Wenn Sie einmal an einer Förderschule Schwerpunkt Lernen hospitiert haben, dann werden Sie das mitbekommen haben. Denn die Situation sieht so aus, dass in Klassen mit bis zu 16 Schülerinnen und Schülern in der Regel eine Lehrkraft ohne Schulsozialarbeit immer die Aufgabe hatte, den Klassenunterricht und die Einzelförderung von Schülerinnen und Schülern mit ganz unterschiedlichen Hintergründen unter einen Hut zu bringen. Nicht wenige Lehrkräfte sind an dieser Situation schier verzweifelt. Von daher ist der Wunsch der Lehrkräfte nach Erhalt dieser Schulform wirklich an vielen Orten überhaupt nicht vorhanden.
Wir haben schon darüber gesprochen: Im März 2012 wurde mit großer Mehrheit in diesem Haus das Gesetz zur Umsetzung der schulischen Inklusion in Niedersachsen besprochen, damit dann zwangsläufig das Auslaufen der Förderschule Schwerpunkt Lernen im Primarbereich und - das weiß man, wenn man sich mit Schulstrukturen auskennt - damit dann auch zwangsläufig das Ende dieser Schulform perspektivisch eingeläutet. Das ist ja das, was Sie nicht wahrhaben wollen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition.
Seitdem gibt es zunehmend Förderschulstandorte, die keine Schülerinnen und Schüler mehr haben. Schulen werden in Förderzentren umgewandelt, zusammengelegt oder anderweitig genutzt. Wir haben in den letzten Jahren als Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker von Rot-Grün immer wieder Schulstandorte dieser Schulform besucht und unterschiedliche Reaktionen erfahren. Allerdings waren sich alle Schulleitungen und Lehrkräfte in einem Punkt einig: Der 2012 eingeleitete Prozess des Auslaufens der Förderschule Schwerpunkt Lernen ist schon aus organisatorischen Gründen unumkehrbar.
Ich will das einmal an einem Beispiel aus meiner Heimatstadt und der Region Braunschweig deutlich machen. Die geschilderte Sonderschule aus dem Beispiel meiner eigenen Schulzeit hat mittlerweile keine Schülerinnen und Schüler mehr. In Braunschweig gibt es ab dem kommenden Schuljahr nur noch eine Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Eine weitere läuft jetzt aus; sie hat nur noch 20 Schülerinnen und Schüler.
Selbst wenn der Gesetzentwurf der CDU beschlossen werden würde, würde sich daran überhaupt nichts ändern. Der Schulträger würde so verfahren, schon allein aus organisatorischen Gründen, aber auch in enger Abstimmung mit den Lehrkräften, mit den Eltern, mit Schülerinnen und Schülern. Es würde noch eine Schule für Stadt und Region Braunschweig übrigbleiben; mit 100 Schulplätzen.
Und da suggerieren Sie den Menschen im Land, Sie würden in diesem Bereich Wahlfreiheit wiederherstellen. Das ist unseriös, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Bei den vielen Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf kann es gar nicht mehr um Wahlfreiheit gehen, weil es landesweit gar nicht mehr zu machen ist. Wir haben die Schulstandorte gar nicht mehr.
Es ist Sand, was Sie den Menschen in die Augen streuen, und das macht die Unseriosität dieses Gesetzentwurfes deutlich, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wenn sich dann auch noch Kollege Försterling hinstellt, hier immer wieder den Elternwillen betont und sich als Gralshüter des Elternwillens und der Wahlfreiheit aufspielt, dann kann man nur sagen: Sie haben in eigener Regierungsverantwortung an ganz anderer Stelle - ich nenne als nur Stichwort die Integrierte Gesamtschule - die Wahlfreiheit der Eltern mit den Füßen getreten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Und jetzt spielen Sie sich hier in dieser Art und Weise auf.
Ich will aber noch einmal auf die Schulgesetznovelle im Jahr 2015 zurückkommen, die von Ihnen angeführt wird.
Wir haben eine umfangreiche Anhörung gehabt - vielleicht können Sie sich noch gut daran erinnern; das ist ziemlich genau zwei Jahre her -, in der vor allen Dingen auch die Verbände, die die Menschen mit Behinderungen vertreten, unterschiedliche Meinungen zu den verschiedenen Förderschularten vertreten haben. Es gab die Maximalforderung der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen, Petra Wontorra, die gesagt hat: Über kurz oder lang sollten alle Förderschulen abgeschafft werden, um die totale Inklusion an Schulen durchzusetzen. - Das ist ein Diskussionspunkt. Wir haben uns diese Sichtweise nicht zu eigen gemacht.
Andere Verbände haben gesagt: Im Bereich Hören, im Bereich Sehen, im Bereich geistige Entwicklung usw. müssen die Standorte erhalten bleiben. - Das haben wir uns sehr wohl zu eigen gemacht.
Es waren sich aber fast alle in der Anhörung einig, dass das Auslaufen der Förderschule Schwerpunkt Lernen richtig ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, und zwar der Verband der Sonderpädagogen, der Landeselternrat, der Landesschülerrat, die GEW als größte Lehrervertretung, der Schulleitungsverband Niedersachsen. Sie alle waren sich in dieser Anhörung in einem Punkt einig. Und da werfen Sie uns Realitätsverlust vor und werfen uns vor, wir würden nicht mit den Menschen im Land sprechen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Die Anhörung hat eines deutlich gemacht: Es gibt unterschiedliche Sichtweisen zur Inklusion. Sie haben vorhin Reinhard Fricke zitiert. Ich glaube, Reinhard Fricke haben sich die Nackenhaare gekraust, wenn er verfolgt hat, dass er heute in dieser Debatte hier ausgerechnet von Ihnen zitiert wird.
Reinhard Fricke ist - ich kenne ihn gut - ein sehr erfolgreicher Schulleiter. Die Schule liegt zufälligerweise in meinem Wahlkreis. Ich war schon häufig da und schätze ihn sehr. Reinhard Fricke ist ein absoluter Befürworter des Auslaufens der Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen.
Reinhard Fricke hat gesagt: „Wir brauchen keine Schulstrukturdebatte, sondern eine Qualitätsdebatte!“ Lassen Sie uns diese endlich führen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Vielen Dank, Herr Kollege Bratmann. - Für die Landesregierung hat nun das Wort Frau Kultusministerin Heiligenstadt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gemeinsames Leben braucht gemeinsames Lernen in den Schulen. Mit dem gleichlautenden Positionspapier hat die Bundesvereinigung Lebenshilfe bereits im Jahr 2009 deutlich gemacht, dass das in der UNBehindertenrechtskonvention verbriefte Menschenrecht auf Teilhabe und Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung einen Gestaltungsauftrag auch für die Bildungs- und Schulpolitik beinhaltet.
Mehr noch: Die Inklusion, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist Verpflichtung für unsere gesamte Gesellschaft. Im Kern geht es dabei um nicht weniger als die Verwirklichung eines Grundrechts, das Grundlage für alle Menschenrechte ist, nämlich der Gleichheit aller Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit.
Einen Moment, bitte, Frau Ministerin! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, die Beratungen am Rande des Plenarsaals einzustellen. Es ist nämlich sehr unruhig hier. - Herr Abgeordneter
Ich sage es ganz deutlich: Wer am inklusiven Bildungssystem rüttelt, erschüttert die Verwirklichung eines Menschenrechts, nämlich des zentralen Gleichheitsgrundsatzes. Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion der CDU, wollen mit Ihrem Gesetzentwurf, mit Ihrem Rückfall in alte Muster der Segregation, genau diesen Rückweg einschlagen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dem vom Niedersächsischen Landtag mit großer Mehrheit beschlossenen Gesetz zur Einführung der inklusiven Schule in Niedersachsen von 2012 sind die Förderschulen im Förderschwerpunkt Lernen aufsteigend aufgehoben worden.
Herr Försterling, damit Sie hier nicht Geschichtsklitterung betreiben: Der entsprechende Antrag der SPD-Fraktion hat gar keine Auflösung von Förderschulen vorgesehen. Ich kann mich aber noch sehr gut an Gespräche u. a. mit Vertretern der FDP und der CDU erinnern, in denen auch das Auslaufen der Förderschulen Lernen, Sprache sowie Emotionale und Soziale Entwicklung diskutiert worden ist. Dies nur zur Richtigkeit der damaligen Entwicklung in 2012!
Was sich zunächst auf den Primarbereich bezogen hat, ist konsequenterweise mit dem Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes im Juni 2015 auch auf den Sekundarbereich ausgeweitet worden.
In dem von der Fraktion der CDU vorgelegten Gesetzentwurf sehen wir einen weiteren Versuch, mit einer Rolle rückwärts das eigentlich 2012 selbst erklärte Mustergesetz für alle Ländergesetze in den nächsten Jahren - das war jedenfalls die Aussage des damals amtierenden Kultusministers - und die Umsetzung der schulischen Inklusion zu torpedieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gemeinsam haben wir beschlossen, die Inklusion schrittweise voranzubringen. Nun setzen Sie sich dafür ein, dass die Schülerinnen und Schüler, die vier Jahre inklusiv an einer Grundschule unterrichtet
worden sind, wieder einen Schritt zurück in die Förderschule gehen. Sie wollen Inklusion also schrittweise abbauen.
Der damalige Kultusminister Althusmann hat das Gesetz zur Einführung der inklusiven Schule als klugen Mittelweg, was die Ausgestaltung des Elternwahlrechts anbetrifft, bezeichnet. Dieser kluge Mittelweg schloss die Abschaffung der Förderschule Lernen im Primarbereich ein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, welche Annahmen liegen denn Ihrem Verständnis von Wahlfreiheit für Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Lernen zugrunde? Weshalb sind Sie so inkonsequent und beantragen nicht gleich auch die Wiedereinführung der Förderschule Lernen im Primarbereich?
Gehen Sie davon aus, dass der gemeinsame Unterricht nur in der Grundschule möglich ist? Oder kommt es in Ihren Augen in der Grundschule nicht darauf an, wie sich ihre Schülerschaft zusammensetzt?