner Lebensgeschichte teilhaben lässt. Ich danke Herrn Fürst für diesen Mut und seine Bereitschaft, vor dem Landtag zu reden. Der Dank gilt aber auch den weiteren anwesenden Zeitzeugen, nämlich Frau Gröne, Frau Kleinberger, Herrn Landsberg und Herrn Schartenberg, für ihre Bereitschaft, an dieser Gedenkstunde teilzunehmen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss für die jüdischen Opfer, ihre Familien und Nachkommen eines sagen, was am Montag bei der Kranzniederlegung an der zerstörten Synagoge in Hannover bei einem Gebet ausgesprochen wurde: Die immerwährende Bitte um Vergebung.
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Damen und Herren Minister, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Heute, 75 Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, 70 Jahre nach der von mir als 16-Jähriger erlebten und durchlebten sogenannten Reichskristallnacht und mehr als 63 Jahre nach meiner Befreiung aus dem KZ Riga kann ich sagen, dass ich 1945 die richtige Entscheidung getroffen habe. Richtig war, dass ich nach meiner Rückkehr nach Hannover dem Gedanken an Auswanderung entgegen der Entscheidung einiger meiner engsten Freunde nie Platz gelassen habe.
Es hat sich für mich gelohnt, in meiner Heimat zu bleiben, einen wirtschaftlichen Anfang zu wagen, eine Familie zu gründen, die Jüdische Gemeinde in Hannover gemeinsam mit wenigen anderen neu zu gründen und damit den Grundstock für das heute wieder erstarkte jüdische Leben in Hannover und Niedersachsen zu legen; gelohnt auch deshalb, weil ich 1945 fest daran geglaubt habe, dass in Deutschland eine demokratische Grundordnung Fuß fassen wird, die den wenigen überlebenden Juden eine feste Basis für ihr weiteres Leben bieten wird. Mein Glaube hat mich nicht betrogen.
Sieben Jahre zuvor, als ich am 9. November 1938 die Flammen sah, die aus der Synagoge Bergstraße - heute Rote Reihe -, nur einen Katzensprung von diesem Landtag über die Leine hinweg entfernt, emporschlugen, hatte ich jeglichen Glauben an Menschlichkeit verloren. Ich sollte eigentlich schon in Breslau sein, wohin meine Eltern mich zu einem Onkel schicken wollten - auch aufgrund einer Warnung eines in unserer direkten Nachbarschaft in der Bödekerstraße lebenden GestapoMannes, der uns als „seine“ Juden ansah und offensichtlich sein Gewissen erleichtern wollte, bevor er selbst zu neuen Gräueltaten Anlauf nahm. Auf dem Weg zum Bahnhof sah ich schon geplünderte Geschäfte jüdischer Eigentümer und hörte von der in Brand gesteckten Synagoge. Ich wollte das sehen und begab mich zu diesem ehemals wunderschönen, vom berühmten Baumeister Edwin Oppler gebauten Gotteshaus. Ich konnte nicht glauben, dass die Nationalsozialisten es wagen würden, diese für die jüdische Bevölkerung Hannovers geweihte Stätte anzutasten, in welcher ich drei Jahre zuvor meine Bar-Mitzwah begehen durfte. Ich sah in wenige empörte Gesichter, aber in sehr viele euphorische, die den Taten der SS, SA und der Polizei mit großem Enthusiasmus zusahen.
Wie ich nach 1945 erfahren konnte, waren unter denen, die die Synagoge in Brand setzten bzw. die Befehle dafür erteilten, Hannoveraner aus sehr bekannten Familien, ehemals bürgerlich und ebenso wie meine Eltern Kaufleute aus der Innenstadt. Ich war erschüttert! Für mich war diese unglaubliche Tat der definitive Hinweis auf weitere, schwerwiegende Folgen für uns Juden, ohne auch nur zu ahnen, welch schreckliche Zeiten noch auf meine Familie und mich zukommen würden. Ich fuhr dann noch nach Breslau und musste am 10. November 1938 mit ansehen, wie dort die ebenfalls von Edwin Oppler gebaute große Syn
Was danach geschah, ist nicht das Thema der heutigen Gedenkstunde. Nur so viel: Alles, was Sie gehört oder gelesen haben, ist nichts gegen das, was uns Juden in den Jahren 1933 bis 1945 wirklich widerfahren ist. Dass das nicht noch einmal passiert, ist auch eine Verpflichtung dieses Hauses. Ich appelliere an Sie alle, noch intensiver dafür zu arbeiten, die rechten Gruppen und rechts Denkenden aus den deutschen Parlamenten fernzuhalten.
Es wird sehr oft von der Verantwortung der deutschen Bevölkerung gegenüber den Juden in aller Welt gesprochen. Für mich gibt es nur einen Wunsch, gleichzeitig ist er aber auch eine unabdingbare Forderung an Sie alle: Sorgen Sie als gewählte Vertreter des deutschen Volkes dafür, dass die Demokratie in diesem Land nicht mehr gefährdet werden kann! Sorgen Sie dafür, dass Radikalismus im Keim erstickt wird! Sorgen Sie dafür, dass Ihr Handeln immer und immer wieder von diesen Leitlinien bestimmt ist! Dafür und dafür, dass meine Enkel und Urenkel dieser Anstrengung Ihrerseits jederzeit gewiss sein können und als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens in diesem unserem Land für die Zukunft in Frieden leben können, nehme ich Sie, meine Damen und Herren, in die Verantwortung.
Sehr geehrter Herr Fürst, haben Sie herzlichen Dank für das, was Sie uns berichtet haben. Sie haben uns aus eigenem Erleben die entsetzlichen Geschehnisse des 9. November 1938 und die Leiden jüdischer Menschen in Deutschland während der NS-Diktatur auf sehr eindringliche Weise nahegebracht. Diejenigen, die das Glück hatten, diese Diktatur nicht selbst miterleben zu müssen, können nur sehr schwer die ganze Tragweite des damaligen Geschehens ermessen. Aber Ihr Beitrag hat ein wenig Licht in dieses Dunkel gebracht. Wir haben heute viel von Ihnen erfahren und auch gelernt. Ich glaube, einen besseren, eindringlicheren und spannenderen Geschichtsunterricht gibt es nicht. Deshalb möchte ich Ihnen, aber ebenso unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus Hannover, die wir heute ebenfalls als Zeitzeugen eingeladen haben, nochmals ein ganz herzli
Ich werde die Sitzung jetzt für einige Minuten unterbrechen, um unseren Gästen die Gelegenheit zu geben, den Plenarsaal zu verlassen. Ich werde die Sitzung in wenigen Minuten wieder eröffnen.