Protokoll der Sitzung vom 08.09.2010

Erste Beratung: Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Niedersachsen - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 16/2772

Zur Einbringung hat sich von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Kollegin Helmhold zu Wort gemeldet. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wann haben Sie eigentlich zuletzt mit einem Menschen mit Behinderung zu tun gehabt?

(Roland Riese [FDP]: Gestern!)

Ich meine nicht bei Besuchen von Einrichtungen, sondern im ganz normalen Leben, im Sportverein, da, wo Sie vielleicht im Chor singen, essen gehen und Ihre sonstige Freizeit verbringen.

(Ernst-August Hoppenbrock [CDU]: Wann haben Sie das denn gehabt?)

Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir alle das an einigen wenigen Fingern abzählen können. Das hat etwas damit zu tun, dass Inklusion bei uns bislang nicht stattfindet.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Inklusion ist aber das zentrale Thema der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung, die seit 2008 in Deutschland geltendes Recht ist.

(Zuruf von Ingrid Klopp [CDU])

- Sie können sich doch gleich zu Wort melden, Frau Klopp. Machen Sie doch gleich eine Kurzintervention. Ich leihe Ihnen auch meine Karte.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wo Frau Helmhold recht hat, hat sie recht. Es ist etwas unruhig. Und jeder hat die Möglichkeit, eine Kurzintervention im Anschluss an die Ausführungen von Frau Helmhold zu machen. Sie müssen sich nur innerhalb der Fraktionen verständigen: eine pro Fraktion. Ich bitte um etwas mehr Ruhe. - Frau Helmhold!

Mit dieser Konvention ist in der Politik für und mit Menschen mit Behinderung ein Paradigmenwech

sel eingetreten. Diese Menschen sind nicht mehr ein Objekt der Fürsorge, sondern die UN-Konvention stellt klar, dass die Politik von der Fürsorge auf eine Politik der Menschenrechte umschwenken muss.

Einige werden sich vielleicht die Frage stellen, welche Sonderrechte für Menschen mit Behinderungen diese Konvention eventuell beinhaltet. Die Antwort lautet: keine. Es gibt keine Sonderrechte in dieser Konvention. Es geht nur darum, dass Menschen mit Behinderungen die universellen Menschenrechte erhalten, die ihnen zustehen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Artikel 1 der Konvention sagt:

„Zu den Menschen mit Behinderung zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren ihre volle und wirksame Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der gesellschaftlichen Teilhabe behindern können.“

Das ist ein sehr zentraler Punkt. Er heißt anders ausgedrückt: Man ist nicht behindert, man wird behindert.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es wird die Aufgabe der Zukunft sein, das geltende Recht der Teilhabe umzusetzen. Die Bundesregierung hat schon bei der Verabschiedung der UN-Konvention den Eindruck zu erwecken versucht, zur Umsetzung bedürfe es keiner gesetzlichen Änderungen. Das ist nicht nur sachlich falsch, es ist auch politisch töricht. Allein die Vorschläge der Arbeits- und Sozialminister zur Reform der Eingliederungshilfe, die wir hier im Landtag sehr lange diskutiert haben, erfordern erhebliche Weichenstellungen in den Sozialgesetzbüchern IX und XII. Passiert ist bislang noch nichts.

Aber auch die Bundesländer sind eindeutig gefordert, eigene Aktionspläne zur Umsetzung der Konvention vorzulegen. Warum? - Die Antwort ist einfach. Es gibt einen eindeutigen Handlungsauftrag. Und wir wollen und müssen doch vorankommen. Schauen Sie sich einmal die windelweichen Passagen des Landesgleichstellungsgesetzes zur Herstellung von Barrierefreiheit in Gebäuden an. Hier besteht Handlungsbedarf, und zwar in Richtung universelles Design. Wir müssen alles, was es gibt,

so designen, dass es für alle Menschen universell gut zugänglich ist.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Das ist nicht nur gut für Menschen mit Behinderungen, sondern auch für Menschen mit Kindern oder für Menschen, die Rollatoren benutzen usw. Das ist sozusagen auch ein Wechsel der Blickrichtung.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die Bundesregierung hat für den Herbst einen eigenen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention angekündigt. Sie werden vielleicht gleich sagen, dass Niedersachsen an diesem nationalen Aktionsplan mitarbeitet. Das ist uns neulich in einer Unterrichtung mitgeteilt worden. Uns reicht das aber nicht. Wir wollen der Verpflichtung, die Deutschland mit der Unterzeichnung eingegangen ist - und das ist geltendes nationales Recht -, verstärkt nachkommen. Wir wollen dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderungen in der Mitte der Gesellschaft ankommen.

Das Land Rheinland-Pfalz hat bereits einen solchen, geradezu vorbildlichen Aktionsplan, aus dem minutiös hervorgeht, welche Regierungsebene jeweils für welche Schritte zuständig ist, vorgelegt. Ich nenne nur einige wenige Umsetzungsziele aus dem dortigen Aktionsplan: Inklusion ist als Qualitätsziel bei der Schulentwicklung und den Kindertagesstätten verankert. Hierzu hatten wir Ihnen bereits einen umfangreichen Gesetzentwurf vorgelegt. Regionale Beratungsnetzwerke „Barrierefreies Wohnen“ sollen entstehen. Historische Gebäude sollen barrierefrei zugänglich werden. Assistenz von behinderten Menschen in Krankenhäusern soll durch ein Landesgesetz geregelt werden. Vorgenommen hat man sich auch den Abbau der stationären Versorgung psychisch Kranker. Das sind nur einige wenige Punkte aus dem umfangreichen Katalog.

Ich will Ihnen einmal ein Beispiel aus der Praxis des Lebens nennen, das mich sehr nachdenklich gemacht hat. Ich habe neulich eine Frau kennengelernt, die an Multipler Sklerose erkrankt ist und deswegen im Rollstuhl sitzt. Sie hat mir erzählt, dass sie Niedersachsen verlassen muss, wenn sie ins Krankenhaus muss. Denn hier findet sie keine rollstuhlgerechten Zimmer, die ihren Behandlungsbedürfnissen entsprechen. Sie muss nach Hessen ausweichen, um im Krankenhaus behandelt zu werden. In Niedersachsen muss sie sich darauf

einstellen, mit einem Katheter und mit Windeln versorgt zu werden, obwohl dies gar nicht notwendig ist - nur weil keine Barrierefreiheit herrscht.

(Roland Riese [FDP]: Das ist doch Unfug!)

Die Würde des Menschen ist da offenbar höchst antastbar.

An diesem Beispiel können wir sehen, warum man so einen Aktionsplan braucht. Wir müssen uns doch überlegen, wie man das verändern kann, wie man zukünftig bei Krankenhausinvestitionen darauf achten kann, dass die Bedürfnisse von Menschen im Rollstuhl, die in einem Krankenhaus versorgt werden müssen, berücksichtigt werden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wegen dieser vielen kleinen Diskriminierungs- und Barrierebeispiele, die es im täglichen Leben von Menschen mit Behinderungen gibt - aber nicht nur deswegen -, brauchen wir einen Aktionsplan auf Landesebene. Die Landesregierung soll dem Landtag regelmäßig über die Fortschritte berichten und in diesen Prozess die Betroffenen intensiv mit einbeziehen.

Unser Ziel heißt: alles inklusive. Es ist normal, verschieden zu sein. Aber diese Normalität muss auch gelebt werden können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD und bei der LINKEN)

Danke schön, Frau Kollegin Helmhold. - Zu einer Kurzintervention auf Ihren Beitrag hat sich Frau Kollegin Körtner von der CDU-Fraktion zu Wort gemeldet. Sie haben anderthalb Minuten. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Frau Kollegin Helmhold, ich habe vorhin dazwischengerufen - das ist in der Tat unhöflich. Deshalb habe ich mich zu einer Kurzintervention gemeldet.

Ihre Frage „Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal mit Menschen mit Behinderung zu tun gehabt?“, zeigt Ihr in diesem Plenum immer wieder vorgetragenes moralinsaures und unerträgliches Gutmenschentum.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zuruf von der CDU: Arroganz! - Kres- zentia Flauger [LINKE]: Das hat sie al- le gefragt!)

Frau Helmhold, das haben Sie ja nicht zum ersten Mal gemacht. Das ist unerträglich.

(Stefan Wenzel [GRÜNE]: Was ist denn daran so schlimm?)

Das zeigt aber vor allem Ihr Selbstbild: Ich bin die Gute, und ihr müsst noch an euch arbeiten.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Sie hat die Frage doch an alle gerichtet!)

Wir alle haben die UN-Konvention - die Bundesregierung und der Bundesrat - ratifiziert. Wir alle stehen dazu. Für uns ist das ein ganz wichtiges Instrumentarium, und zwar in allen Bereichen, nicht nur im schulischen Bereich, sondern auch in den von Ihnen angesprochenen Bereichen. Ich finde, Sie sollten ein bisschen mehr an sich arbeiten und uns nicht ständig dieses Gutmenschentum - „ich bin die Gute, und die anderen sind es nicht“ - vortragen.

(Starker Beifall bei der CDU und bei der FDP - Johanne Modder [SPD]: Werden Sie mal nicht unverschämt! - Dr. Manfred Sohn [LINKE] meldet sich zu einer Kurzintervention)

Herr Dr. Sohn, das wäre nur gegangen, als Frau Helmhold gesprochen hat. Dann wäre eine Kurzintervention möglich gewesen. - So hat Frau Kollegin Helmhold jetzt die Möglichkeit, zu antworten. Sie haben ebenfalls anderthalb Minuten. Bitte schön!