Protokoll der Sitzung vom 09.09.2009

(Beifall von der SPD)

Ohne rechtliche Grundlage gab das Schulministerium für die Neugründungen von Gesamtschulen vor, dass etwa ein Drittel der Schüler und Schülerinnen über eine Gymnasialempfehlung verfügen musste. Als in Bonn eine sehr dezidierte Heterogenität nachgewiesen wurde, teilte die Bezirksregierung in Köln innerhalb von fünf Minuten mit, dass diese dezidierte Heterogenität nicht nachgewiesen sei. Das muss doch bereits vorher in der Pipeline gewesen sein! Man wollte diese Gesamtschule nicht. Nur waren wir in Bonn stark genug zu klagen. Und wir haben recht bekommen. Sie sind unterlegen mit Ihrer Gesamtschulpolitik in diesem Land.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Das Urteil des Verwaltungsgerichtes zu der geplanten Gesamtschulgründung in Bonn stoppte nämlich das willkürliche Handeln dieses Schulministeriums.

Und nun, meine Damen und Herren, stehen Sie vor der desaströsen Situation, dass Sie mit Ihrer bishe

rigen Argumentation die Gesamtschulen nicht mehr ausbremsen können. Sie müssten eigentlich – das wissen wir alle – einen neuen Erlass basteln. Wir sind hoch gespannt, wie dieser neue Erlass aussehen wird. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass er vorsieht, dass Sie zukünftig Gesamtschulgründungen in diesem Land zulassen werden.

Eltern, meine Damen und Herren, wollen ihre Kinder in die Gesamtschule schicken, weil sie alle Bildungsgänge für ihre Kinder offenhalten wollen. Die Ergebnisse, von denen wir gerade erfahren haben, dass nämlich 70 % aller Abiturienten an den Gesamtschulen keine gymnasiale Eignung gehabt haben, machen einmal mehr deutlich, wie offen die Bildungsgänge an den Gesamtschulen tatsächlich sind.

(Ralf Witzel [FDP]: Das sagt etwas über das Niveau aus!)

Herr Witzel, das Niveau haben wir über verbindliche Bildungsstandards und zentrale Prüfungen festgelegt. Daran können Sie sich also nicht mehr abarbeiten. Gucken Sie doch mal in die Zukunft, Herr Witzel!

(Beifall von der SPD – Ralf Witzel [FDP]: No- tenlifting!)

Interessanterweise – da kann ich meine Kollegin Beer nur unterstützen – ist auch in Ihrer Fraktion ein Umdenken sichtbar. Denn Herr Pinkwart hat in der Tat seine Unterstützung für die Gründung der Gesamtschule in Alfter zugesagt. Ich habe ihm dazu gratuliert, weil ich hoffe, dass es einen neuen Wind hier im Landtag gibt, wenn der Koalitionspartner der CDU endlich begreift, dass die Prinzipientreue und das Festhalten der CDU am dreigliedrigen Schulsystem Bildungschancen für Kinder schlicht und einfach verhindert.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Immer mehr Eltern wollen längeres gemeinsames Lernen für ihre Kinder. Das hat auch die Untersuchung in St. Augustin noch einmal ergeben: Mit 81 % Rücklauf aller Fragebögen weisen die Ergebnisse eine beachtliche Repräsentativität auf. Das Ergebnis ist eindrucksvoll: 63,5 % der Eltern würden ihre Kinder an eine Gesamtschule schicken, und das auch dann – Herr Hollstein, hören Sie gut zu! –, wenn die von Ihnen angeführten gut arbeitenden Schulen damit gefährdet würden. Sie wollen schlicht und einfach ein anderes Schulsystem für ihre Kinder. Und das wollen die Menschen im Land auch.

Sie, meine Damen und Herren von der CDU, sind ja in Schleswig-Holstein und Hamburg längst dabei, ein anderes Schulsystem aufzubauen. Nur in Nordrhein-Westfalen halten Sie mantrahaft an Ihrer Dreigliedrigkeit fest. Ich bin gespannt, wann Sie aus diesem Richtungsstreit herauskommen, der ja auch längst in Ihrer Fraktion ausgebrochen ist.

Die Festlegung der CDU auf das dreigliedrige Schulsystem hat keine Akzeptanz mehr in der Bevölkerung. Die Hartnäckigkeit, mit der Sie das hier ignorieren, zeigt im Grunde genommen nur die Hilflosigkeit, mit der Sie auf die Herausforderungen im Schulsystem reagieren. Anstatt sich zu bewegen, versucht die CDU, die Wähler zu täuschen. Streng genommen müssten Sie die Kapitulation eigentlich jetzt schon erklären. Es würde von Größe zeugen, wenn Sie die Eltern, die ihre Kinder in die Schule schicken, befragen würden, welche Schulform sie wollen. Dann hätten wir längst ein anderes Schulsystem als das, das wir haben.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Sie können sich dem Druck in den ländlichen Regionen ohnehin nicht mehr widersetzen. Die in den Sommerferien aus der Verbundkiste herausgezauberte Verbundschule, die ein Angebot an die FDP sein sollte, ist ein Zeichen dafür, dass Sie genau wissen, dass sich im Schulsystem etwas ändern muss. Wenn ich es richtig sehe, haben Sie auch längst Pläne in der Tasche, was Sie in der nächsten Legislaturperiode machen wollen. Nur bis dahin müssen Sie sich retten, bis dahin müssen Sie so tun, als wenn Sie den Kurs weiterfahren, weil Sie mit Blick auf die Glaubwürdigkeit bei den Wählern auf diese Art und Weise noch punkten wollen.

Anstatt sich zu bewegen, bleiben Sie prinzipientreu. Die eingangs bereits erwähnten Ergebnisse der Umfrage aus St. Augustin stellen mit Sicherheit keine singuläre Situation dar. Sie machen vielmehr deutlich, dass die Kommunen mehr Mitsprache brauchen, dass die Eltern vor Ort entscheiden müssen und dass das System der Schule eigentlich eine neue Struktur braucht.

Dramatisch wird Politik immer dann, wenn sie für die Kinder und Jugendlichen zum Nachteil gereicht. Wie ich eingangs bereits sagte, passiert Folgendes: In St. Augustin möchten 22 % der Eltern eine Halbtagsschule, wenn sie dafür eine Gesamtschule bekämen. Für nur 18 % spielt der Ganztag gar keine Rolle. Die klassische Halbtagsschule rückt aus dem Blickfeld der Eltern. Die Eltern wollen jedoch nicht die Ganztagshauptschule, nein, sie wollen die Ganztagsgesamtschule.

(Beifall von der SPD)

Sie wollen zu einem großen Teil ein integratives Schulsystem. Die frühe Festlegung auf Bildungsgänge, die Bildungschancen für die Kinder abschneidet, wollen die Eltern erst recht nicht.

Meine Damen und Herren, seit den ersten PISAVeröffentlichungen im Jahr 2001 wissen wir einmal mehr, dass die derzeitige Schulstruktur und die damit verbundene Teilung von Schülerströmen im dreigliedrigen Schulsystem nach der Klasse 4 unausweichlich zu falschen Prognosen und falschen Zuordnungen auf Schullaufbahnen führt. Damit, meine Damen und Herren, verstößt dieses System

nicht nur gegen den Grundsatz der Chancengleichheit, sondern es wird aus seiner Systemlogik und Praxis heraus selber zur Quelle von Ungerechtigkeit, und das, obwohl Verfassung und Gesetze genau dies verhindern wollen. Eigentlich müssten wir an eine Verfassungsänderung herangehen.

An dieser Stelle sage ich Ihnen auch: Die Zukunft des Schulsystems in Nordrhein-Westfalen liegt im längeren gemeinsamen Lernen. Das wollen die Eltern. Das wird die Zukunft zeigen. An dieser Stelle gratuliere ich auch allen Gesamtschulen, die hervorragende Arbeit machen, und weise noch einmal darauf hin, dass es insbesondere die Gesamtschulen sind, die als beste Schulen NordrheinWestfalens in den letzten Jahren eine Auszeichnung erhalten haben. – Ich bedanke mich.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Hendricks. – Für die FDP-Fraktion hat sich jetzt Herr Kollege Witzel zu Wort gemeldet.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Beer, Sie haben hier wieder einmal Ihre Rolle gespielt. Wir glauben Ihnen, dass Sie eine überzeugte Ideologin sind; Sie sind aber keine überzeugende in Ihrer Argumentation.

(Barbara Steffens [GRÜNE]: Ideologen sitzen bei Ihnen in der Reihe!)

Ich kann Sie beruhigen, wo Sie sich doch der Koalitionsfraktionen so sorgenvoll annehmen – unabhängig davon, dass Andreas Pinkwart nicht Mitglied des Landtags, sondern Mitglied der Landesregierung ist –: Als unser Landesvorsitzender der FDP in Nordrhein-Westfalen unterstützt er ausdrücklich auch alle jungen und frischen Beschlüsse der FDPBasis auf dem FDP-Landesparteitag. Wir wollen politisch keine Gesamtschulgründungen für unser Land. Wenn sich Herr Pinkwart zugleich freundlich um die Bürger seines Wahlkreises kümmert, ist das sicherlich auch absolut in Ordnung und nachvollziehbar. Es gibt keinerlei Dissens, wie Sie ihn zwischen uns zu konstruieren versuchen.

Uns als FDP-Landtagsfraktion geht es um beste Bildung für alle. Ihnen geht es um Gesamtschule für alle. Das ist der große Unterschied in unserer Ausrichtung.

(Beifall von der FDP)

Wir haben nicht zu wenige Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen, sondern es sind in den letzten Jahren zu viele gegründet worden.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Angela Freimuth)

Das liegt in vielen Fällen nicht im Interesse der Kinder, wie sich zeigt, wenn man sich weitere schulische und berufliche Laufbahnen anschaut. Deshalb

wird es Zeit, einmal auf die Faktenlage zu blicken, auch wenn Sie dies gerne vermeiden, Frau Beer. Es ist schade. Sie hätten vieles in der EnqueteKommission „Chancen für Kinder“ und durch die Auswertung des MSW über den Abiturtermin 2008 lernen können.

Nehmen wir uns doch einmal die amtlichen Schuldaten vor. Gemessen an der Anzahl der Schüler, die in der Jahrgangsstufe 11 an Gesamtschuloberstufen des Landes eingetreten sind, erreichen über 40 % drei Jahre später nicht die allgemeine Hochschulreife. Welch ein Erfolg! Der Zentralabiturvergleich mit dem Gymnasium findet an den Gesamtschulen also statt, nachdem die leistungsschwächsten 40 % der Gesamtschüler die Schule bereits verlassen haben.

Dieser Befund, wonach Gesamtschuloberstufenschüler im Vergleich zu Gymnasiasten fast doppelt so oft scheitern, gilt entsprechend für den Erwerb der Fachhochschulreife unterhalb des eigentlichen Ziels der gymnasialen Oberstufe: 26,6 % der Gesamtschüler scheitern, 12,4 % der Gymnasiasten. – Die Betrachtung des Erwerbs der Fachhochschulreife ist insgesamt natürlich wenig sinnvoll für die Bewertung der Leistungsfähigkeit einer Oberstufe, weil die Schüler danach im Regelfall in Bildungsgänge wechseln, in denen sie die Fachhochschulreife ohnehin im dualen System der Berufsausbildung erwerben.

Unter den Schülern der Jahrgangsstufe 11 sind in der Gesamtschule 21 % und im Gymnasium 8 % ausländische und ausgesiedelte Schüler. Die ausländischen und ausgesiedelten Schüler am Gymnasium erwerben – gemessen an der Zahl der Schüler in der Jahrgangsstufe 11 – häufiger das Abitur als an Gesamtschulen. Im Gymnasium liegt die Zahl der erworbenen Hochschulreifen bei den Ausländern und Aussiedlern um 41 % unter den Schülerzahlen in der Jahrgangsstufe 11. An der Gesamtschule beträgt diese Differenz 57 %.

Die Hälfte der türkischen Schüler besteht ihr Abitur am Gymnasium. Beim Besuch einer Gesamtschule scheitern fast zwei Drittel. Das sind sehr überzeugende Werte für die Leistungsfähigkeit der Gesamtschule!

Ein Vergleich von Schulen mit vergleichbaren Ausländer- und Aussiedleranteilen führt zu identischen Ergebnissen. In den 105 Gymnasien mit den höchsten Anteilen an ausländischen und ausgesiedelten Schülern der Jahrgangsstufe 11 lag der Ausländer- und Aussiedleranteil bei 21 %, also auf dem Niveau aller Gesamtschulen. Allerdings lag hier die Zahl der allgemeinen Hochschulreifen nicht um 40 % niedriger als die Zahl der Schüler der Jahrgangsstufe 11 wie bei den Gesamtschulen, sondern lediglich um 26 %.

An jeder vierten Gesamtschule scheitern mehr Schüler als das Abitur bestehen. Dieses Phänomen

gab es nur an zwei von 622 Gymnasien, also an nahezu 0 % der Gymnasien.

Nur 39 Gesamtschulen – 19 % – haben einen Schülerzahlenrückgang von bis zu 30 %. An Gymnasien sind es 86 %. Über 80 % der Gesamtschuloberstufen haben bis zum Ende der Laufbahn mindestens 30 % ihrer Schülerschaft verloren.

Frau Beer, das alles sind Ihre Erfolgsdaten aus der amtlichen Schulstatistik. Deshalb hat sich der Landesrechnungshof zu Recht auch unter dem Aspekt des Ressourceneinsatzes und der Effizienz mit den Oberstufengrößen beschäftigt. Die Mindestoberstufengröße von 42 Schülern wird zum Beginn der Jahrgangsstufe 11 bereits von 8 % der Gesamtschuloberstufen nicht erreicht. Die Quote von Gesamtschuljahrgängen mit weniger als 42 Schülern steigt im Zeitablauf der Oberstufe kontinuierlich rasant an. Im Abschlussjahrgang haben 107 Gesamtschulen – also 52 % – weniger als 42 Schüler. Als Vergleichswert: Bei den Gymnasien sind dies gerade 3 %.

Das sind die Fakten der amtlichen Schuldaten gemäß einer Veröffentlichung des MSW. Ende 2004, also kurz vor der Abwahl von Rot-Grün, verfügte rund die Hälfte der Oberstufen an den Gesamtschulen bei den Abiturjahrgängen nicht mehr über die gesetzlich vorgeschriebene Schülerzahl für den Oberstufenbetrieb. 30 % der Abiturjahrgänge haben weniger als 30 Schüler, 56 % weniger als 40 Schüler. Diese Daten haben Sie uns unmittelbar vor dem Politikwechsel hinterlassen.

Deshalb macht es sehr viel Sinn, sich über die Qualität von Laufbahnen zu unterhalten. Es geht aber auch um die Frage, wie man in Zeiten knapper Kassen ein effizientes Bildungssystem organisiert, um auch hier vernünftig mit dem Geld des Steuerzahlers umzugehen. – Vielen Dank.

(Beifall von FDP und CDU)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Witzel. – Als nächste Rednerin hat Frau Ministerin Sommer für die Landesregierung das Wort. Bitte sehr, Frau Ministerin.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Mitglieder dieses Hohen Hauses von Bündnis 90/Die Grünen, ich komme zu Ihrem Antrag. Ich bin sofort bei Ihnen, wenn es darum geht, Leistung anzuerkennen. Ich bin auch bei Ihnen, wenn es darum geht, den Elternwillen soweit es eben geht zu respektieren.

Mir bleibt aber ein bisschen die Luft weg, wenn Sie mir unterstellen, wir legten ein gesamtschulfeindliches Verhalten an den Tag. Ich könnte eine Retourkutsche fahren und sagen, ich hefte Ihnen das Etikett hauptschulfeindlich, realschulfeindlich, gymna

sialfeindlich und förderschulfeindlich an. Das hören Sie bestimmt auch nicht gerne.