Protokoll der Sitzung vom 15.05.2014

Ich will ein weiteres Thema anschneiden. Zur Frage der gesellschaftlichen Teilhabe gehört für mich auch ein verantwortungsvoller Umgang mit Flüchtlingen. Wir brauchen eine europäische Lösung. Ich erinnere an die Bilder vor Lampedusa: die Boote, die Menschenleichen, die im Meer treiben. - Ich sage: Italien wird dieses Problem, diese Frage

nicht alleine lösen können. Es braucht eine europäische Lösung.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich habe schon die Frage von demokratischen Strukturen angesprochen und will daran anknüpfen. Der Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik muss von einem Mehr an Demokratie in Europa begleitet werden. Die Europäische Kommission muss reformiert werden. Klare Entscheidungsstrukturen, mehr Transparenz und Offenheit sind nötig. Das Europäische Parlament, die Stimme der Bürgerinnen und Bürger in Europa, muss weiter gestärkt werden.

Meine Damen und Herren, die Wahl des nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission über das Europäische Parlament ist hierzu ein ganz wichtiger und richtiger Schritt. Das Recht zur Gesetzgebungsinitiative gehört aber genauso dazu - und auch das Budgetrecht, das Königsrecht des Parlaments.

Ein Mehr an Demokratie in den europäischen Institutionen ist das eine. Zur Demokratie gehört aber auch deren engagierte Verteidigung und die Frage, wie man mit Mitgliedstaaten umgeht, in denen demokratische Rechte nicht sonderlich ausgebaut sind. Wir dürfen an dieser Stelle nicht wegschauen, und wir dürfen Europa nicht populistischen oder sogar rechtsnationalen Kräften überlassen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir dürfen an dieser Stelle nicht wegschauen, nicht weghören.

(Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann übernimmt den Vorsitz)

Ich stimme Herrn Thümler ausdrücklich zu, wenn er sagt: Natürlich müssen wir als Demokratinnen und Demokraten diese Auseinandersetzung suchen und uns diesen Kräften entschieden entgegenstellen. Aber wir müssen die Sorgen ihrer Wählerinnen und Wähler sehr ernst nehmen. Das ist anstrengend, das ist unbequem. Aber ich glaube, das ist der einzig gangbare Weg.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich will mit einem Zitat enden.

„Wir kommen aus Heidelberg in Europa, wir kommen von Bonn in Europa, wir kommen

von Mainz in Europa, wir kommen aus Amsterdam in Europa, Rom in Europa, Bern in Europa.“

So die Ausrufe junger Europäer, die 1950 an der deutsch-französischen Grenze die Schlagbäume symbolisch niedergerissen haben. Beim Zitieren geht die Atmosphäre leider ein bisschen verloren. Wenn man sich aber die Tondokumente noch einmal anhört, dann spürt man, welcher Enthusiasmus hinter der Idee der europäischen Einheit gestanden hat.

Ich würde mich sehr freuen, wenn es uns gemeinsam gelänge, ein bisschen von dieser Begeisterung wieder zu wecken und das Engagement für Europa und am 25. Mai für das, wie ich finde, Weltwunder Europäisches Parlament, so wie es auch der Journalist Heribert Prantl vor einigen Wochen formuliert hat, wiederzubeleben.

Helfen wir alle mit! Unser Europa hätte es verdient, und Niedersachsen braucht ein starkes Europa.

Vielen Dank.

(Starker Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Modder. - Es spricht jetzt im Rahmen der Aussprache die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Kollegin Anja Piel. Sie haben das Wort.

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Knapp 20 Millionen Zuschauer haben am vergangenen Wochenende den Eurovision Song Contest verfolgt. Millionen Europäerinnen und Europäer haben eine gemeinsame Party gefeiert und damit gezeigt, dass Europa stattfindet, dass Europa spannend ist und dass Europa begeistern kann.

2014 hat das feiernde Europa ein weiteres starkes Zeichen für Toleranz gesetzt und Conchita Wurst, eine bärtige Travestiekünstlerin aus Österreich, an die Spitze seiner Musikinterpreten gewählt. Die Veranstaltung und die Gewinnerin zeigen, dass es eine weltoffene europäische Gesellschaft gibt. Darüber können wir uns alle gemeinsam freuen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Zugegeben: Das Projekt Europäische Union hat nicht zwingend denselben Charme und auch nicht zwingend denselben Glamour einer Conchita Wurst. Aber vielleicht kann auch die EU, was der ESC kann: Europa weltoffen und zukunftsgewandt verbinden.

Unser Ministerpräsident Stephan Weil wie auch meine Vorrednerinnen und Vorredner haben eindrucksvoll auf die Bedeutung der politischen Einigung hingewiesen, die in Europa bereits geleistet wurde. Wem wäre bei Kriegsende vor fast 70 Jahren in den Sinn gekommen, dass wir einmal ein Parlament aus einem Zusammenschluss von 28 europäischen Staaten wählen würden?

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Und doch: Hat es schon ausgereicht, die Grenzkontrollen in Europa weitgehend abzuschaffen und eine gemeinsame Währung einzuführen? Hat die Europäische Union mehr geschaffen als einen einheitlichen Wirtschaftsraum? Hat sie tatsächlich schon aus Nachbarn Freunde gemacht? Gelingt es dem Europa des 21. Jahrhunderts, die alten Fehler der Nationalstaaten nicht zu wiederholen und tatsächlich in der Welt für mehr Frieden anstatt für neue Rivalität und Abschottung zu sorgen? Ich glaube, dass es noch viel zu tun gibt, damit die EU nicht nur den Eliten Europas zugute kommt, sondern in der ganzen Welt als Zugpferd der Modernisierung auftreten kann.

Nach Europa fliehen Menschen vor Kriegen, vor Gewalt, vor Unterdrückung und vor Armut. Ich bin meiner Kollegin Hanne Modder außerordentlich dankbar, dass sie die Tragödie von Italien angesprochen hat. An den Außengrenzen Europas wird das Mittelmeer für Tausende Flüchtlinge zum Massengrab. Die Flüchtlinge werden illegalisiert, damit man sie anschließend schlecht behandeln kann, stellt Heribert Prantl heute in der Süddeutschen Zeitung treffend fest. Papst Franziskus sieht darin unter dem Eindruck seines Besuchs der Insel Lampedusa ganz klar eine Schande.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bekomme immer ein bisschen Gänsehaut, wenn ich den Satz höre, dass wir gestärkte Außengrenzen brauchen. Diesen Satz höre ich ungern. Denn unser Europa darf keine Festung sein, die sich abschottet.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Wir haben es schon einmal geschafft, Ängste und Grenzen zu überwinden und aus Nachbarn Freunde zu machen. Wir haben es geschafft, den Eisernen Vorhang mitten in Europa zu überwinden. Wir sollten jetzt den nächsten Schritt wagen und mit derselben Motivation, mit der wir die Mauern in Deutschland eingerissen und die Grenzstellen und Wachtürme in Helmstedt und anderswo abgebaut haben, auch die politische Kraft entwickeln, die Außengrenzen Europas durchlässiger zu machen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Wir wollen kein Frontex und keine Todesgrenzen an den Rändern Europas. Wir wollen ein weltoffenes Europa

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

und ein weltoffenes Niedersachsen, das Menschen auf der Flucht Schutz gewährt.

Rot-Grün ist auf einem guten Weg. In Niedersachsen haben wir den Paradigmenwechsel eingeleitet. Aber es gibt für uns alle noch viel zu tun: in Niedersachsen, im Bund und in Europa.

Hier im Landtag wird uns Grünen oft gesagt, wir in Niedersachsen könnten den Klimawandel nicht aufhalten.

(Beifall bei der FDP - Christian Dürr [FDP]: Wenzel ist in den letzten zehn Jahren an dieser Erkenntnis geschei- tert!)

- Ich bedanke mich für den Applaus. - Das ist zweifellos richtig, denn wir in Niedersachsen können das nicht alleine schaffen, wir brauchen dafür Deutschland, und auch Europa kann und muss treibende Kraft beim weltweiten Klimaschutz sein. Es müssen endlich ambitionierte Ziele zur CO2Reduzierung festgelegt werden. Da stehen wir in der Verantwortung, Herr Dürr, ganz zweifellos.

(Zustimmung von Belit Onay [GRÜNE])

Den Bremsern aus der Kohle- und Atomlobby müssen wir europaweit eine internationale Energiewende und den konsequenten Ausstieg aus der Risikotechnologie Atomkraft entgegensetzen. So würde Europa nicht nur seinen Teil zur weltweiten Energiewende beitragen, es würde auch - und das ist auch für Sie wieder interessant - zum Vorreiter und Exporteur einer neuen, grünen Energieversorgung werden können.

(Beifall bei den GRÜNEN - Christian Dürr [FDP]: „Am deutschen Wesen...“! Das hatten wir schon einmal!)

Auch beim Arbeitsschutz - die Kollegin Modder sprach es bereits an - kann und muss Europa vorangehen und endlich für gerechte Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse sorgen, einen Mindestlohn schaffen und Sozialstandards entwickeln. In das Europa des 21. Jahrhunderts gehört es übrigens auch nicht, dass Arbeiterinnen und Arbeiter aus Nachbarländern durch Werkverträge ausgebeutet werden und unter unseren Dächern in unwürdigen Verhältnissen in Armutsquartieren untergebracht werden. Das ist kein Europa, wie wir es brauchen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Weil das gestern ein bisschen offen geblieben ist: Wir stellen grundsätzlich internationale Handelsbeziehungen nicht infrage. Europa soll Handel treiben in der Welt,

(Christian Dürr [FDP]: Das beruhigt mich! - Zuruf von der CDU: Großzügig!)

auch um eine Vorbildfunktion einzunehmen. Aber das darf nicht zu dem intransparent verhandelten Freihandelsabkommen TTIP führen, das das Risiko birgt, den demokratischen Rechtsstaat auszuhebeln, und Klima-, Verbraucher- und Arbeitschutzschutz zu Fall zu bringen droht.

Um es ganz klar zu sagen: Wir wollen, dass Hühner so gut gehalten werden, dass man sie nicht chloren muss, damit sie gegessen werden können.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Statt Freihandelsabkommen hinter verschlossenen Türen voranzutreiben, sollte Europa sich stark machen für internationale Umwelt- und Sozialstandards. Dabei sollten im internationalen Abgleich immer die höheren Standards durchgesetzt werden.

Meine Damen und Herren, vergessen wir nicht, was uns die europäische Integration bereits gebracht hat. Nachdem die politische Spaltung Europas in Nationalstaaten und Blöcke überwunden worden ist, müssen wir jetzt alles dafür tun, dass es keine soziale Spaltung gibt. Es darf nicht sein, dass unsere Kinder in Unis in Barcelona und Rom studieren und gleichzeitig in Griechenland oder Spanien eine Jugendarbeitslosigkeit - auch wenn der Ministerpräsident die Zahl schon angespro