Innerhalb kürzester Zeit haben annähernd 46 000 Menschen die Onlinepetition „Auflösung der Pflegekammer Niedersachsen und Beendigung der Zwangsmitgliedschaften von Pflegekräften“ unterzeichnet, davon 69 % Betroffene, davon wiederum aus Niedersachsen ca. 41 000 Menschen von den 46 000 insgesamt. Nun kann man daraus zwar nicht erkennen, ob es sich bei allen, die diese Onlinepetition unterzeichnet haben, tatsächlich um Pflegekräfte handelt. Aber selbst wenn man annimmt, dass nur 40 % davon Pflegekräfte sind, ist das eine beeindruckende Zahl.
Meine Damen und Herren, alle diese Menschen sollten mit ihrem Anliegen ernst genommen werden. Ihr Protest sollte nicht diskreditiert werden, indem ihnen unterstellt wird, sie würden sich instrumentalisieren lassen.
Das aber passiert, wenn Frau Ministerin Reimann in einem Interview davon spricht, dass diejenigen, die jetzt per Klick die Abschaffung der Pflegekammern forderten, sich auch überlegen müssten, wessen Interessen sie unterstützten; denn zu den lautesten Gegnern der Kammern würden - so die Ministerin - Arbeitgebervertreter gehören.
Frau Ministerin, dass auch ver.di, der DGB und die Freie Wohlfahrtspflege die Pflegekammer ablehnen, verschweigen Sie bei dieser Gelegenheit.
Das passiert auch, wenn die Präsidentin der Kammer, Frau Mehmecke, in der öffentlichen Ausschusssitzung davon spricht, dass der Initiator der Petition sich zum Anführer einer Bewegung aufgeschwungen habe und dass ihr Hintergründe zu seiner Person vorlägen, über die sie nach Verifizierung gerne auch öffentlich diskutieren würde.
Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist kein souveräner Umgang mit Widerspruch. Das ist in Form und Stil einer öffentlich-rechtlichen Institution unwürdig.
Auch die Auffassung des Herrn Staatssekretärs Scholz, dass die in dem Protest gegen die Pflegekammer zum Ausdruck kommende Kritik an der unbefriedigenden Situation in der Pflege als Bestätigung der Notwendigkeit einer Interessenvertretung der Pflegekräfte durch eine Pflegekammer zu
verstehen sei, ist eine fantasievolle Umdeutung der Anliegen der Petenten, die einen etwas ungläubig zurücklässt.
Herr Ministerpräsident, Frau Ministerin, diskreditieren Sie nicht den Protest, selbst wenn es zu Überspitzungen und zu nicht zutreffenden Behauptungen kommen sollte, sondern setzen Sie sich ernsthaft mit den formulierten Anliegen und den zugrunde liegenden Argumenten auseinander! Alles andere vertieft nur die Gräben, was wir angesichts einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft dort, wo es geht, vermeiden sollten.
Meine Damen und Herren, Ausgangspunkt der Protestwelle sind die vor Weihnachten versandten Beitragsbescheide der Kammer. Wir Freien Demokraten haben immer gesagt, dass den meisten Pflegekräften wohl erst deutlich werden wird, was eine Kammer für sie bedeutet, wenn sie den Beitragsbescheid in der Hand halten. Und genau so ist es dann ja auch gekommen! Der Beitragsbescheid lag als vergiftetes Weihnachtsgeschenk unter dem Tannenbaum, und zwar mit dem Höchstbetrag, weil man angeblich der Gerechtigkeit wegen die höheren Einkommen auch höher belasten wollte. Anbei ein Zettel zur Selbstauskunft, mit dem man dem Bescheid widersprechen konnte. Ansonsten muss man zahlen.
Das ist schon ein bemerkenswerter Vorgang, wenn man sich einmal vor Augen führt, was hier eigentlich im Detail passiert ist: Die Kammer nutzt die ihr übertragene Hoheitsgewalt, um Bescheide zu erlassen, von denen sie weiß, dass sie größtenteils nicht zutreffend sind. Vorher findet keine wie auch immer geartete Beteiligung oder Anhörung der Betroffenen statt. Es wird - wie gesagt, als Hoheitsträger - einfach mal ein Bescheid rausgeschickt, der, sofern er nicht angefochten, widerrufen oder zurückgenommen wird, in Bestandskraft erwächst, selbst wenn er falsch ist.
Ich kann den Ärger der betroffenen Menschen, der Adressaten dieser Bescheide, wirklich sehr gut verstehen. Auch ich würde ein solches Vorgehen als Missbrauch der staatlich übertragenden Hoheitsgewalt empfinden. Und so etwas muss sich in einer demokratischen Gesellschaft auch in öffentlichem Protest äußern können, ohne dass versucht wird, diesen Protest als interessengesteuert zu diskreditieren.
Meine Damen und Herren, der Vorgang wirft aber viele weitere Fragen auf: Welche Rolle hat eigentlich die Ministerin eingenommen? Warum hat sie nicht aufsichtlich oder in ihrer Unterstützungsfunktion für die Kammern, die sie ja per Gesetz hat, eingegriffen? Wie hat sich die Kammer eigentlich das Prozedere im Konkreten vorgestellt, wenn die Präsidentin in der Ausschusssitzung sagt, dass man erlassene Bescheide nicht zurücknehmen könne, man aber denen, die sich meldeten, schon irgendwie helfen wolle? - Das sind in erster Linie organisatorische und rechtliche Fragen und Probleme, die eher auf ein dilettantisches Vorgehen und schlechtes Management hindeuten.
Tiefer gehend, meine Damen und Herren, ist aber das Verständnis, das dem Vorgehen der Kammer zugrunde liegt. So hat die Präsidentin in der Sitzung des Ausschusses für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung am 17. Januar erklärt, dass bei der Gestaltung der Beitragsordnung das Thema „Gerechtigkeit“ leitend gewesen sei. Dies hat sie wie folgt auf den Punkt gebracht - ich zitiere -:
Mit anderen Worten: Weil wir als Kammer nicht glauben, dass unsere Mitglieder wahrheitsgemäße Angaben machen, gehen wir erst einmal vom Höchstbetrag aus, um sie in eine Rechtfertigungssituation zu bringen - in der Hoffnung, dass sie uns dann nicht belügen.
Meine Damen und Herren, das ist nichts anderes als die Dokumentation grundlegender Zweifel der Kammer an der Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit ihrer Mitglieder. Zumindest muss es so bei den Adressaten ankommen.
Das heißt nichts anderes, als dass die Kammer ihren Mitgliedern nicht vertraut. Sie misstraut ihren Mitgliedern von Grund auf - das ist die Botschaft.
Dass dies aufseiten der Pflegekräfte zu Protesten führt, sollte niemanden verwundern. Dieser Vertrauensverlust wird auch nicht dadurch wiedergutgemacht, indem man sich demonstrativ wiederholt in den Staub wirft.
Meine Damen und Herren, daneben ist aber entscheidend, dass die Kammer von ihrem Nutzen nicht wirklich überzeugen kann.
Ein Thema, das immer vorgebracht wird, sind mehr Gehalt und bessere Arbeitsbedingungen. Aber dafür ist ver.di zuständig, eine Gewerkschaft! Man mag kritisieren, dass sich ver.di zu wenig um die Pflegekräfte gekümmert habe. Aber wenn man das kritisiert, dann muss man dort ansetzen und sich dort engagieren und darf nicht durch eine staatlich verordnete Parallelorganisation Konkurrenz machen.
Bezüglich der besseren Personalschlüssel hat die Kammer kein Mitspracherecht, auch nicht bei den Rahmenverhandlungen.
Im Sozialausschuss wurde auch die Versorgung im ländlichen Raum angeführt. Das hört sich aber eher nach Sicherstellungsauftrag an, den die Kammer aber nicht hat. Ohnehin gibt es insoweit weniger ein Erkenntnisproblem als ein Handlungsdefizit.
Meine Damen und Herren, auch wenn es um die Gewinnung jüngerer Pflegekräfte geht, fragt man sich, warum dies die Pflegekräfte am Ende selbst mit ihren Mitgliedsbeiträgen finanzieren sollten.
Auch darüber hinaus müssten alle wichtigen Punkte, die zu einer Verbesserung der Situation in der Pflege angegangen werden müssten, entweder durch Bundesgesetz oder durch Rahmenverträge geregelt werden. Insoweit hat die Kammer gar keine Kompetenzen.
Meine Damen und Herren, sicherlich kann eine Kammer ungeachtet dessen einen Beitrag mindestens in der politischen und gesellschaftlichen Debatte über die Pflege, zur Stärkung der Pflege und der Interessen der Pflegekräfte leisten. Aber vor dem Hintergrund des geschilderten dokumentierten Misstrauens und des damit verbundenen Vertrauensverlustes aufseiten der Pflegekräfte gegenüber der Kammer und vor dem Hintergrund der fehlenden Kompetenzen, wirklich wirksam Einfluss zu nehmen, fehlt es für uns jetzt erst recht an einem sachlichen Grund für eine Zwangsmitgliedschaft für angestellte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Pflegekammer.
Deshalb fordern wir mit unserem Gesetzentwurf, die Pflichtmitgliedschaft zu streichen und auf eine freiwillige Mitgliedschaft zu setzen. Wenn die Pflegekammer eine Zukunft haben will und einen wert
vollen Beitrag zur Verbesserung der Pflege leisten möchte, muss sie neu anfangen. Sie muss von ihrem Nutzen überzeugen und Vertrauen von Grund auf neu gewinnen. Das gelingt, wie wir als Freie Demokraten stets betont haben, nicht mit Zwang und schon gar nicht, nachdem man die übertragenen Befugnisse in der geschilderten Art und Weise missbraucht hat.
Meine Damen und Herren, die Kammer hat mit einer freiwilligen Mitgliedschaft die Chance, messbar - nämlich anhand der Mitgliederzahlen - zu beweisen, dass sie für ihre Mitglieder tatsächlich Nutzen stiftet und einen wirkungsvollen Beitrag zur Verbesserung der Situation in der Pflege und insbesondere der Pflegekräfte zu leisten vermag.
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Birkner. - Im letzten Moment habe ich noch gesehen, dass sich Herr Kollege Schwarz zu einer Kurzintervention gemeldet hat. Sie haben anderthalb Minuten. Bitte sehr!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Birkner, Sie sind Jurist. Wenn Sie als Anwalt niedergelassen wären, wären Sie Pflichtmitglied einer Kammer.
In einer Pressemitteilung haben Sie auch die Begriffe „Zwangsbeitrag“ und „Zwangsmitgliedschaft“ benutzt.
Sie wären „Zwangsmitglied“ in einer Kammer, müssten dort „Zwangsbeiträge“ zahlen, könnten sich dagegen nicht wehren.
Ich muss Ihnen als Jurist nicht sagen, dass das Kammerrecht genau diese Merkmale vorsieht. Deshalb frage ich Sie: Warum reden Sie von einer freiwilligen Mitgliedschaft in der Kammer? - Sie wissen, dass so etwas faktisch nicht geht.
Wenn Sie also eine freiwillige Mitgliedschaft haben wollen, dann nutzen Sie bitte nicht das Pseudonym „Kammer“, sondern reden Sie davon, dass Sie ein Abbild des bayerischen Modelles haben wollen. Das fände ich aufrichtiger als das, was Sie hier vorgetragen haben.