Protokoll der Sitzung vom 05.04.2006

laden hat, sollte wahrhaftig nachdenklich machen. Die Lehrkräfte an den Hauptschulen reden Tacheles, auch in Nordrhein-Westfalen. Sie thematisieren die zunehmende Gettoisierung von Kindern aus Familien mit sozialen Problemen, die auch Migrant/inn/en sein können, die sich in der Schulform im System spiegelt.

Interessant, dass die Bochumer Grund- und Hauptschullehrer/innen, die die Ministerin im August 2005 um sofortige Unterstützung für die Hauptschule gebeten haben, vom Ministerium folgende Antwort bekamen, die die „WAZ“ vom 3. April öffentlich macht:

„Für den Fall, dass Sie eine inhaltliche Auseinandersetzung der obersten Dienstbehörde mit dem Ergebnis Ihrer Meinungsbildung anstreben, rege ich an, dass Sie dem Hauptpersonalrat für Lehrkräfte Ihrer Schulform, der nach der Systematik des Personalvertretungsrechts mein Gesprächspartner ist, über Ihre Beschlüsse beziehungsweise Ihre Auffassung unterrichten.“

(Barbara Steffens [GRÜNE]: Das kann doch nicht wahr sein!)

„Falls der Hauptpersonalrat dies wünscht, werde ich diejenigen Themen, zu denen eine personalvertretungsrechtliche Zuständigkeit besteht, in dem gesetzlich vorgesehenen Verfahren mit ihm beraten.“

So antwortet das Ministerium Sommer.

Ob die Rütli-Schule vor ihrem Hilferuf wohl auch solche Briefe auf ihre ersten Schreiben erhalten hat? Bochumer Hauptschulen finden sich dann auch nicht bei den ersten Schulen in der Hauptschuloffensive.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Vollmundig erklärt Ministerin Sommer im Januar 2006:

„Wir werden dafür sorgen, dass die neuen Ganztagshauptschulen zielgenau in Ballungszentren mit besonderen sozialen Problemlagen entstehen.“

Von den ersten 20 Schulen finden sich 75 % in Wahlkreisen von CDU-Abgeordneten und eben nicht in den klassischen Ballungszentren.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Es ist ja schön, dass zunächst einmal Schulen im Wahlkreis von Herrn Recker und Herrn Biesenbach, von Herrn Schemmer, Frau Milz oder Herrn Wilp mitmachen dürfen. Bei Herrn Kaiser in Arnsberg sind es gleich zwei Schulen.

Meine Damen und Herren, damit das klar ist: Jede der 20 Hauptschulen kann die zusätzlichen Ressourcen sicherlich gut gebrauchen; sie sind dort gut aufgehoben und gegönnt. Ihre Hauptschuloffensive ist aber im Paket mit dem Schulgesetz nicht mehr und nicht weniger als die Beruhigungspille, die von der weiteren Privilegierung des Gymnasiums ablenken soll.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Die Mittel werden zudem offensichtlich erst einmal gezielt parteipolitisch gestreut. Wir werden genau hinschauen, wohin die nächsten Mittel gehen werden! Staatssekretär Winands hat es unverblümt auf den Punkt gebracht: Kriegsgewinnler, so wird er zitiert, der schwarz-gelben Schulpolitik seien die Gymnasien. Wen wundert es eigentlich, dass sich fast als erste in der Debatte um die Rütli-Hauptschule in Berlin der Gymnasiallehrerverband zu Wort gemeldet hat, um vehement das Fortbestehen der Schulform Hauptschule zu fordern?

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Hauptschule hat die größten Integrationsleistungen in Bezug auf die Schüler/innen zu erbringen, denen schon durch den Ausleseprozess beim Übergang in die weiterführende Schule signalisiert wird: Bei dir reicht es nicht. Du schaffst es nicht. – „Sammelbecken der Verlierer“ nennen das die Bochumer Hauptschullehrer/innen. Und die Schüler und Schülerinnen kennen die Realitäten ganz genau – auch die Eltern. Deswegen sind die Zahlen der Hauptschulanmeldungen im Jahre 2006 in NRW auf 16,9 % gesunken.

Ihre Formulierung zur Aktuellen Stunde spricht doch Bände. Sie wollen – Zitat – „eine gezielte Integration von Schüler/innen ausländischer Herkunft durch eine Profilierung der Hauptschulen im gegliederten System“. – Das ist doch eine klare Platzzuweisung in dieser Gesellschaft.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Der Hauptschule ist nur zu helfen, wenn man ihr erlaubt, mit den anderen Schulformen im System zu einer Schulform zusammenzuwachsen, die den Stigmatisierungs- und Benachteiligungseffekt der Hauptschule überwindet. Dazu muss die Hauptschule aktuell auf der einen Seite unterstützt werden, auf der anderen Seite müssen die Lernbarrieren zu den anderen Schulformen konsequent zugunsten von mehr Integration, mehr sozialem Zusammenhalt im Verbund mit individueller Förderung abgebaut werden. Das ist die Antwort, die ich den Bochumer Lehrerinnen und Lehrern gegeben habe.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Das wäre doch die ehrliche und konsequente Politik, wenn es Ihnen um die Zukunftschancen aller Kinder und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft ginge. Aber Sie treten in Ihrem Hamsterrad der begabungsgerechten Schule weiter auf der Stelle.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Ich möchte zum Schluss Berliner Hauptschüler/innen mit ihrem Leserbrief vom 3. April 2006 in der „taz“ zu Wort kommen lassen:

„Durch die Presse und die öffentlichen Reaktionen (gerade von einigen Politikern) wird uns Jugendlichen ein letztes Mal bestätigt, dass wir in dieser Gesellschaft nichts wert sind und im Gegenteil sogar unerwünscht sind und am besten abgeschoben werden sollten. Das macht natürlich wütend und aggressiv. – Wir wollen natürlich gefördert und nicht abgeschoben werden. Wir wollen mit den Deutschen zusammenleben, mit ihnen zur Schule gehen und auch von ihnen lernen.

Aber wer wird jetzt sein Kind auf eine Schule mit hohem Ausländeranteil schicken? Multikulti ist nicht, wie selbst einer unserer Lehrer sagt, gescheitert, multikulti war schon immer schwer, weil uns auch oft das Gefühl gegeben wird, nicht willkommen zu sein.“

Das sind die Botschaften, die wir mit unserem Schulsystem setzen. Deswegen müssen wir dringend darüber nachdenken, wie wir das gemeinsam überwinden können. Dann, Herr Solf, sind Ihre guten Appelle auch an der richtigen Adresse.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Vielen Dank, Frau Beer. – Für die FDP-Fraktion Frau Pieper-von Heiden.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich frage mich, von welchem Teufel interessierte Kreise geritten werden, die aus den massiven Gewaltvorkommnissen an der Rütli-Schule in Berlin schlussfolgern, Hauptschulen müssten abgeschafft werden.

(Beifall von der FDP)

Seit wann löst man Probleme, indem man sie verteilt? Was ist das bloß für eine Denkweise? Wo bleibt die Verantwortung für eine ganze Generation, für unsere Gesellschaft?

(Widerspruch von Carina Gödecke [SPD])

Ist es nicht unehrlich, unter dem Eindruck der aktuell öffentlich bekannt gewordenen Schülergewalttaten in Berlin so zu tun, als sei man völlig überrascht und überrollt von solchen Ereignissen?

(Hannelore Kraft [SPD]: Wer tut das denn?)

Meine Damen und Herren, wer in den letzten Jahren nicht völlig die Augen verschlossen hat, musste zur Kenntnis nehmen, dass sich parallel zu immer mehr Einschränkungen der Lehrerrechte bei der schulischen Erziehung eine Verrohung und zunehmendes Gewaltpotenzial bei Jugendlichen in der Klasse, auf dem Schulhof und dem Nachhauseweg breitgemacht hat.

(Zuruf von der CDU: Sehr richtig!)

Adressaten dieser Gewalt wurden immer öfter auch Lehrer. Sie wurden unsicher, mit welchen Mitteln sie sich überhaupt wehren durften.

Zwar gab es zu allen Zeiten Rangeleien auf dem Schulhof oder dem Nachhauseweg, aber die aktuelle Gewaltbereitschaft von Schülern offenbart ein Ausmaß an krimineller Energie und Verwahrlosung, das alle Alarmglocken in Bewegung setzen muss.

(Widerspruch von Sylvia Löhrmann [GRÜ- NE])

Meine Damen und Herren, wir haben keine Probleme, weil es Hauptschulen gibt, sondern wir haben Probleme, weil die Hauptschulen in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt worden sind.

(Beifall von der FDP)

Wir haben Probleme, weil Multikulti-Anhänger gleichzeitig Gegner echter und notwendiger Integration waren.

Wir haben Probleme, weil Gutmenschen verkannt haben, dass zur erfolgreichen Teilnahme am Unterricht und Teilhabe an der Gesellschaft eben auch deutsche Sprachkenntnisse in ausreichendem Umfang gehören.

(Beifall von der FDP)

Und wir haben Probleme, weil es viel zu lange zur Political Correctness gehörte, nicht zu verlangen, dass jedes Kind bei seiner Einschulung altersgemäß Deutsch sprechen können muss.

Ein veritabler Beleg dafür ist das Protokoll der ersten Schulausschusssitzung der 13. Wahlperiode dieses Landtags. Ich erinnere an die Vorvorgängerin der jetzigen Schulministerin.

Und wir haben Probleme, weil eine linke Politik über Jahre verhinderte, dass jungen Menschen

Grenzen gesetzt und ihnen gleichzeitig Leistung und Rücksichtnahme abverlangt wurden. All dies ist jedoch notwendig, damit sie nicht Verlierer am hart umkämpften Arbeitsmarkt werden.

Unsere Hauptschulen haben lange Jahre ein Schattendasein geführt. Es fehlte ihnen beides: eine angemessene öffentliche Achtung vor ihrer Arbeit und eine ebenso angemessene Ressourcenausstattung.