Protokoll der Sitzung vom 21.01.2010

Was bedeutet es, wenn bei jungen Menschen die eine oder andere Weiche falsch gestellt wird? – In den schlimmsten Fällen gibt es zwei Varianten.

Die Familie, in der das Kind aufwächst, schafft es irgendwann nicht mehr und das Kind wird aus der Familie herausgeholt. Das nennt man Inobhutnahme.

Ich habe mich schlaugemacht: In Köln kostet eine solche Inobhutnahme eines Kindes pro Jahr 84.000 €. In Köln alleine werden 400 Kinder aus den Familien geholt. Ich kann Ihnen auch die bundesweiten Zahlen nennen. Bundesweit waren es 28.200 Kinder im Jahr 2007. Im Jahr 2008 hatten wir eine Steigerung um 15 % auf 32.300 Kinder. Das sind 2,3 respektive 2,6 Milliarden €, die wir für Reparaturen aufwenden, statt die Strukturen endlich so aufzustellen, dass das Problem gar nicht entsteht. Das ist doch unser Thema.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Statt hier Impulse zu geben und die Konjunktur anzukurbeln, statt diese Strukturen endlich in Angriff zu nehmen, geben Sie Steuergeschenke an Hote

liers und Erben! Das ist das Fatale, was an der Zielsetzung in diesem Land schiefläuft, Herr Ministerpräsident!

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Wenn wir über kommunale Handlungsfähigkeit reden, reden wir nicht über etwas Technokratisches.

(Zuruf von Rainer Schmeltzer [SPD])

Wir reden darüber, dass wir lebenswerte Städte brauchen und jungen Menschen Heimat gestalten müssen. Dazu gehören Büchereien. Dazu gehören Schwimmbäder, deren Temperaturen nicht abgesenkt werden müssen, weil kein Geld mehr da ist. Dazu gehören Bibliotheken. Dazu gehören Jugendheime. Das sind alles freiwillige Leistungen. Aber wer hier spart, spart an der falschen Stelle und nimmt in Kauf, dass es hinterher teurer wird.

(Beifall von der SPD)

Lassen Sie mich noch eine Zahl nennen, die mich umtreibt, weil ich in diesen Projekten auch Jugendliche getroffen habe, die schon im Jugendarrest waren. Ihnen liegen die Zahlen von Ihrem Finanzminister vor. Wenn ein Kind irgendwann in der Justizvollzugsanstalt landet, kostet auch dieser Platz nach meinen Informationen – Sie können mich korrigieren – zwischen 70.000 € und 90.000 € im Jahr.

Nein, meine Damen und Herren, wir haben überhaupt keine Zeit zu verlieren. Auch vor dem Hintergrund der Verschuldung und der enger werdenden Finanzspielräume haben wir überhaupt keine Zeit zu verlieren, um diese Strukturen zu verändern. Wir müssen endlich handeln.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Kommunale Handlungsfähigkeit heißt auch, dass wir den Kommunen die Finanzmittel zuweisen müssen. Das ist unser Credo vom handlungsfähigen Staat. Dann kommt wieder Ihr Einwand, die Kommunen hätten mehr Geld denn je. – Der Innenminister ist derzeit nicht am Platz. Ich weiß nicht, wo er herumrennt.

Die Kommunen haben zwar mehr Geld denn je, aber der Minister weiß auch ganz genau: Die Kommunen haben auch mehr Kosten denn je. Lassen Sie uns gemeinsam in Berlin endlich klarstellen, dass die Kosten der Unterkunft nicht mehr in dieser Höhe bleiben können, Herr Ministerpräsident. Lassen Sie uns gemeinsam dafür kämpfen.

(Beifall von der SPD)

Wenn das Solidarpaktfortführungsgesetz in diesem Jahr auf der Agenda steht und es darum geht, wie viele Prozentpunkte die Kommunen in Zukunft noch für diesen Pakt zahlen, lassen Sie uns dafür kämpfen, das auf die Hälfte reduziert zu bekommen, damit wieder Luft zum Atmen da ist und es endlich auch die Finanzspielräume gibt, um solche Strukturveränderungen vorzunehmen.

(Beifall von der SPD)

Sorgen Sie endlich dafür, dass die Kommunen auch eine Perspektive bekommen, was die Schuldenlast angeht. Wir haben einen Vorschlag in Form des Stärkungspakts Stadtfinanzen gemacht. Dieser ist nicht billig, nein. Anders als es in Banken-, Unternehmens- und Managerkreisen der Fall ist, habe ich als Politikerin aber den Anspruch, langfristig zu denken, viel langfristiger. Wenn ich die Gegenrechnung aufmache, wie ich es vorhin getan habe, finde ich: Es ist gut eingesetztes Geld, meine Damen und Herren.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Mut zu haben, Strukturen zu verändern, heißt auch, Strukturen im Bildungsbereich zu verändern. Dabei geht es überhaupt nicht um Ideologie. Das unterstellen Sie uns immer. Es geht nicht um Ideologie, nein. Es geht um ganz simple Dinge: Einstieg in Bildung für alle, Aufstieg ermöglichen und Durchlässigkeit.

Herr Ministerpräsident, man muss da ein bisschen größer denken. Ich dachte, ich lese nicht richtig, als ich Ihren Sprechzettel zu der Jahresauftaktkonferenz der Bildungsminister in die Hand bekommen habe. Ich weiß nicht, ob Sie es vorgetragen haben. Darin steht:

Ebenso stieg die Quote der Aufsteiger von der Realschule zum Gymnasium von 0,15 % (absolut: 513 Schüler) auf 0,19 % (absolut: 624 Schüler).

(Zurufe)

Sie reden hier bei 2,7 Millionen Schülern in diesem Land über 111 zusätzliche Schüler, die den Aufstieg von der Realschule zum Gymnasium geschafft haben. Sie haben überhaupt nicht erkannt, wie drängend das Problem der mangelnden Durchlässigkeit im Bildungssystem ist.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Wir haben den Mut, Strukturen zu verändern. Wir haben auch den Mut, Schwerpunkte zu setzen und deutlich zu machen: Wir müssen in diesen Bereich investieren. Wir haben im Rahmen jeder einzelnen Haushaltsaufstellung gezeigt, dass wir diesen Weg gehen würden – ohne mehr Schulden zu machen als Ihr Finanzminister.

(Zurufe von allen Fraktionen – Ralf Witzel [FDP]: Milchmädchenrechnung!)

Wir werden noch darauf kommen, wie Ihre Endbilanz aussieht, Herr Minister. Darauf bin ich schon sehr gespannt.

Bildung von Anfang an! Sie schreiben: Kinderbildungsgesetz. Sie schreiben Bildung drüber, aber Bildung ist überhaupt nicht drin.

(Beifall von der SPD)

Heute sagen Sie auch nicht, dass Sie da nacharbeiten wollen. Das heißt, Sie haben dieses Dilemma überhaupt noch nicht erkannt.

Frühkindliche Bildung ist wichtig. Da sind wir seit einigen Jahren schlauer. Wir haben früher nicht alles gewusst, was in den Hirnen passiert, wie die Schaltungen wann verdrahtet werden.

(Minister Dr. Helmut Linssen: Ah!)

Haben Sie das gewusst? Sie waren wahrscheinlich schlauer, Herr Linssen. Ich glaube es Ihnen ja.

(Wolfgang Jörg [SPD]: Er weiß das! – Weite- re Zurufe)

Heute wissen wir das aber. Deshalb haben wir über Berlin die frühkindliche Förderung unterstützt. Deshalb haben wir hier versucht, die Ressourcen auszuweiten. Alles richtig und gut!

(Christian Möbius [CDU]: Richtig!)

Aber eines ist doch auch klar: Wenn wir uns einig sind, dass Bildung im Kindergarten beginnen soll, dann müssen auch bitte schön alle Kinder dort sein. Dann muss man Bildung gebührenfrei machen; denn Gebühren sind Hürden, und zwar vom Kindergarten bis zur Hochschule und auch bei der Meisterausbildung.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Aber was mir viel wichtiger ist, das ist der Bildungsbegriff, den Sie verwenden. Da muss man genauer hinschauen. Ich kann noch einmal sagen: Bildung ist für uns – ganz wichtig – mehr als Wissensvermittlung, mehr als das, was verwertbar ist im Sinne von Ökonomie. Das hat etwas mit persönlicher Entwicklung zu tun. Bildung ist deshalb für mich auch mehr als Befähigung. Das ist ja der neue Begriff, den Sie heute benutzt haben. Für mich hat Bildung mit Teilhabe zu tun.

Wenn Sie sich wirklich ernsthaft gegen die Durchökonomisierung unseres Bildungssystems – übrigens nicht nur des Bildungssystems – an unsere Seite stellen wollen, dann packen Sie das Hochschulfreiheitsgesetz in die Tonne! Das ist die logische Schlussfolgerung;

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

denn mit diesem Gesetz haben Sie Hochschulen zu Unternehmen gemacht. Und jetzt denken die wie Unternehmen, nämlich in Quartalsbilanzen. Und das ist fatal für den Bildungserfolg und die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Nordrhein-Westfalen. Das ist das, was da passiert.

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Zuruf von der CDU: Quatsch!)

Wenn wir über Bildung reden, dann sage ich: Ich glaube, wir haben ein unterschiedliches Menschenbild und unterschiedliche Zielrichtungen.

(Zuruf von Helmut Stahl [CDU] – Gegenrufe)

Für uns zentral ist Vielfalt. Für uns zentral ist der Elternwille. Und für uns zentral ist, dass Kinder auch schon im Schulsystem Demokratie und Mitsprache einüben. Wie sollen aus denen Demokraten werden, wenn Sie die Drittelparität abschaffen und die in Wahrheit an der Fortentwicklung ihrer Schule gar nicht mehr mitarbeiten können? Das passt doch nicht zusammen, Herr Ministerpräsident!

(Beifall von der SPD)

Auch bei dem Thema Bildung muss man von beiden Seiten her denken: von der sozialen Seite und von der Seite des wirtschaftlichen Erfolges.