Protokoll der Sitzung vom 11.03.2010

Wenn wir uns die Anhörung anschauen und sie auswerten, stellen wir fest, dass der PhilologenVerband, der Elternverein, der Realschullehrerverband und die Rheinische Direktorenvereinigung sich sehr eindeutig gegen den grünen Antrag ausgesprochen haben. Für den Antrag der Grünen haben sich das Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung, der Grundschullehrerverband und der Schulleiterverband Gesamtschule ausgesprochen.

Niemand der Gefragten konnte wirklich fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse vorweisen – weder die einen noch die anderen. Vielmehr waren es mehr gefühlte Aspekte, Glaubensfragen oder Erfahrungswerte. Das geht übrigens quer durch die parteipolitische Landschaft, wenn man sich in Deutschland umschaut.

In Hamburg hat gerade eine grüne Bildungssenatorin das Elternrecht eingeschränkt. An der Saar hat ein grüner Bildungsminister das verpflichtende Schulgutachten abschaffen wollen. In Berlin hat ein roter Bildungssenator die Empfehlung durch ein Gespräch ersetzt. In Bayern – zugegeben: da war es ein schwarzer Bildungsminister – bleibt es bei strengen Notenorientierungen, und in Niedersachsen möchte eine CDU-Schulministerin mehr Einfluss für Lehrer. Zusammenfassend kann man sagen: Bei 16 Bundesländern machen es acht so, acht anders. Streit und Diskussionen gibt es überall.

Man kann vielleicht eine kleine Tendenz herauslesen, wenn man auf die Karte schaut. Gute PISAErgebnisse korrelieren auffälligerweise mit einer verbindlichen Lehrerentscheidung. Schauen Sie dafür in den Süden und in den Osten unseres Landes!

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Bewerben Sie sich nicht als Statistiker!)

Ein absolut gerechtes Verfahren scheint schlichtweg nicht möglich. Die in Nordrhein-Westfalen praktizierte Annäherung an ein halbwegs gerechtes Verfahren scheint mir gut gelungen und eingespielt und

hat vor allem nichts, aber auch gar nichts mit Hellseherei zu tun. Wenn Sie einen Blick ins Gesetz werfen – ich zitiere aus § 11 des Schulgesetzes –, dann steht dort:

Die Eltern entscheiden nach Beratung durch die Grundschule über den weiteren Bildungsgang ihres Kindes in der Sekundarstufe I, soweit nicht nach einer pädagogischen Prognose zu diesem Zeitpunkt dessen Eignung für die gewählte Schulform offensichtlich ausgeschlossen ist.

Die Erfahrungen belegen: Knapp 99 % aller Übergänge verlaufen völlig konfliktfrei und unproblematisch. Jährlich sind es ca. 175.000 Kinder und ihre Eltern, die den Empfehlungen folgen. Es gibt rückläufige Zahlen beim Prognoseunterricht.

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Weil Eltern ihren Kin- dern das nicht zumuten wollen!)

Selbst wenn es zum Prognoseunterricht kommt, gibt es einen geringen Anteil der korrigierten Fälle; bei nur ca. 0,3 % ist eine Korrektur überhaupt erforderlich.

Werfen Sie einen Blick in die letzte Ausgabe der Zeitschrift für Erziehungswissenschaften aus dem Jahre 2009! Zusammengefasst steht in dem Artikel, dass erstens Übertrittsempfehlungen von Lehrern sicherlich ihre Schwächen haben, aber deutlich besser sind als der Ruf,

(Beifall von der FDP)

dass es zweitens durchaus einen Einfluss von sozialer Herkunft beim Verfahren gibt. Alles andere würde jeder Lebenserfahrung widersprechen. Die dritte Erkenntnis ist, dass Lehrer objektiver sind und sich tatsächlich stärker an den Leistungen orientieren als Eltern – Zitat –: „Reine Elternentscheidungen führen in der Regel zu den meisten sozialen Ungerechtigkeiten.“

(Beifall von CDU und FDP)

Meine Damen und Herren, die Durchlässigkeit, die im nordrhein-westfälischen Schulgesetz verankert ist, sorgt darüber hinaus für die Korrektur eventueller Fehlentscheidungen. Es gibt vielfältige Anschlussmöglichkeiten im Bildungssystem. Auch via Haupt- oder Realschule und Berufskolleg kann man in vielen Fällen zum Abitur gelangen.

Ein möglicher Ausweg wären eventuell standardisierte Leistungstests. Ich glaube aber kaum, dass das politisch durchsetzbar wäre. Die Diffamierung als Grundschulabitur haben wir auch hier in diesem Hause schon gehört. Uns bleibt letztlich, abzuwarten und vielleicht daraus zu lernen und ab und an nach Hamburg zu schauen, wo ein interessantes Experiment durchgeführt wird. Dort werden im Moment Kompetenztests im Zuge der Einführung einer sechsjährigen Grundschule geplant. Ich möchte aber das Thema sechsjährige Grundschule an dieser Stelle gar nicht aufmachen. Dies wäre das

nächste Aufregerthema, das uns noch später beschäftigen wird. – Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Hollstein. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion der SPD die Frau Abgeordnete Schäfer das Wort. Bitte sehr, Frau Kollegin.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Hollstein, wenn Sie meinen, dass es kein gerechtes Verfahren gibt, und wenn Sie dann anregen, man könnte eventuell über standardisierte Tests sprechen – aber das würde auch keine Mehrheit finden –, könnten Sie dann nicht vielleicht auch auf den anderen Ausweg kommen, dass es viel zu früh ist, über die Bildungsentwicklung eines Kindes zu entscheiden, wenn es das vierte Schuljahr verlässt?

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Ralf Witzel [FDP]: Oder wie die SPD in Berlin per Lotte- rie, das wäre auch eine Alternative!)

Wir sind in Nordhrein-Westfalen, Herr Witzel. Machen Sie sich mal über Berlin keine Gedanken! Herr Hollstein redet ja schon von Hamburg; das ist auch kein Modell für uns. Also bleiben wir bei dem, was hier im Lande stattfindet, und bei dem, was Sie zu verantworten haben.

(Ralf Witzel [FDP]: Und Sie als Ministerin die Zeit davor!)

Und Sie haben zu verantworten, dass es seit dem Jahre 2006 verbindliche Grundschulgutachten gibt und dass die Eltern seitdem nicht mehr frei entscheiden können, auf welche Schule ihre Kinder nach der Grundschule gehen. Das ist Fakt.

(Jürgen Hollstein [CDU]: Das ist falsch!)

Das haben wir schon 2006 in einem Antrag zum Thema gemacht. Es war nicht Weihnachten, es war im Januar 2006. Jetzt haben wir März 2010.

(Zuruf von Frank Sichau [SPD])

Das heißt, wir haben es drei- oder viermal zum Thema gemacht. Sie werden das heute wieder ablehnen. Das wird uns auch nicht verwundern.

(Beifall von der FDP)

Ich kann Ihnen nur sagen: Wir warten auf den 9. Mai, dann werden wir die Sache ändern. Wir sehen dem mit großer Gelassenheit entgegen. Denn das, was Sie in der bildungspolitischen Landschaft angerichtet haben, können Sie gar nicht wieder gutmachen. Das werden Sie auch als Quittung am Wahltag bekommen. Das sage ich Ihnen ausdrücklich.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Im Übrigen weise ich noch auf die Anhörung hin, aus der Sie zitiert haben, Herr Hollstein.

(Ralf Witzel [FDP]: Sie wollen die Einheits- schule! Wir können gern darüber diskutieren!)

Zuhören ist auch eine Kunst. – Sie haben gesagt: Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg. – Natürlich gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die genau belegen, dass die Wertigkeit der Grundschulgutachten nicht hundertprozentig ist, sondern dass es Fehlerquoten zwischen 30 % und 40 % gibt. Auch das ist in der Anhörung noch einmal ganz deutlich gesagt worden. Herr Holtappels hat auch noch einmal darauf hingewiesen. Sie müssen irgendwann zur Kenntnis nehmen, dass die Wissenschaft und nicht nur die Politik einhakt und deutlich macht, dass man über die Köpfe der Kinder hinweg etwas Falsches entscheidet.

Frau Beer hat eben ganz deutlich gemacht: Mit einem Notenschnitt von 2,7 kommt man an jede Schulform in Nordrhein-Westfalen. Ich frage unsere Gäste auf der Tribüne: Was würden Sie einem Kind in der Grundschule empfehlen, wenn es einen Notendurchschnitt von 2,7 hat? Was macht man da? Warum landet das eine Kind auf dem Gymnasium, warum landet das andere auf der Hauptschule, und warum landet das dritte auf der Realschule?

Was machen verantwortliche Lehrer? Sie schauen natürlich in das Elternhaus und sagen: Ein Kind mit einem Notendurchschnitt von 2,7 hat ein bildungsnahes Elternhaus. Die Eltern kümmern sich. Also geht es zum Gymnasium.

(Zuruf von Bernhard Recker [CDU])

Ein Kind mit den gleichen Fähigkeiten und einem vielleicht bildungsfernen Elternhaus bekommt die Empfehlung, auf die Hauptschule zu gehen.

(Horst-Emil Ellinghaus [CDU]: Das ist doch gar nicht wahr! – Zuruf von Ministerin Roswi- tha Müller-Piepenkötter – Weitere Zurufe von der CDU)

Sie müssen sich einmal erkundigen, Frau MüllerPiepenkötter. Diese Fälle sind existent. Das sind die Folgen Ihrer Politik.

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Sigrid Beer [GRÜNE]: Das ist Realitätsverweigerung!)

Dann schaut man ins Elternhaus.

(Ralf Witzel [FDP]: Das war doch zu Ihrer Zeit nicht anders!)

An dieser Stelle wird so deutlich, Herr Witzel, dass der Bildungserfolg so eng an die soziale Herkunft gekoppelt ist

(Ralf Witzel [FDP]: Das haben Sie doch ver- öffentlichen müssen!)

und dass man dieses Verhältnis nur auflösen kann, wenn man am System mit dem längeren gemeinsamen Lernen etwas ändert.

(Zuruf von Bernhard Recker [CDU])

Ich glaube, die Herrschaften auf den Tribünen möchten auch nicht, dass Kinder demnächst mit neun Jahren, wie Sie es geplant haben, unterschiedlichen Schulformen zugewiesen werden. Das ist doch geradezu idiotisch.

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Ralf Witzel [FDP]: Quatsch! Das ist doch Blödsinn!)

Ich zitiere abschließend eine Bemerkung von Herrn Bertling, dem Vorsitzenden des Grundschulverbandes – das sage ich für unsere Gäste auf der Tribüne –: Noten ab Klasse 2 – das haben Sie eingeführt – und verbindliche Grundschulgutachten – das haben Sie eingeführt – behindern das Lernen in der Grundschule.