Protokoll der Sitzung vom 27.09.2006

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Danke schön, Frau Hendricks. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Frau Beer.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die beiden Regierungsfraktionen haben heute Morgen eher die Gelegenheit genutzt, sozusagen noch einmal den Haushalt für das einzubringen, was sie im Ausschuss irgendwie nicht richtig hingekriegt haben

(Beifall von GRÜNEN und SPD – Christian Lindner [FDP]: Oh!)

durch den unsäglichen Geschäftsordnungsantrag von Frau Pieper-von Heiden. Heute ist die Ministerin dabei – wunderbar! Das ist ein schöner Aufschlag.

(Zuruf von Christian Lindner [FDP])

Zum Thema der Aktuellen Stunde! Ich freue mich für die Schulen, die in Ihrer Pressekonferenz zur

Vorstellung des Gütesiegels „Individuelle Förderung“, Frau Ministerin, Gelegenheit hatten, ihre erfolgreiche schulische Arbeit einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen.

(Unruhe)

Ich freue mich immer für die Schulen, wenn ihre intensive Arbeit wertgeschätzt wird. Ich würde mich aber noch mehr freuen, wenn die Bildungslyrik der Regierung mit dem grundlegenden Handeln übereinstimmen würde und sich nicht im Schaulaufen und immer neuen unsystematischen Aktionen erschöpfen würde.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Frau Ministerin, ich frage Sie grundsätzlich: Haben Sie denn nun die individuelle Förderung als grundlegende verpflichtende Aufgabe für alle Schulen in das Schulgesetz aufgenommen, oder ist das eine Aufgabe, die jede einzelne Schule für sich handeln kann?

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Wenn die Schule das so möchte, in diese Richtung aktiv wird und das zufällig auch schon lange ist, kann sie sich um ein solch neues Label bewerben.

Ich habe es bisher so verstanden, dass die individuelle Förderung für alle gemeint ist. Das ist auch richtig und gut so. Allerdings ist das neue Gütesiegel, das eben davon ausgeht, dass die Qualität nicht an jeder Schule gewährleistet sein wird, in der Tat ein eleganter Weg für Schwarz-Gelb, sich aus der allgemeinen Verantwortung zu stehlen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sie laden den Schwarzen Peter einfach bei der einzelnen Schule ab, wenn es mit der individuellen Förderung nicht durchgehend klappt. Ich zitiere dazu die Ministerin aus der Zeitschrift „Chrismon“ vom August 2006:

„Künftig zeigt sich, wer wirklich am Ball ist, wer modern und individuell unterrichtet. Der Dornröschenschlaf ist zu Ende.“

Ich frage Sie, Frau Ministerin Sommer: Wer küsst Sie denn eigentlich wach?

(Allgemeine Heiterkeit)

Es wird höchste Zeit, denn Sie tun nichts für die flächendeckende systematische und kontinuierliche Unterstützung und Fortbildung,

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

damit individuelle Förderung eben flächendeckend und systematisch an allen Schulen verankert wird.

Herr Recker, wenn Sie vom Lernstudio als der Errungenschaft der neuen Koalition reden, muss ich Ihnen sagen: Das Lernstudio hat keine Substanz. Da ist das Gard-Haarstudio ja noch besser ausgestattet; da gibt es wenigstens noch extra Stühle.

(Beifall von GRÜNEN und SPD – Zurufe von der FDP)

Das Lernstudio ist doch wirklich nur eine Form der äußeren Differenzierung. Die bestehenden Ressourcen werden etwas anders verteilt. Das ist nichts Neues. Das ist keine Innovation. Das trägt nicht besonders zur individuellen Förderung bei.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Träumen Sie schön weiter, Frau Ministerin, wenn Sie denken, dass es der Wettbewerb und der Markt alleine richten werden. Sie haben zugelassen, dass das Landesinstitut zerschlagen wird, Sie reduzieren das Moderatorensystem empfindlich

(Zuruf von Ingrid Pieper-von Heiden [FDP])

und wollen uns weismachen, das alles könnte jetzt von einer kleinen Stiftung zur Förderung Hochbegabter kompensiert werden,

(Ralf Witzel [FDP]: Och!)

die Fortbildung von Einzelpersonen ermöglicht.

Auch Kongresse zum Thema individuelle Förderung dienen nur dem Schaulaufen einer Ministerin, wenn die Ergebnisse und Erkenntnisse nicht flächendeckend und systematisch durch kontinuierliche Unterstützung und verpflichtende Fortbildung mit der notwendigen Zeitressource umgesetzt werden.

Die wirkliche Antwort, warum dieses Gütesiegel neben der Schulprogrammarbeit, in der doch die Schulgesetzvorgabe der individuellen Förderung durchdekliniert werden muss, neben der Teilnahme an teilzentralen Prüfungen, neben der Teilnahme an Lernstandserhebungen und neben der Qualitätsanalyse, die die Schulgesetzvorgabe doch auch aufnehmen muss – das liegt doch wohl klar auf der Hand –, jetzt auch noch eingeführt werden muss, lautet: Das ist das hilflose Umherirren im Dunkel einer nicht systematisch entwickelten Bildungspolitik. Hier und da wird ein Notlicht aufgestellt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die professionelle Kompetenz, die allerdings nötig ist, um individuell zu fördern, wird eben nicht planvoll und systematisch entwickelt, unterstützt und gefestigt. Das alles bleibt der einzelnen Schule überlassen.

Mit dem Gütesiegel führen Sie eine zusätzliche Expertenkommission ein, die die Schulen nach Papierform beurteilt. Neben der Schulprogrammarbeit und neben der Qualitätsanalyse gibt es ein neues Format der Bewertung.

Pech haben im Übrigen die Eltern und Schülerinnen und Schüler, die keine Schulen mit Gütesiegel in ihrer Nähe haben. Wer es sich leisten kann, wird schon zusehen, dass der Nachwuchs in die richtige Schule kommt – wo auch immer. Das Windhundprinzip gilt nicht nur bei den Grundschulen, sondern wird systematisch auf die gesamte Schullandschaft übertragen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir brauchen allerdings eine Fortbildungsoffensive mit entsprechenden Vereinbarungen und einer substanziellen Unterfütterung, die dafür sorgt, dass sich alle Schulen auf den Weg machen, sich weiterentwickeln und voneinander lernen.

Die Ministerin verspricht Transparenz, propagiert aber ein neues Schaulaufen und einen Wettbewerb aus unterschiedlichen, unfairen und ungleichen Startpositionen heraus. Es ist ja auch kein Zufall, dass der Staatssekretär gegenüber der Presse zu Protokoll gibt, dass sich die Landeselternschaft der Gymnasien mit der neuen Politik zufrieden zeigt und dass auch der Philologenverband zurzeit handzahm ist. Die Gymnasien werden ja im neuen Haushalt auch überproportional mit hohen Stellenzahlen bedient, nämlich 1.363, während bei den Grundschulen 344, bei den Hauptschulen 846, bei den Realschulen 149 Stellen kassiert werden. So wird selbst das richtige Ansinnen, nicht mit der Gießkanne durchs Land zu gehen und nach zusätzlichen Bedarfen zu schauen, zu einer reinen Klientelpolitik, um die Gymnasialfront ruhigzustellen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dem Gymnasium gilt trotz aller Fensterreden Ihre Fürsorge in erster Linie. Denn Sie haben ja auch ein Gymnasialgesetz gemacht und kein Schulgesetz.

(Ralf Witzel [FDP]: Blödsinn!)

Frau Ministerin, „lassen Sie sich individuell fördern!“. Sie haben nach der Sendung „Hart aber fair“ gesagt, Sie würden sich gerne einmal länger mit Herrn Schleicher unterhalten. Dem kann ich

nur zuraten. Der könnte Ihnen nämlich zur Frage, wie Bildungspolitik insgesamt zukunftsorientiert aufgestellt sein müsste, einiges vermitteln. Allerdings nutzt das nichts, wenn Sie nicht auf ihn hören oder nicht auf ihn hören dürfen.

Das gilt auch für die Frage, wie sich Lernbarrieren bei uns auswirken, die durch die Schulformen festgefügt sind, und die Sie noch weiter zementieren. Auch dieses Thema können wir Ihnen auf Dauer nicht ersparen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Danke schön, Frau Beer. – Für die Landesregierung spricht jetzt Frau Ministerin Sommer.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich nutze heute Morgen sehr gerne die Gelegenheit, in dieser Aktuellen Stunde aus Sicht der Landesregierung ein paar konkretisierende Sätze zu individueller Förderung, aber auch zum Gütesiegel zu machen:

Wie Sie wissen – das ist auch schon in den Vorreden genannt worden –, ist „individuelle Förderung“ eine der starken Säulen unseres neuen Schulgesetzes. Ich denke, dass es die Säule schlechthin ist. Sie ist erstmalig wirklich gesetzlich verankert worden. Die individuelle Förderung ist – das muss man an dieser Stelle sagen – kein neuer Ansatz, wahrlich nicht. Wo immer ich mich im Lande befinde und es Fragerunden gibt, wird mir immer wieder gesagt: Es geht Ihnen zwar um individuelle Förderung, aber wie macht man die? – Eigentlich wäre die Antwort auf diese Frage eine Gegenfrage: Wie haben Sie es denn bisher gemacht? – Denn individuelle Förderung ist bereits in vielen Lehrplänen und Richtlinien seit Jahrzehnten verankert. Nur ist sie dort offensichtlich noch nicht angekommen, wo sie landen soll.