Protokoll der Sitzung vom 08.10.2009

Mit dieser Aussage bekommt die Sonderpädagogik auch eindeutig ihren Standpunkt zugewiesen. Sie ist Teil des allgemeinen Schulsystems und arbeitet subsidiär allen Schulformen zu. Ich bin froh, meine Damen und Herren, dass das mittlerweile nirgendwo mehr bestritten wird.

Ich mag nicht mehr zurückdenken an die vielen Diskussionen, die ich mit Kollegien der Förderschulen geführt wurde, als die ersten Schulen mit dem sogenannten gemeinsamen Unterricht begannen. Es ging die pure Angst um, dass die Lehrerinnen und Lehrer damit überflüssig werden.

Heute sind gerade die Förderschulen mehr denn je bereit, sich in die allgemeinen Schulen mit einzubringen. Das erfahren wir Tag für Tag, wenn wir mit den Schulen reden, die sich das Modellprojekt

Kompetenzzentrum zu Eigen gemacht haben. Das, meine Damen und Herren, ist der richtige Weg, besonders dann, wenn in den nächsten Jahren die Umsetzung der UN-Konvention in unseren Schulen ansteht.

Lassen Sie mich einen Moment bei den Anforderungen der UN-Konvention verweilen. Sie verlangt von uns, dass alle jungen Menschen gleichermaßen Zugang zum gesellschaftlichen Leben haben und ganz besonders zum Bildungsbereich. Bildung ist auch für Menschen mit Behinderungen der Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe.

Das ist in Nordrhein-Westfalen durchweg der Fall. Ich kenne kein Kind mit Behinderung, dem der Zugang zu Bildung verwehrt wäre. Was ich sehr wohl kenne, ist die Einschränkung der Schulwahl, die bei manchen Eltern für Unmut sorgt. Ich denke, das gilt es abzustellen.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Bei vielen El- tern!)

Ich glaube, dass wir zur Umsetzung der UNKonvention mit unseren vielfältigen Angeboten in Nordrhein-Westfalen eine gute Grundlage haben. Nicht alle Kinder mit Behinderung sind in den allgemeinen Schulen. Ich erwähnte es vorhin schon. Es sind in der Tat nur 14 %. Die Tendenz ist allerdings steigend. Ich bin auch sehr dafür, dass sich der Prozentsatz weiter nach oben verschiebt. Dafür müssen wir jedoch noch einiges tun.

Es darf nicht sein, dass Eltern, die einen gemeinsamen Unterricht für ihre Kinder möchten, von Pontius nach Pilatus laufen müssen und beschämt werden, wenn ihre Kinder an den Schulen abgelehnt werden.

Es sollte in der Tat wohnortnahe Angebote für einen gemeinsamen Schulbesuch geben. Aber ich bin auch überzeugt, dass wir nicht alle Kinder in den sogenannten Regelschulen unterrichten können. Dann würden wir diesen Kindern an manchen Stellen sicherlich nicht gerecht. Wir brauchen daneben das Angebot der Förderschulen, weil diese Kinder dort in manchen Bereichen besser und individueller gefördert werden können. Das sehen im Übrigen auch eine ganze Reihe von Eltern, die für Ihre Kinder nicht den Besuch einer allgemeinen Schule möchten, und das aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Ich kann nur darauf verweisen, dass wir etliche Anfragen bei der Gründung der Kompetenzzentren bekommen haben, ob das jetzt hieße, dass ihre Kinder jetzt nicht mehr auf die Förderschule dürften. Da muss man sicherlich genau hinschauen. Deshalb muss man für meine Begriffe das eine tun und das andere nicht lassen. Wir brauchen mehr Inklusion von Kindern mit Behinderungen in den allgemeinen Schulen, ebenso wie die Angebote einer auf die Handicaps der Kinder individuell bezogene Förderung oder an – wie es in Holland so schön – an

den Spezialschulen. Ich erinnere für all die, die damals mit waren, daran, dass die Niederländer uns sehr deutlich gesagt hatten, dass auch unter Berücksichtigung der UN-Konvention bei ihnen diese Spezialschulen nicht geschlossen werden würden.

In unseren sonderpädagogischen Kompetenzzentren gehen wir die ersten Schritte der Umsetzung der UN-Konvention. Wir sammeln erste Erfahrungen bei der Gründung von Netzwerken zwischen Förderschulen, Regelschulen und begleitenden Einrichtungen.

Frau Beer, es sei noch einmal darauf hingewiesen – Sie hatten ja diese leere Seite angemahnt –, dass diese Kompetenzzentren nicht mit einem Überhang an Personal ausgestattet werden. Sie arbeiten vielmehr unter ganz normalen Bedingungen und nicht wie früher bei den Modellprojekten, die sich später daran gewöhnen mussten, dass ihnen die Lehrer abgezogen wurden.

Eines wird gerade bei der Arbeit der sonderpädagogischen Kompetenzzentren sehr deutlich. Es sind nicht mehr die Förderschulen und ihre Lehrerinnen und Lehrer, die Schwierigkeiten mit der gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung haben. Es sind vielmehr – das stellt sich jetzt heraus – die Regelschulen, die Scheu vor mehr Kindern mit Behinderungen haben, die sich ihrer Aufgabe noch nicht gewachsen fühlen und die diese Schülerinnen und Schülern nicht so sehr als ihre eigenen Schüler betrachten und sie daher lieber an einem anderen Ort unterrichtet sähen.

Es sind auch die Eltern, die Angst haben, dass ihre Kinder ohne Behinderungen dann zu kurz kommen.

In der Beantwortung der Anfrage kommt auch zum Ausdruck, dass wir an erster Stelle einen Mentalitätswechsel brauchen, und das steht wirklich an erster Stelle in großen Teilen unserer Gesellschaft. Wir brauchen die Erkenntnis, dass das Zusammensein von Menschen mit und ohne Behinderung selbstverständlich ist und unser Zusammenleben bereichert. Das ist ein langer Weg, den wir mit den Kompetenzzentren begonnen haben, an dessen Ziel wir aber sicherlich noch lange nicht angekommen sind.

Ich bin sicher: Wenn wir in der nächsten Zeit intensiv unseren Beitrag dazu leisten, wird es auch gelingen, das Ziel individueller Bildungswege auch für Kinder mit Behinderungen durchzusetzen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von CDU und FDP)

Danke schön, Frau Kastner. – Für die SPD spricht nun die Kollegin Stotz.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort

zur Großen Anfrage zur Situation der sonderpädagogischen Förderung an Schulen in unserem Land liefert uns in der Tat zu unserer aktuellen Debatte über die Weiterentwicklung der Förderung oder, wenn Sie so wollen, auch über die Benachteilung von behinderten Kindern sehr viele wichtige Daten.

Auch vonseiten der SPD-Fraktion möchte ich den Mitarbeitern, die für die Zusammenstellung dieser informativen Daten stehen, herzlich danken. Aber damit bin ich auch schon an Ende meiner lobenden Worte. Ich finde es in der Tat unerhört – da schließe ich mich in vollem Umfang den kritischen Worten meiner Kollegin Frau Beer an –, dass die wesentlichen Informationen zur Lehrerversorgung an Förderschulen und im gemeinsamen Unterricht auf Anweisung des Staatssekretärs Herrn Winands nicht in dieser Beantwortung enthalten sind. Ich finde, das ist ein unerhörter Hammer und ein völlig inakzeptabler Umgang mit diesem Parlament.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Sie können sicher sein, dass wir uns das nicht bieten lassen. Ich vermute auch, dass Sie ganz bewusst diese Daten über die tatsächliche Lehrerversorgung im Bereich der sonderpädagogischen Förderung zurückhalten und damit versuchen, die Situation insgesamt rosiger darzustellen, als sie in Wirklichkeit ist. Mit der notwendigen Transparenz und vor allem mit der Realität hat das hier nichts zu tun.

Die Landesregierung tut dies, obwohl sie im Dezember selbst die Konvention mit unterzeichnet hat. In der Konvention heißt es ja – ich will das hier auch noch einmal deutlich sagen –, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen und Zugang zu einem integrativen hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben müssen.

Mit der Zustimmung zur Konvention steht nun auch Nordrhein-Westfalen in der Verpflichtung, entsprechend zu handeln. Der Handlungsbedarf ist groß, wie die Beantwortung der Großen Anfrage zeigt. Auch in unserem Land werden viel zu viele Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen bzw. mit Entwicklungsstörungen sehr frühzeitig aus dem Regelschulsystem aussortiert, bzw. sie werden häufig erst gar nicht zugelassen.

Der gemeinsame Schulbesuch von lernbehinderten bzw. behinderten Kindern mit nichtbehinderten Kindern ist bei uns in Nordrhein-Westfalen nach wie vor die Ausnahme und leider längst nicht die Regel. Die Quote der gemeinsamen Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung liegt in Nordrhein-Westfalen nach wie vor unter dem Bundesdurchschnitt. Und dieser liegt auch gerade einmal bei 17 %. Das ist im internationalen Vergleich wahrlich kein Ruhmesblatt.

In Norwegen oder Italien gibt es gar keine Förderschulen in unserem Sinne, sodass dort nahezu 100 % der Kinder mit Behinderungen in der Regelschule beschult werden. Aber selbst in Österreich, einem Land, das ein ähnlich stark gegliedertes Schulsystem aufweist wie unseres, liegt die Quote des gemeinsamen Lernens von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinbildenden Schulen bei rund 30 %.

Mit unserer Quote in Nordrhein-Westfalen sind wir von dem Ziel, dass der gemeinsame Unterricht die Regel und nicht die Ausnahme bilden sollte, meilenweit entfernt. Dabei schreibt die UN-Kommission uns unmissverständlich ins Stammbuch, dass Kinder mit Lernbehinderungen oder anderen Benachteiligungen nicht länger ausgegrenzt werden dürfen.

(Beifall von der SPD)

Der Wunsch vieler Eltern, ihr Kind wohnortnah und vor allem integrativ in einer allgemeinbildenden Schule zu fördern, bleibt allzu oft auf der Strecke. Viel zu wenige Plätze im gemeinsamen Unterricht und bürokratische Hemmnisse machen die Erfüllung dieses verständlichen Wunsches leider oftmals unmöglich. Dabei wissen wir längst – wissenschaftlich belegt –, dass Förderschulen nicht von vornherein der beste Förderort für Kinder mit Behinderungen sind.

Prof. Wocken hat in einer Studie nachgewiesen, dass Schüler nach der Überweisung an eine Förderschule ihre Leistungen nicht verbessern konnten; vielmehr sind sie in ihren Leistungsergebnissen zurückgefallen. Die Überweisung in eine Förderschule ist praktisch der Einstieg in einen lebenslangen Sonderweg.

Damit will ich den Sonderschulen bzw. den Förderschulen, wie sie jetzt heißen, und allen Einrichtungen, die sich darüber hinaus um die Förderung von Kindern mit Behinderungen kümmern, an dieser Stelle auf keinen Fall den Schwarzen Peter zuschieben – das betone ich ausdrücklich –, denn sie leisten gute Arbeit. Aber in unserem System, dass im Grunde genommen von Anfang an auf Separation ausgelegt ist, bestehen eben nur wenige Möglichkeiten, gezielt gegen die Ausgrenzung der Schülerinnen und Schüler vorzugehen.

Es geht bei dieser Fragestellung also nicht um ein gegenseitiges Ausspielen von Förderschulen auf der einen Seite und Allgemeinschulen auf der anderen Seite. Es geht darum, wie wir Chancengleichheit in unserem Bildungssystem gewährleisten und wie wir vor allem jedem einzelnen Kind, und zwar mit besonderem Förderbedarf oder auch ohne, gerecht werden. Es geht darum, dass sich unsere Schulen mehr als bisher auf jedes einzelne Kind einzustellen haben – und nicht umgekehrt.

Aus Sicht der SPD-Fraktion kann eine zielgerichtete Umsetzung der UN-Konvention nur dann gelingen, wenn wir ohne Tabus an diese Diskussion heran

gehen. Dazu zählt auch, dass wir die Schwächen unseres gegliederten Schulsystems benennen und alles dafür tun müssen, diese zu überwinden.

(Beifall von der SPD)

Grundlage für das Schulsystem der Zukunft muss in jeder Hinsicht neben dem längeren Lernen aller Kinder auch das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung sein. Dabei steht auch für uns außer Frage, dass auf diesem Weg alle Beteiligten mitgenommen werden müssen. Klar ist uns auch, dass wir ein inklusives Schulsystem nicht über Nacht sozusagen top-down überstülpen können.

Ziel muss es nach unserer Überzeugung sein, die Umorientierung hin zu einem inklusiven Bildungssystem zwar Schritt für Schritt, aber vor allem konsequent anzugehen. Dass diese Zielsetzung von den regierungstragenden Fraktionen bzw. von der Landesregierung selbst geteilt wird, daran habe ich große Zweifel. Im Bericht über den Sachstand der Beratungen der KMK zu den Auswirkungen der Behindertenrechtskonvention auf den Schulbereich, den uns Ministerin Sommer vor einigen Wochen freundlicherweise zukommen ließ, wird betont – ich darf zitieren –:

Bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in den Vertragsstaaten besteht ein weiter Gestaltungsspielraum. Es bleibt der innerstaatlichen Rechtsordnung auch im Schulbereich überlassen, Art und Weise der Durchführung der völkerrechtlichen Verpflichtung nach eigenem Ermessen zu bestimmen.

Weiter führt Ministerin Sommer aus, dass ein Beispiel, wie die Konvention im Schulbereich umgesetzt werden kann, die Errichtung von Kompetenzzentren ist.

Genau hier, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, liegen meine Zweifel begründet. Die Betonung von Ministerin Sommer, dass ein weiter Gestaltungsspielraum besteht, lässt mich befürchten, dass die Landesregierung die Umsetzung der Konvention eher halbherzig denn konsequent verfolgt.

Ich befürchte, dass die Landesregierung auf halber Strecke stehen bleibt und nicht wie meine Fraktion das Ziel verfolgt, die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung in das allgemeine Schulsystem als Leitgedanken festzuschreiben

(Zuruf von Horst Becker [GRÜNE])

und künftig alles dafür zu tun, dies auch zu realisieren. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Mehrheit hier im Hause die Umsetzung der Konvention nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit angeht und sich lieber im Schneckentempo bewegt, als sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.

Hinsichtlich der Kompetenzzentren haben Sie uns nur dann an Ihrer Seite, wenn diese lediglich als Zwischenschritt geplant sind und wenn unmissverständlich klar ist, dass diese Zentren im Kern dafür zu sorgen haben, die tatsächliche Inklusion maßgeblich voranzutreiben. Das ist für uns an keiner Stelle ersichtlich. Denn nach wie vor liegt die Rechtsverordnung für die Kompetenzzentren, aus der eine klare Aufgabenbeschreibung und Zielbeschreibung hervorgeht, nicht vor Es scheint vielmehr so zu sein, dass die Einrichtung von Kompetenzzentren ohne klar umrissene Aufgaben die abschließende Antwort der Landesregierung und der sie tragenden Fraktionen auf diese drängende Problematik sein wird. Das ist nach unserer Auffassung viel zu kurz gesprungen, und das wird der Konvention in keiner Weise gerecht.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Anhörung zu dieser Fragestellung, die hier im Mai dieses Jahres stattfand, zu sprechen kommen. Leider war das Interesse der regierungstragenden Fraktionen an dieser interessanten und sehr aufschlussreichen Anhörung seinerzeit eher gering. Aber das Interesse ist heute ähnlich gering, muss ich sagen, wenn ich auf die Bänke der regierungstragenden Fraktionen blicke.

(Ministerin Christa Thoben: Die SPD ist jetzt ganz vorne!)

Ja, aber Sie haben jetzt die Verantwortung. Sie sollen die Dinge ja nach vorne bringen. – Schade eigentlich, dass Sie nicht mehr Interesse an der Anhörung hatten; denn dann hätten Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von CDU und FDP, wichtige Informationen bekommen, insbesondere von Beteiligten und auch von Eltern, die ihre Sorge an dieser Stelle vorgetragen haben.

Die Auswertung dieser Anhörung im Ausschuss steht noch aus. Ich bin gespannt darauf. Bis dahin – das will ich betonen – wollen wir alle Daten zu diesem wichtigen Thema vorliegen haben. Ansonsten kann ich nicht erkennen, dass die Mehrheitsfraktionen ernsthaft daran interessiert sind, sich der Verpflichtung, die aus der UN-Konvention auch für Nordrhein-Westfalen gilt, zu stellen. – Herzlichen Dank.