Protokoll der Sitzung vom 16.06.2009

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Sie haben doch eben noch gesagt, wir stehlen denen ein Jahr! Sie müssen sich mal überlegen, was Sie sagen!)

- Ja, Sie brauchen aber zusätzliche Lehrkräfte für die Kurse. Beim Thema „Rettung der Hauptschulen“, Herr Klare, sind Sie von Ihrem ursprünglichen Konzept, das ganze Land mit dem Neustädter Modell zu überziehen, abgerückt, weil Sie erkannt haben, dass es für ganz Niedersachsen nicht umsetzbar ist, eben weil Niedersachsen so groß, vielfältig und sehr unterschiedlich in seiner Struktur ist. Aber Sie wollen alles schön vereinheitlichen mit der gleich langen Bildungszeit bis zum Abitur nach zwölf Jahren.

(David McAllister [CDU]: Quatsch!)

Leider bringen Sie den durchaus guten Ansatz der verstärkten beruflichen Bildung und Orientierung in Ihr bildungspolitisches Bild hinein. Da muss alles fein säuberlich getrennt und in verschiedene Schubladen gepackt werden: Es gibt diejenigen, die die berufliche Orientierung haben werden und einen Berufsabschluss machen, und diejenigen, die die akademische Laufbahn haben werden. Sie brauchen für jeden Zweig Ihrer Bildung in Niedersachsen eine eigene Schublade, fein säuberlich getrennt.

(Heidemarie Mundlos [CDU]: Wie gut, dass Sie nicht regieren!)

Bei dem ganzen Chaos, das Sie damit in Niedersachsen verursacht haben - das werden wir morgen bei den Demonstrationen wieder sehr eindrucksvoll sehen -, wird eines ganz deutlich, was nach meinem Empfinden das wirklich Schlimme an

der ganzen Geschichte ist: Sie haben kein Bild von einer zukunftsfähigen Bildungslandschaft in Niedersachsen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Sie haben kein Bild von einer modernen Schule, davon, wie Sie Schullandschaft gestalten können. Sie wissen nicht, wie die bildungspolitische Antwort auf die zurückgehenden Schülerzahlen sein soll. Sie wissen nicht, wie Sie mit dem grundsätzlich veränderten Anwahlverhalten von Eltern in Bezug auf weiterführende Schulen umgehen sollen, und Sie wissen nichts von der Bildungsaspirationsspirale, die sich durch dieses Anwahlverhalten der Eltern ergibt, deren Kinder es immer besser haben sollen, als die Eltern selbst es gehabt haben. Sie wissen nicht, wie Sie in der Bildung mit dem zunehmenden Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund sowie an Kindern mit Behinderungen umgehen sollen. Sie haben von alledem kein Bild und halten deshalb krampfhaft an Ihren alten Strukturen fest, während alle anderen längst in Richtung Zukunft unterwegs sind.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Herr Ministerpräsident, Frau Heister-Neumann, wir hätten gern mit Ihnen über den Weg hin zur Schule der Zukunft in Niedersachsen diskutiert. Unser Gesetzentwurf lag schon im Februar als Kompromissangebot für Sie in diesem Hause vor. Er strich das Errichtungsverbot und die Fünfzügigkeit für die Gesamtschulen ohne Wenn und Aber. Wir nehmen die Wünsche der Eltern ernst, die für ihre Kinder eine längere gemeinsame Schulzeit wünschen, und wir erkennen die Arbeit der Gesamtschulinitiativen an, die mit großem Elan und phantasiereichen Aktionen für eine Gesamtschule vor Ort kämpfen. Wir wollen, dass diese Gesamtschulen ihre Arbeit aufnehmen können, wo ein entsprechender Elternwille nachgewiesen wird und die Bereitschaft der kommunalen Schulträger besteht, diesen Elternwillen auch umzusetzen. Wir wollen die Kommunen in die Lage versetzen, eine Neuordnung ihrer Schullandschaft ohne restriktive Vorgaben von oben vornehmen zu können. Zum Beispiel könnten nach unserem Gesetzentwurf vorhandene Schulzentren, etwa eine zusammengefasste Haupt- und Realschule, jahrgangsweise aufsteigend in eine Gesamtschule umgewandelt werden. Die kommunalen Schulträger sowie der Niedersächsischen Landkreistag und der Niedersächsische Städtetag fordern dies im Übrigen auch. Ich bin mir sicher, dass sie im eigenen Inte

resse ihre Schullandschaft in einzelnen Kommunen sehr sachgerecht neu ordnen würden.

Meine Fraktion hat dieses Bildungskonzept vorgelegt. Sie jedoch haben eine Diskussion verweigert. Ich sage Ihnen deshalb hier noch einmal öffentlich unsere Forderungen für diesen ganzen Bereich: Wir brauchen für die Sicherstellung der Unterrichtsversorgung 2 000 zusätzliche Lehrkräfte und 2 000 zusätzliche Plätze an den Seminaren. Wir wollen Gesamtschulen dort errichten, wo es möglich ist und wo Eltern und Schulträger dies wünschen. Wir wollen die Vollen Halbtagsschulen erhalten und einen Ausbau der Grundschulen zu echten - ich betone: zu echten - Ganztagsschulen ermöglichen. Wir wollen voll ausgestattete Ganztagsschulen. Schließlich wollen wir die Möglichkeit, das Abitur in zwei Geschwindigkeiten zu absolvieren, und zwar in Eigenverantwortlichen Schulen, damit auch diese Vokabel endlich einmal ernst genommen wird.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Meine Damen und Herren, Sie haben sicherlich ähnlich viele Zuschriften wie wir alle in diesen Tagen bekommen.

(Hans-Christian Biallas [CDU]: Die haben Sie doch bestellt!)

- Die habe ich nicht bestellt.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Das ist ty- pisch!)

Sie trauen mir aber sehr viel Einfluss zu, Herr Biallas. Es ist nett, dass Sie mich so ehren. Aber leider ist das nicht alles auf mein Kommando hin passiert.

Einen Elternbrief möchte ich einmal zitieren:

„Es ist kein Gesichtsverlust, seine Meinung zu revidieren. Das haben viele andere, ja alle Menschen, schon einmal getan. Das zeigt die wahre menschliche Größe: in der Lage zu sein, den Weg zu wechseln und einen anderen zu beschreiten.“

Wir, meine Damen und Herren, wollen wissen, wer in Ihrer Fraktion heute zu welchem Thema wie abstimmt. Deshalb werden wir zu Nr. 4 betr. Gesamtschulen und zu Nr. 7 betr. Volle Halbtagsschule getrennt abstimmen und diese getrennte Abstimmung auch namentlich durchführen.

(Lebhafter Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Weil mich die Eltern gebeten haben, das mitzunehmen, damit es deutlich wird und in dieser riesengroßen Menge von Petitionen, die Sie einfach für erledigt erklären wollen, nicht untergeht, habe ich beispielhaft Unterschriften aus Aurich, einem der nördlichsten Orte unseres Bundeslandes, und aus Moringen, einem der südlichsten Orte unseres Bundeslandes, mitgebracht, mit denen jeder Elternteil und viele Schülerinnen und Schüler unsere Forderungen unterstützen, die wir Ihnen mit unserem Gesetzentwurf vorgelegt haben. Ich wünsche mir, dass jeder Einzelne von Ihnen, der vor Ort noch für die Volle Halbtagsschule sowie dafür gekämpft hat, an der IGS das Turboabitur zu verhindern, bei der namentlichen Abstimmung noch einmal darüber nachdenkt, ob er seiner Partei oder seinem Gewissen folgen sollte. In diesem Sinne überreiche ich diese Unterschriften - - -

(Hans-Christian Biallas [CDU]: Das ist keine Gewissensfrage, das ist eine Wissensfrage!)

- Doch, das ist eine Gewissensfrage, weil Sie damit nämlich eine Chance für Kinder verhindern, Herr Biallas, eine Chance für Kinder!

(Lebhafter Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Heinz Rolfes [CDU]: Was eine Gewis- sensfrage ist, das legen Sie nicht fest!)

- Genau dieser Zwischenruf,

(Heinz Rolfes [CDU]: Was für mich ei- ne Gewissensfrage ist, legen Sie nicht fest!)

dass es hier nicht um eine Gewissensfrage gehe, veranlasst mich, doch sehr nachdenklich zu werden.

(Heinz Rolfes [CDU]: Das kann ja grundsätzlich nicht schaden!)

Es geht hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, um die Chancen der Kinder in den nächsten Jahren in Niedersachsen.

(David McAllister [CDU]: Sie sind eine miese Schauspielerin!)

Diese sollten Sie ernst nehmen. Wir werden weiterhin für diese Chancen kämpfen.

Nach §§ 81 und 84 unserer Geschäftsordnung beantrage ich namentliche Abstimmung.

(Starker, nicht enden wollender Beifall bei der SPD und starker, anhaltender Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Frauke Heiligenstadt [SPD] überreicht dem Ministerpräsidenten einen Stapel Unterlagen)

Herzlichen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich jetzt Frau Kollegin Korter zu Wort gemeldet. Sie haben das Wort. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was die schwarz-gelbe Regierungskoalition uns hier heute mit ihrer Schulgesetznovelle vorführt, ist ein Trauerspiel, ein Musterbeispiel dafür, wie Gesetzgebung in einer Demokratie nicht stattfinden sollte.

(Beifall bei den GRÜNEN sowie Zu- stimmung bei der SPD und bei den LINKEN)

In überstürztem Eiltempo und mit Hängen und Würgen drückt die Regierungsmehrheit ein Gesetz durch den Landtag, mit dem grundlegend in die Arbeit der Hauptschulen, der Realschulen und der Gesamtschulen eingegriffen wird. Dabei weiß keiner in der Regierungskoalition so richtig, wie die Arbeit in diesen Schulen danach eigentlich aussehen soll. Eine fundierte Antwort auf die aktuellen Herausforderungen in der Schulpolitik ist das nicht.

Einziger Zweck dieser Schulgesetznovelle ist, eine zeitgemäße Weiterentwicklung der Schullandschaft in Niedersachsen zu blockieren und die Gesamtschulen zu schikanieren.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Damit hat es die schwarz-gelbe Mehrheit so eilig, dass sie den Protest der Eltern, der Schülerinnen und Schüler, der Lehrkräfte und auch der Landtagsjuristen in den Wind schlägt. Vor einer Tendenz zur gefahrgeneigten Tätigkeit hat der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst gewarnt - vergeblich. Frau Heister-Neumann und Herr Wulff, beide Juristen, wissen es natürlich besser.

Fast alle Verbände der Eltern, der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte, die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände, die katholische Kirche - viele, viele haben gegen die

sen Gesetzentwurf votiert. Sie haben sich dagegen ausgesprochen, weil wichtige Grundlagen gerade der Schulen in Niedersachsen, die in den letzten Jahren mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurden, auf diese Weise zerstört werden.

CDU, FDP und Landesregierung ist das völlig egal. Sie haben zwar über die Presse ein paar pädagogische Freiheiten angekündigt; angeblich soll man das Turboabitur nach diesen und jenen Kriterien, auf besonderen Antrag usw., mit Hängen und Würgen und Schikanen dann auch mit einer Differenzierung erst ab Klasse 9 erreichen können. Im Gesetz steht davon nichts. In den Gesetzentwurf haben Sie nicht ein einziges Wort von den Dingen, die die Verbände und die Oppositionsfraktionen eingebracht haben, aufgenommen - nicht ein einziges Wort! Hauptsache, Sie haben die konservativen Verbände eines Teils der Gymnasiallehrer und eines Teils der Gymnasialeltern hinter sich - bezeichnenderweise die Verbände genau der Schulform, die von diesem Gesetzentwurf gar nicht betroffen ist, wenigstens nicht hauptsächlich -, und das, obwohl die Gymnasien selber die Probleme mit dem Turboabitur bis heute nicht in den Griff bekommen haben.

(David McAllister [CDU]: Sie meinen das Standardabitur!)

Aber das ist ja eigentlich der Sinn Ihrer Schulgesetznovelle, Herr McAllister: Wenn es schon den Gymnasien nicht gelingt, mit dem Turboabitur klarzukommen, dann soll dieser Fehler wenigstens auch noch den Gesamtschulen aufgezwungen werden. Das ist Ihre Vorstellung von Gleichheit.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Zugunsten von ein paar Stellen an den Gymnasien wollen Sie das Reformkonzept der Vollen Halbtagsgrundschulen auch noch kaputt machen.

In der letzten Wahlperiode hatte die schwarz-gelbe Landesregierung die Neugründung von Gesamtschulen ganz verboten. Dies konnte sie angesichts der immer größeren Zahl von Kindern und Jugendlichen, die abgewiesen werden mussten, weil sie keinen Platz an einer Gesamtschule bekamen, nicht durchhalten. Kurz vor der Landtagswahl hat der Ministerpräsident deshalb eine Lockerung versprochen. Sie alle erinnern sich.