Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wenn ein Ereignis eintritt, auf das man sich seit langer Zeit sehnlichst hin orientiert hat, wenn der Bericht endlich fertig vor einem auf dem Tisch liegt, auf den man sehr ernsthaft und intensiv hingearbeitet hat, mit einem Ergebnis, das wirklich sehr, sehr gut ist, einem Ergebnis, an dem andere großen Anteil haben und die gleiche Freude empfinden, wie ich sie heute empfinden kann, dann fehlen einem fast die Worte. Mir jedenfalls fehlen sie, das zu beschreiben und das adäquat vorzustellen, was wir dort getan haben und was daraus zu erfolgen hat. So geht es mir jedenfalls in diesem Moment. Es liegt auch ein bisschen daran, meine Damen und Herren, dass das heute meine letzte Plenarrede in diesem hohen Hause ist.
Die Entstehungsgeschichte und der Ursprung für mich und für die Fraktionen war die Tat in der Jugendhaftanstalt vom 11.11.2006, dem Tag, als der 20-jährige Hermann H. von drei Mitgefangenen zunächst über Stunden unsagbar brutal misshandelt und gequält worden und in der Nacht erhängt worden ist. Diese Tat lag der Einsetzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zugrunde, dem ich damals angehörte und der die politische Verantwortlichkeit für das Geschen klären sollte.
Meine Damen und Herren, durch diese Arbeit wurde ich nicht nur mit den schrecklichen Einzelheiten dieser Tat konfrontiert, sondern das erste Mal auch mit der harten Wirklichkeit des Jugendstrafvollzugs in NRW, mit den Schwierigkeiten, den Missständen und dem Engagement der Bediensteten, aber auch mit den begrenzten Möglichkeiten, auf die jungen Inhaftierten mit ihren individuellen, vielschichtigen Problemkonstellationen erzieherisch und resozialisierend einwirken zu können.
des Hauses, auch wenn ich mich nicht um Vollzug gekümmert habe. Aber wir verantworten hier diese Zustände. Diese Tat hat mich erschrecken lassen und mich dazu angespornt, dafür zu werben, dass aus diesem Untersuchungsausschuss eine Enquetekommission wurde. Das wurde sie dann auch. Dank der Einsicht aller haben wir sie bekommen.
Dass am Ende alle Fraktionen dieser Enquete zugestimmt haben, war auch für mich ein seltener Glücksmoment, für den ich sehr dankbar bin, weil ich dieser Arbeit angehören durfte.
Jetzt hat diese Kommission auch noch einen gemeinsam erarbeiteten Bericht ganz ohne Sondervoten, von allen Mitgliedern getragen, vorzuweisen, wovon ich als Grüner nicht zu träumen gewagt hätte. Das ist ein Ergebnis, meine Damen und Herren, das sich sehen lassen kann.
Das ist bahnbrechend. Die Fragen, was in NRW geschehen muss, damit unsere Kinder und Jugendlichen nicht in eine Spirale aus Kriminalität und Gewalt geraten oder – mehr auf unsere eigene Verantwortung hier im Hohen Hause hinweisen – was wir Politikerinnen und Politiker tun können und müssen, welche Rahmenbedingungen von uns zu schaffen sind in NRW, damit möglichst alle Kinder und unsere Jugendlichen von vornherein mit jenen Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet werden können, die sie benötigen, um ihr eigenes Leben innerhalb unserer Gesellschaft straffrei bewältigen zu können, diese beiden Fragen und insbesondere die Antworten darauf waren bisher höchst umstritten. Absolut! Ungefähr so, wie heute Morgen die Energiepolitik in der Aktuellen Stunde in diesem Hohen Hause zelebriert worden ist. Höchst umstritten!
Das ist vorbei. Diese Zeit einfacher und populistischer Erklärungsmodelle angesichts von jungen Menschen begangener Gewaltdelikte in NRW ist endgültig vorbei. Dieser Bericht wird seinen Weg in die Fachöffentlichkeit finden, dort und anderswo aufmerksam gelesen werden. Er wird alte Reflexe in Richtung Strafverschärfung überhaupt nicht mehr zulassen, auch nicht im Wahlkampf, meine Damen und Herren. Ich hoffe, es hält auch noch nach dem Osterfrieden, dass das hier in Nordrhein-Westfalen jedenfalls bei der Einigkeit, die wir gefunden haben, kein Thema mehr ist.
Das beeindruckende Fachwissen unserer sachverständigen Mitglieder und derjenigen, die uns mit ihrer Expertise auch von außen zugearbeitet haben, hat sich in diesem Bericht prägend ausgewirkt. Dafür danke ich Ihnen allen oben auf der Tribüne noch einmal recht herzlich.
„Frühe Hilfen statt späte Härte“ ist die Grundaussage des Berichts, die für alle Lebenssituationen unserer Kinder und Jugendlichen gilt. Frühe Hilfen sind wirksam und zahlen sich zudem finanziell aus. Einem in erfolgreiche Präventionsprogramme investierten Euro stehen, je nach Untersuchung und wenn man einen ganzen Lebenszyklus betrachtet, 2 € bis insgesamt sogar 10 € an ersparten Transferleistungen und Resozialisierungsaufwendungen gegenüber. Es gilt: Je früher investiert wird, desto größer sind die Effekte. Meine Damen und Herren, da müssen wir ran.
Wir haben uns gefragt: Wie professionell sind eigentlich unsere Profis? Hier haben wir durchaus Entwicklungspotenziale erkennen können. Die Aus- und Weiterbildung derjenigen Fachkräfte, die eine an der Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen und Heranwachsenden orientierte pädagogische Arbeit in der Jugendhilfe, der Schule oder im Jugendstrafvollzug leisten müssen, ist so zu gewährleisten, dass sie insbesondere die Handlungskompetenzen im Umgang mit schwierigen und verhaltensauffälligen jungen Menschen erhöht. Das, meine Damen und Herren, firmiert unter dem Gesichtspunkt Basisqualifikation. Man muss wissen, dass es diese Auffälligkeiten gibt, man muss wissen, wie man interveniert, und man muss wissen, wen man zu Hilfe ruft. All das gibt es in diesen Feldern bislang nur unzureichend. Auch da müssen wir ran.
Mehr denn je brauchen wir zunehmend Fachkräfte, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Auch das ist ein Arbeitsfeld, das wir beackern müssen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum vorletzten Punkt: Den Genderaspekt haben wir in unserer Arbeit nicht beiseite gelassen. Wir haben uns nach intensiv geführter Diskussion darauf einigen können, dass wir von den zentralen Akteuren im Präventionsbereich in Zukunft verlangen, die Geschlechterperspektiven in ihre Arbeit einfließen zu lassen. Weil abweichendes Verhalten im Einzelfall eng mit den unterschiedlichen Lebenssituationen von Mädchen und Jungen im Zusammenhang stehen könnte, empfehlen wir die Vermittlung von Geschlechterwissen als Basisqualifikation für alle, die in diesem Feld tätig sind. Auch daran scheitert es heute teilweise noch. Es gilt, der Verfestigung von rigiden Geschlechternormen frühzeitig entgegenzuwirken, zu denen auch die gewalttätige Konfliktbereinigung als Ausdruck einer tradierten Männlichkeit gehören kann.
ventionsstelle eingehen: Diese Stelle wollen wir als Koordinierungsstelle verstanden wissen, als zentralen Knotenpunkt im Präventionsnetzwerk in NRW, der in der Lage ist, die bislang bestehenden Zuständigkeitsgrenzen der Jugendhilfe unter Beibehaltung derzeitiger Hilfesysteme zu überwinden. Es soll eine Servicestelle sein, an die sich Jugendämter, Jugendstaatsanwälte, die Jugendgerichtshilfe, aber auch Träger und der Gesetzgeber, alle, die etwas wissen wollen, wenden können, um dort Informationen abzurufen, wenn es darum geht, für Handlungen Empfehlungen zu bekommen.
Meine Damen und Herren, bahnbrechend ist zudem die Empfehlung, sich vom Jugendstrafvollzug der herkömmlichen Art dauerhaft abzuwenden und stattdessen konsequent auf die pädagogische Ausgestaltung der Erziehungshilfe auf allen Ebenen zu setzen. Auch der Vollzug findet, wenn er im Einzelfall nicht zu vermeiden sein sollte – so die Erkenntnisse aus der Kommission –, möglichst nur noch in offenen bzw. freien Formen und in Wohngruppen statt. Zudem gilt es, wie auch Herr Engel gesagt, die U-Haft wegen der negativen Wirkungen möglichst ganz zu vermeiden. Das, meine Damen und Herren – das muss man ausdrücklich sagen –, ist ein Paradigmenwechsel, das ist bahnbrechend.
Genauso eindeutig will ich sagen: Es ist nicht als Affront gegen die jetzt Handelnden im Vollzug, gegen den Vollzugsapparat gemeint, sondern als Einladung zu verstehen, gemeinsam mit dem Parlament eine Neuausrichtung vorzunehmen. Das wird dauern, meine Damen und Herren – eine Legislaturperiode, zwei Legislaturperioden, vielleicht auch länger –, aber anfangen wir müssen schon jetzt.
Wenn die Politik meint, mit der heutigen Kenntnisnahme des Berichts sei die Arbeit erledigt, hat sie sich gewaltig getäuscht. Es ist ein erster, wenn auch fulminanter Auftakt für eine überfällige gesamtgesellschaftliche Diskussion, die jetzt folgen muss. In der nächsten Legislaturperiode kommt die Umsetzung der Handlungsempfehlungen auf das Parlament zu. Auch ist die nächste Regierung gehalten, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich in NRW eine effektive, moderne und am Wohl der Kinder und Jugendlichen orientierte Präventionspolitik etablieren kann, die letztlich uns allen, auch möglichen weiteren Opfern, zugute kommt.
Meine Damen und Herren, ich danke den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktionen, insbesondere Olaf Behnk und Annegret Ott, den Kolleginnen und Kollegen Sprechern aus den Fraktionen, Bernhard Tenhumberg, Markus Töns, Horst Engel, und natürlich der Vorsitzenden.
Ich bin stolz, aber mehr noch dankbar, dass ich Teil dieser Enquetekommission sein durfte. Es hat sich wirklich gelohnt. Manche von Ihnen kennen mich sonst eher in der Rolle des Haudrauf. Das habe ich Ihnen heute in meiner letzten Rede erspart. Dies macht mich ein Stück weit glücklich; denn die Ergebnisse, die man erreichen kann, wenn man sich gemeinsam vorgenommen hat, im Interesse des Landes zu handeln, sind oftmals viel besser, als wenn man sich nur zänkisch streitet, meine Damen und Herren. Das ist die Erkenntnis.
Weil dies meine letzte Plenarrede ist, lade ich Sie recht herzlich ein, nach diesem Tagesordnungspunkt nicht ganz sang- und klanglos auseinanderzuscheiden, sondern gleich drüben noch ein Gläschen mit mir zu sich zu nehmen. Dazu sind Sie alle recht herzlich eingeladen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Groth, für die letzte Rede nach vielen Jahren im Parlament. Ich darf Ihnen vom Präsidium aus sicherlich im Namen des gesamten Hohen Hauses für die Zusammenarbeit, den gemeinsamen Streit und die gemeinsamen Stunden danken. Ich wünsche Ihnen im Namen aller in diesem Hohen Haus für die Zukunft alles erdenklich Gute.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der umfassende Bericht der Enquetekommission enthält eine Fülle von Anregungen und Hinweisen zu dem sensiblen Thema auffälliger und delinquenter Kinder und Jugendlicher. Ich danke der Kommission ganz herzlich für anderthalb Jahre intensive Arbeit.
Es ist wichtig und richtig, wenn die Kommissionsvorsitzende, Frau Abgeordnete Kordowski, gleich zu Beginn des Berichts in ihrem Vorwort ausführt, dass es in erster Linie darum gehen muss, Kinder und Jugendliche vor Gefahren zu schützen und nicht die Gesellschaft vor Kindern und Jugendlichen. Das ist die Botschaft, die sich durch den ganzen Bericht zieht und die auch die heutige Debatte geprägt hat.
Überzeugend finde ich auch den Ansatz der Enquetekommission, dass wir Jugendkriminalität nur dann erfolgreich vermeiden können, wenn Kinder und Jugendliche früh gestärkt und gefördert werden. Das ist das richtige Ausgangsverständnis. Hier stimme ich mit der Kommission völlig überein.
größer, kriminell zu werden. Sie stehen mehr als andere Kinder und Jugendliche vor entmutigend großen Barrieren. Sie haben auch weniger Chancen, beim Aufwachsen Erfolge zu sammeln. Das gilt für die Schule. Das gilt für den Übergang von der Schule in den Beruf. Das gilt aber ebenso für ihren Lebensalltag und bis hinein in die familiären Verhältnisse. Das, was Sie eben zur Liebe beschrieben haben, ist richtig. Oft führt das zu der Erfahrung, dass man etwas vermisst. Bei allen straffällig gewordenen Jugendlichen finden wir in der Regel den gleichen Befund: die Erfahrung von Ausgrenzung aus wichtigen Feldern der Gesellschaft.
Wir müssen daher alles daransetzen, dass alle Kinder und Jugendlichen so früh wie möglich jede Chance, die ihnen das Leben bietet, nutzen können, damit aus Lebenswegen keine Abwege werden.
Immer wieder gibt es Meldungen über Ereignisse, die dramatisch sind und uns stark berühren, zum Beispiel bei Gewalttaten von Jugendlichen gegen andere, zum Teil wehrlose Menschen und bei Amokläufen von jungen Menschen in Schulen. Aktuell ist die Erinnerung an den letzten Fall in Großbritannien.
Oft hört man dann: Die Jugend wird immer krimineller. – Diese Schlussfolgerung ist aber sicher falsch. Die allermeisten Kinder und Jugendlichen in unserem Land gehen durchs Leben, ohne jemals durch delinquentes Verhalten aufgefallen zu sein. Der Kollege Töns hat es eben so beschrieben: Es fiel nicht auf, obwohl es da war, hat aber jedenfalls nicht zu einer kriminellen Karriere geführt.
Sie erreichen Schulabschlüsse mit teils beachtlichen Leistungen, engagieren sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich in Vereinen, Verbänden und Parteien, nicht selten auch individuell in ihrem persönlichen Umfeld – und das in einer Zeit, in der Kinder und Jugendliche eine Menge aushalten müssen. Auf Kinder und Jugendliche kommt ja von außen heute viel, viel mehr an Entscheidungen, an Versuchungen, an Herausforderungen zu, als dies vielleicht in früheren Zeiten der Fall war, jedenfalls an anderen Herausforderungen.
Bei den jungen Menschen, die auf einem anderen, dem gefährlichen Weg sind, müssen wir genau hinschauen. Meistens gibt es nicht nur eine einzige Ursache, aus der heraus sie auffällig werden, sondern es gibt ein ganzes Bündel von Gründen.
Das ist in unserer öffentlichen Diskussion natürlich immer ganz anders. Wenn ein Amoklauf stattfindet, bitten 15 Minuten später die ersten Medien um eine Stellungnahme des Ministeriums. Das findet überall statt. Irgendwer wird bestimmt schon 15 Minuten nach dem Amoklauf den Grund dafür wissen. Wenn der Amokläufer zufällig ein Computer
spiel hatte, dann waren es die Computerspiele. Wenn es ein Zuwanderer war, war es eine gescheiterte Integration. Dann war es meistens noch die Religion oder irgendetwas. Aber dass es viele Gründe geben kann, ehe ein Jugendlicher kriminell wird, das wird meistens übersehen.
Problematisch wird es erfahrungsgemäß dann, wenn bestimmte Risikofaktoren gehäuft in Familien zusammentreffen, wenn also beispielsweise die Familie durch Arbeitslosigkeit von Armut bedroht ist, die Eltern Suchtprobleme haben und sich dazu noch als gewalttätig erweisen. In diesen Fällen besteht die große Gefahr, dass sich die Kinder und Jugendlichen nicht gesund und altersgemäß entwickeln.
War die Situation in der Familie in der Vergangenheit davon geprägt, dass die Familie den Kindern und Jugendlichen in vieler Hinsicht einen stabilen Rahmen zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit geben konnte, ist in vielen Fällen diese Begleitung der Familie nicht mehr selbstverständlich. Bestand der Familienverbund früher aus den leiblichen Eltern und ihren Kindern, so gibt es heute vielfach andere Formen von Familie, Patchworkfamilien, alleinerziehende Familien, wo ein Elternteil die ganze Last alleine trägt.
Wurde das Familieneinkommen früher durch einen Elternteil an einem Wohnort erzielt, so ist es heute häufig nötig, dass Familien umziehen, dass Kinder aus bewährtem Umfeld herausgerissen werden und sich an anderen Orten wieder finden müssen. Auch das ist ein wichtiger Punkt bei der Entwicklung von Kindern.
Daneben ist es für die Eltern, die selbst von Arbeitslosigkeit betroffen sind, ausgesprochen schwierig, den Kindern und Jugendlichen verlässliche schulische und berufliche Perspektiven aufzuzeigen.