Protokoll der Sitzung vom 16.06.2009

Sie haben in den vergangenen fünf Wochen seit der Einbringung Ihres Gesetzentwurfs ein Musterbeispiel dafür abgeliefert, was man sich alles leisten kann, wenn man die Mehrheit hat. Dann kann einem die Meinung von Betroffenen egal sein, die Meinung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von Verbänden, Institutionen und sonstigen Zusammenschlüssen, von Jung und Alt, von Menschen, die noch in der Schule sind oder deren Kinder in der Schule sind. Alles wird von Ihnen ignoriert.

(Beifall bei der LINKEN)

Protestaktionen von Tausenden Bürgerinnen und Bürgern - damit meine ich nicht nur die Großdemonstration in Hannover im Mai mit weit über 10 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, sondern auch die unzähligen Proteste direkt vor Ort in den Kommunen. Ich war in den letzten Wochen bei zahlreichen Diskussionsveranstaltungen zum Schulgesetz, und überall gab es eine deutliche Mehrheit für längeres gemeinsames Lernen, für integrativen Unterricht und gegen soziale Selektion im Schulwesen, also gegen das Turboabitur.

Wenn Sie schon nicht auf die Opposition hören wollen, meine sehr verehrten Damen und Herren zur Rechten, dann hören Sie wenigstens auf die Menschen in diesem Land.

(Beifall bei der LINKEN)

An die 5 000 Petitionen haben die Landtagsverwaltung erreicht - ich vermute, so viele wie noch nie zuvor bei einer vergleichbaren Gesetzesnovelle. 5 000 Petitionen, das sind 5 000 Argumente gegen das Turboabitur und gegen die Abschaffung der Vollen Halbtagsgrundschulen. Dazu 12 000 Menschen im Mai auf der Straße in Hannover, und morgen wird diese Zahl sicherlich noch getoppt werden.

Und was machen Sie? - In einer unglaublichen Arroganz der Macht kümmern Sie sich nicht um das Anliegen der Zigtausend, sondern peitschen hier und heute das Turboabitur an der IGS und die Abschaffung der Vollen Halbtagsgrundschulen durch. Dann dürfen Sie sich später nicht wundern, wenn wieder einmal über wachsende Politikverdrossenheit und über das Vorurteil, die oben wissen doch nicht, was im Lande läuft, gesprochen wird.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Meine Fraktion schließt sich dem Antrag der SPD auf namentliche Abstimmung über die Nrn. 4 und 7 des Artikels 1 der Schulgesetznovelle an, um ihre ganz persönliche Verantwortung für das Schulsystem in Niedersachsen zu dokumentieren, meine Damen und Herren zur Rechten.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie werden sich gegenüber Ihren Wählerinnen und Wählern und gegenüber den Schulträgern in Ihrem Wahlkreis erklären müssen, warum Sie an Grundschulen sparen und die Gesamtschulen zerstören wollen. Sie werden darüber Rechenschaft ablegen müssen, warum Sie den Grundschulen Lehrkräfte wegnehmen und den integrativen Kern der Gesamtschulen kaputt machen wollen.

Meine Fraktion wird heute geschlossen gegen das Turboabitur an den Gesamtschulen und gegen die Kürzung bei den Lehrkräften an Grundschulen stimmen und Ihre Gesetzesnovelle ablehnen. Diese Schulgesetznovelle ist völlig unnötig und wird von niemandem im Land gewollt.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich kann Ihnen gern noch einmal erklären, warum wir gegen Ihr Gesetz stimmen werden.

Erstens. Im gegenwärtigen Schulsystem sieben Sie Kinder im Alter von zehn Jahren aus und verteilen Sie auf unterschiedliche Schulformen, die unterschiedliche Bildungswege und damit auch Lebenschancen eröffnen. Andersherum gesagt: Mit der Aufteilung der Kinder nach zehn Jahren schließen Sie Bildungs- und Lebenswege für diese Kinder. Das heißt, die ersten vier Jahre an der Schule sind gegenwärtig von höchster Bedeutung für das zukünftige Leben der Schülerinnen und Schüler. Und diesen Jungen und Mädchen streichen Sie jetzt noch die Lehrkräfte zusammen! Das machen wir nicht mit.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Sie ändern den Bildungsauftrag der allgemeinbildenden Schulen - ich sage zulasten der Gymnasien. Sie verpflichten die Hauptschulen mit dieser Gesetzesänderung, berufsbildende Elemente aufzunehmen. Das geht über den Auftrag der Berufsorientierung im Schulgesetz hinaus. Die Realschulen müssen mit ihrer Schwerpunktbildung einseitig auf die Fachgymnasien als mögliche weiterführende Schulform orientieren, während die Gymnasien weitgehend von der Möglichkeit der beruflichen Orientierung ausgeschlossen sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Das soll offensichtlich das letzte Bisschen an Durchlässigkeit in Ihrem bevorzugten gegliederten Schulsystem zerstören und ist entlarvend für Ihre Schulpolitik, die mit Chancengleichheit unabhängig von der sozialen Herkunft nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens: das Turboabitur als Zwangsveranstaltung. Wenn wir hier in einem Karl-May-Buch wären, würde ich sagen: Häuptling Wulff und seine Stämme reden mit gespaltener Zunge.

(Beifall bei der LINKEN)

Auf der einen Seite haben wir die Eigenverantwortliche Schule, die Sie bei jeder Gelegenheit in den Himmel loben und fördern und stärken. Auf der anderen Seite haben wir Ihre verbohrte Ideologie, derzufolge man sehr gut Kinder im Alter von zehn Jahren aussortieren kann, Gesamtschulen falsch sind und das dreigliedrige Schulsystem der Weisheit letzter Schluss ist. Das führt dazu, dass Sie den Schulen die Verantwortung rauben, eigenständig zu entscheiden, auf welchem Weg und in welcher Zeit sie die Schülerinnen und Schüler zum Abitur führen wollen. Wo ist denn dabei der Freiheitsgedanke? - Herr Kollege Försterling ist gerade nicht da. Die Liberalität scheinen Sie hinter der Ideologie - - -

(Zurufe von der CDU: Doch!)

- Doch, da ist er. Ich habe Sie nicht gesehen, Entschuldigung! - Sonst sind Sie doch immer die Ersten, wenn es darum geht, Freiheit, Deregulierung und Eigenverantwortung zu predigen. Dann seien Sie doch konsequent, und erlauben den Schulen zumindest, eigenverantwortlich darüber zu entscheiden, ob sie das Abitur nach 12 oder 13 Jahren anbieten wollen! Aber nein, Sie kehren an dieser Stelle einen staatlich gelenkten Dirigismus hervor, den Sie an anderer Stelle immer geißeln.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Ich glaube, das hat bei Ihnen etwas mit Angst zu tun. Wenn Sie wirklich glauben, das gegliederte Schulsystem ist im Kern besser, warum lassen Sie dann nicht Gesamtschulen bedingungslos zu? - Wissen Sie, was ich glaube? - Diese Angst ist sogar berechtigt. Sie wissen innerlich, dass eben das integrative System besser ist. Dann ist Ihre Angst berechtigt.

(Beifall bei der LINKEN - Glocke der Präsidentin)

- Ich komme zum Schluss.

Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren aufseiten der Regierungskoalition: Kommen Sie doch noch zur Vernunft, und stimmen Sie gegen diese Schulgesetznovelle! Noch haben Sie die Chance, für die Anträge der Opposition zu stimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun hat sich von der CDU-Fraktion der Kollege Klare zu Wort gemeldet. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich spreche heute für die CDU-Fraktion zu dem neuen Schulgesetz.

(Ah! bei der SPD)

Wir haben ja Hunderte von Petitionen und Tausende von Unterschriften bekommen. Sehr viele Menschen werden heute mit großem Interesse nach Hannover schauen. Das ist auch sehr gut so, weil sie auch einmal die Argumentation erleben müssen, die heute von Ihnen an den Tag gelegt worden ist.

Meine Damen und Herren, wir haben uns extra darum bemüht, nach Ihnen zu sprechen; denn man muss sich Ihre Argumentation zur Schulpolitik anhören, um zu wissen, auf welchen Wegen Sie Schulpolitik machen. Sie sind hier nicht auf einer Demonstration, meine Damen und Herren, sondern in einer ernsthaften Debatte, in der es um die Zukunftsentwicklung und damit auch um die Eröffnung von Chancen für unsere Schüler geht.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Heiner Bartling [SPD]: Das sollten Sie mal zur Kenntnis nehmen!)

Herr Kollege Klare, einen Augenblick! - Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Borngräber?

Nein, ich habe doch noch gar nicht begonnen, Herr Borngräber.

(Jörg Bode [FDP]: Aber Beifall haben Sie schon bekommen!)

Meine Damen und Herren, die heutige Debatte ist ein sehr realistisches Bild der Debatten der letzten Wochen. Das war eine Pauschalkritik. Das war eine pauschale Abwertung. Das war eine Kritik über alle Bereiche. Das Gesetz umfasst im Grunde genommen vier Punkte. Sie aber haben versucht, die gesamte Schulpolitik in einer Art und Weise niederzureden, die den Eindruck erweckte, dass Sie sich mit den schulpolitischen Themen überhaupt nicht befasst haben.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Das kann man doch auch gar nicht schön- reden!)

Meine Damen und Herren, ich habe in der Debatte immer angemahnt: Lasst uns miteinander reden und uns zuhören!

(Zustimmung bei der CDU)

Es wurde aber nicht zugehört. Das ist möglicherweise auch jetzt der Fall. Ich wollte mit Ihnen auch über die vielen Maßnahmen sprechen, die wir zur Qualitätsverbesserung in den Schulen ergriffen haben. Ich wollte über Ganztagsschulen reden, über Lehrereinstellungen, über Unterrichtsversorgung generell und über frühkindliche Bildung. All das ist aber pauschal niedergemacht worden, meine Damen und Herren. Wenn man dann hier aber solche Begrifflichkeiten wie „Chaos“, „Betrug“, „demokratiefeindlich“, „Arroganz der Macht“ und „gespaltene Zunge“ hört,

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Heiner Bartling [SPD]: So ist das! Das ist die Realität! Das ent- spricht der Realität!)

dann kann ich nur sagen: Dies ist der Debatte nicht würdig. Ich kann Sie wirklich nur ernsthaft bitten, zu einer Sachdebatte zurückzukehren. Möglicherweise kommen wir nach dieser Abstimmung wieder dazu.

Herr Klare, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage - - -

Nein, ich werde keine Zwischenfragen zulassen. Sie können sich ja melden und nachher eine Stellungnahme abgeben.

Meine Damen und Herren, das ist der Verlauf der Debatte, wie ich sie in den letzten sechs Jahren erlebt habe. Ihnen allen ging es nicht mehr um eine Sachdebatte, sondern um politische Stimmungsmache.