Protokoll der Sitzung vom 21.01.2010

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident, Sie haben in dieser Legislaturperiode erst drei Regierungserklärungen abgegeben. Im Grunde bin ich jetzt froh, dass das so war. Was wir heute gehört haben, war nämlich keine Vision, sondern die Bilanz eines Buchhalters, Herr Ministerpräsident.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Wenn das alles so toll ist und Sie in den letzten knapp fünf Jahren wirklich so viel für dieses Land erreicht haben, wie Sie uns hier geschildert haben, dann frage ich mich, warum wir in den Rankings der Bundesländervergleiche feststellen müssen, dass NRW Absteigerland ist und nicht Aufsteigerland.

(Beifall von der SPD – Zuruf von der SPD: Hört, hört! – Gegenruf von Christian Weisbrich [CDU])

Das habe ich Ihnen doch in der letzten Haushaltsrede deutlich dargestellt.

Und es ist noch eine Bilanz hinzugekommen, nämlich die der Bertelsmann-Stiftung für den Bildungs

bereich. Ihr Kommentar dazu ist: Das sind veraltete Zahlen. – Ja, Herr Ministerpräsident, 2006 bis 2008, das sind Ihre alten Zahlen. Das ist jetzt das Problem, was Sie haben.

(Beifall von der SPD)

Das sind Ihre alten Zahlen.

Und wenn das alles so toll ist, wie wir es hier hören: Warum streiken dann die jungen Menschen in unserem Bildungssystem? Warum ist das denn so, Herr Ministerpräsident, wenn das alles so toll ist in unserem Bildungssystem?

(Zurufe von der SPD)

Ehrlich gesagt: Wenn das alles so toll ist mit unserer Infrastruktur in unserem Land – ich meine, die 50 Wegweisertafeln werden uns vorangebracht haben –, dann frage ich mich, warum ich morgens im Stau stehe.

(Beifall von der SPD)

Das frage ich mich jeden Morgen, Herr Ministerpräsident. Ich weiß nicht, wo Sie herfahren.

Meine Damen und Herren, heute möchte ich ausnahmsweise keine Zahlen widerlegen, nicht ins Klein-Klein hineingehen. Ich nehme Ihre Aufforderung entgegen, einmal darüber zu diskutieren: Wie stellen wir uns eigentlich die Zukunft dieses Landes vor? Ich möchte Ihnen gerne meine Vision von Nordrhein-Westfalen schildern. Teilweise gibt es da sicherlich Übereinstimmungen, zumindest gibt es ähnliche Begrifflichkeiten, teilweise ist das allerdings auch sehr konträr. Das fängt schon mit dem Ansatz an.

Meine Vision beginnt damit, dass wir NordrheinWestfalen von den Menschen her denken, dass wir Nordrhein-Westfalen von den Menschen her entwickeln. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Für mich ist die zentrale Frage: Wie schaffen wir es, dass es in Nordrhein-Westfalen friedlich, gerecht und erfolgreich zugeht, meine Damen und Herren? Das ist die entscheidende Frage.

(Beifall von der SPD)

Dazu gehört, dass wir alle mitnehmen. Denn wenn uns das nicht gelingt, ist unsere Demokratie in Gefahr. Und wenn wir darüber reden, alle mitzunehmen, dann reden Sie viel über Chancengerechtigkeit. Aber dazu gehört, meine Damen und Herren, auch Verteilungsgerechtigkeit, und es gehört dazu, dass wir den Menschen Teilhabe möglich machen. Das ist der Begriff, der für uns oben drüber steht.

(Beifall von der SPD)

Allen Kindern alle Chancen geben, sagen wir, im Zweifelsfall auch die zweite und die dritte Chance, Einstieg möglich machen, Aufstieg verlässlich machen.

Sie reden von neuer Sicherheit, Herr Ministerpräsident. Was heißt das denn? Was bedeutet das denn für unsere Jugendlichen, wenn sie keine sicheren Perspektiven haben, wenn sie keine Fortschritte sehen, wenn sie sich zurückgelassen fühlen, auch wenn wir sie in Warteschleifen unserer Schulsysteme von den Straßen holen und sie dort unterbringen? Was bedeutet es, wenn sie keine klare Perspektive haben?

Ich bin im Augenblick viel im Land unterwegs mit der Tour „TatKraft“. Wir arbeiten in den einzelnen Bereichen, kommen den Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern sehr nahe. Sie erzählen mir viel über ihre Geschichte, ihr Leben und ihre Lebenssituation.

Wenn Sie einmal in dieser Weise zuhören würden, wüssten Sie, was es bedeutet, keine Perspektive zu haben. Reden Sie mit jungen Menschen, wie ich es getan habe, die vom Weg abgekommen sind, die wir versuchen, mit Maßnahmen zurückzuholen, bei denen manche kleinen Weichen falsch gestellt worden sind, junge Menschen, die aber trotzdem den Willen und das Ziel haben, ein Leben zu leben, wie sie es sich vorstellen, was ich unter die Überschrift setzen würde: eine „Rama-Familie“: mit einem Job, mit einer Perspektive.

Diese jungen Menschen fühlen sich zurückgelassen, sie fühlen sich nicht aufgehoben. Wenn Sie jemanden erleben, so wie ich ihn erlebt habe, der mit mir bei einer solchen Maßnahme gemeinsam die Wände angestrichen hat, und er Ihnen sagt „Ich habe sogar einen Realschulabschluss, ich habe auch ein ganz gutes Notenspektrum – Zweien und Dreien –, ich habe eine Fünf in Physik, okay, das habe ich nicht besser geschafft, aber ich habe trotz vieler, vieler Bewerbungen überhaupt keine Stelle bekommen, ich habe keine Ausbildung bekommen“. Das Schlimmste für ihn ist: Die Unternehmen, bei denen er sich beworben hat, haben zum größten Teil gar nicht geantwortet. – Den jungen Leuten schlägt Missachtung entgegen. An der Stelle müssen wir aus meiner Sicht ansetzen. An dieser Stelle gilt es, Perspektiven zu geben.

(Beifall von der SPD)

Der Umbau, der dafür erforderlich ist, die Veränderungen, die wir brauchen, können gelingen, sie müssen sogar gelingen, weil beides aus zwei Perspektiven erforderlich ist, einmal aus der sozialen Perspektive, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen, aber auch aus der wirtschaftlichen Perspektive. Wenn wir uns einig sind, dass die Zukunft Nordrhein-Westfalens nicht in einfacher Lohnfertigung und im Bereich von Dumpinglöhnen liegen kann, wenn gilt, was meine Gewerkschaft wunderbar betitelt hat „besser statt billiger“, dann heißt das: Wir müssen auf Innovation setzen. – Das fand ja auch bei Ihnen Niederschlag.

Aber man muss auch die Rückschlüsse ziehen. „Viele Innovationen“ heißt: Wir brauchen viele Menschen, die innovativ und kreativ sind. Dann lassen Sie uns einmal hinschauen, wie es gelingen kann, dass mehr junge Menschen gute Abschlüsse machen, dass sie kreativ und innovativ sind. Ich sage Ihnen: Dazu braucht es den Mut, Strukturen zu verändern. Und diesen Mut habe ich heute bei Ihnen vermisst.

(Beifall von der SPD)

Ihnen geht es nur um ein Weiter-So.

Dazu gehört aber mehr, als im Klein-Klein zu verweilen. Nein, wir haben einen Kollaps des Wirtschaftssystems erlebt, und wir haben schnell und koordiniert darauf reagiert. Wenn wir nicht heute handeln, wenn wir nicht heute Strukturen nachhaltig verändern, dann wird dieser Kollaps uns auch von der anderen Seite her ereilen.

Wir müssen gesellschaftliche Fehlentwicklungen stoppen. Kein Kind dürfen wir mehr verlieren. Sie sagen: Kein Kind darf zurückbleiben – auch das aus sozialer Perspektive und wirtschaftlicher Perspektive. Aber was heißt das?

Das heißt, wir müssen Eltern früh unterstützen, schon mit Beginn der Schwangerschaft. Wir müssen rankommen, wir müssen Hilfestellung bieten. Wir müssen hingehen in die Familien. Wir müssen umstellen von den Komm-Strukturen, dass jemand in seinem Büro sitzt und Hilfe anbietet, zu dem in der Regel aber nur die kommen, die es nicht wirklich nötig hätten, auf die Strukturen, dass man hingeht, dass man direkt in die Familie hineinwirkt und sie unterstützt.

Dieser Umbau der Strukturen, Herr Ministerpräsident, muss auf der kommunalen Ebene stattfinden. Sie haben in Ihren Berichten heute die Kommunen fälschlicherweise überhaupt nicht erwähnt. An dieser Ecke brauchen wir leistungsfähige Kommunen.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Rainer Schmeltzer [SPD])

Herr Ministerpräsident, Sie haben eben gesagt: Politik beginnt mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wer wissen will, wie es um unser Land steht, muss diese Berichte lesen.

Ich würde das gerne anders handhaben. Ich glaube eher an Johannes Rau. Er hat 2003 beim Städtetag gesagt: Wer über die Lage der Städte spricht, spricht über die Lage unseres Landes. Am Zustand der Städte lässt sich ablesen, wie es dem ganzen Land geht, Herr Ministerpräsident.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Das gehört zur Wahrheit dieses Landes.

Wenn wir über die Zukunft des Landes reden, müssen wir über die Zukunftsfähigkeit unserer

Städte und Gemeinden reden. Da kommen Sie nicht heraus.

(Minister Andreas Krautscheid und Horst Becker [GRÜNE] diskutieren miteinander.)

Herr Krautscheid, wenn Sie eine Diskussion führen wollen, können Sie nachher gerne in die Debatte einsteigen.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Aber Zwischenru- fe von der Regierungsbank beherrscht er ja!)

Es wäre nett, wenn Sie nicht durch Zwischenrufe glänzen würden. Das können die Herrschaften auf der Tribüne nicht mitbekommen. Ich würde Ihnen raten, das im Rahmen eines Wortbeitrags zu tun.

(Beifall von der SPD)

Reden Sie doch mit uns über handlungsfähige Kommunen. Dann sehen wir, wie sich die Situation darstellt. Sie wissen doch, dass demnächst 90 % aller Kommunen auf der finanziellen Seite völlig handlungsunfähig sind. Das wissen Sie doch.

Was tun Sie gegen diese Einteilung in freiwillige Leistungen und Pflichtleistungen? Wissen Sie nicht, dass wir endlich mehr in die freiwilligen Leistungen investieren müssen, weil das die Leistungen sind, die am Lebensanfang stehen, damit wir am Ende Kosten sparen, Herr Ministerpräsident? „Strukturen verändern“ heißt die anstehende Aufgabe.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Reden wir über Zahlen. Schauen wir doch einmal, was das kostet. Herr Pinkwart, Sie sind doch Wirtschaftswissenschaftler.

(Zurufe von Sylvia Löhrmann [GRÜNE] – Weitere Zurufe)

Was bedeutet es, wenn bei jungen Menschen die eine oder andere Weiche falsch gestellt wird? – In den schlimmsten Fällen gibt es zwei Varianten.