Protokoll der Sitzung vom 14.09.2005

(Beifall von FDP und CDU - Dr. Gerd Boller- mann [SPD]: Was für eine Logik!)

Wir stehen für einen Politikwechsel bei Bildung und Forschung. Wir wollen, dass über den Bildungserfolg junger Menschen nicht mehr - denn so ist das nach Ihrer Regierungszeit - das Einkommen der Eltern und die soziale Herkunft entscheiden. Wir wollen, dass junge Menschen in unserem Land wieder faire Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Die haben sie nämlich nicht. Ferner wollen wir, dass die nordrheinwestfälischen Hochschulen in Lehre und Forschung national und international exzellente Leistungen vorweisen können. Das können sie flächendeckend nicht mehr.

Wer diese Ziele teilt, der muss doch zur Kenntnis nehmen, dass Studierende an Hochschulen in unserem Land diese faire Chancen im Augenblick nicht eingeräumt bekommen, da sie in restlos überfüllten Hörsälen studieren müssen, da sie mitunter fünf, sechs Wochen auf einen Termin bei ihrem Professor warten müssen und noch nicht einmal Sicherheit haben, dass er tatsächlich zur Sprechstunde kommt, oder da sie ein Jahr oder länger studieren müssen, weil einige Pflichtseminare verschiedentlich nur alle zwei, drei Semester angeboten werden.

Herr Kollege Lindner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollege Jäger?

Ich bin mir sicher, dass sich die Frage von Herrn Jäger gleich beantwortet haben wird. Falls nicht, kann er gerne später eine Frage zum Erkenntnisgewinn stellen.

(Gisela Walsken [SPD]: Ja oder nein?)

- Nein, später. - Es sind nicht die Studienbeiträge, die die Bildungsgerechtigkeit in NordrheinWestfalen gefährden, sondern es ist Ihre Politik, die Sie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten betrieben haben. Das möchte ich Ihnen gerne an einigen Zahlen plausibilisieren.

Während in den Vereinigten Staaten im Jahre 2004 ein Professor statistisch 32 Studierende betreute, waren es in Deutschland im Durchschnitt 53, in Nordrhein-Westfalen sogar 72. NordrheinWestfalen gehört hier nicht nur zum Schlussfeld innerhalb der OECD, sondern ist auch das Schlusslicht unter den Bundesländern. Zu den Spitzenreitern in Deutschland zählen unter anderem Baden-Württemberg, wo auf einen Professor 44 Studierende kommen, und MecklenburgVorpommern, wo es sogar nur 39 Studierende sind.

(Dr. Gerd Bollermann [SPD]: Warum wohl?)

Auch im Bereich der laufenden Grundmittel liegt Nordrhein-Westfalen nicht gut im Wettbewerb. Laut der Hochschulfinanzstatistik des Statistischen Bundesamtes standen in NordrheinWestfalen im Jahre 2002 lediglich 6.950 € pro Studierenden zur Verfügung, während es im Bundesdurchschnitt 7.510 € und beispielsweise in Baden-Württemberg 8.570 € waren. Mit den Studienbeiträgen nach dem Pinkwart-Modell besteht nun die Chance, eine finanzielle Wettbewerbsgleichheit unter den Bundesländern herzustellen. Diese Chance wollen Sie den Studierenden in Nordrhein-Westfalen vorenthalten. Damit sind Sie keine guten Anwälte der Studierenden und ihrer Interessen in diesem Land, meine Damen und Herren.

(Beifall von FDP und CDU)

Wenn wir die Qualität der Ausbildung in Nordrhein-Westfalen verbessern wollen, dann müssen die bekannten Mängel abgestellt werden. Das setzt jedoch voraus, dass zusätzliche Mittel gewonnen werden können, die nur für diesen Zweck eingesetzt werden. Das sehen im Übrigen nicht nur wir so, sondern diese Auffassung wird auch bis weit in die Sozialdemokratie hinein geteilt.

So hat unter anderem der kürzlich verstorbene und von mir sehr geschätzte Peter Glotz in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ noch im November des vergangenen Jahres erläutert, dass

er - hören Sie genau zu - die Einführung von Studienbeiträgen zur Verbesserung der Hochschulausbildung für unvermeidlich hält. Damit hatte er Recht. Im Übrigen war Peter Glotz mit dieser Auffassung mitnichten allein in der deutschen Sozialdemokratie. In einem vom „Netzwerk Berlin“ unter Beteiligung ihrer jungen sozialdemokratischen Hoffnungsträger Ute Vogt, Sigmar Gabriel und Heiko Maas initiierten Text hieß es schon vor zwei Jahren - ich zitiere -:

„Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen ein System nachgelagerter Studiengebühren entwickeln, bei dem Studierende ihre finanziellen Beiträge nach Abschluss des Studiums und Aufnahme eines Berufs in angemessener Höhe an die Hochschulen entrichten.“

(Dr. Gerhard Papke [FDP]: Hört, hört!)

Im Gegensatz dazu wirft uns die nordrheinwestfälische SPD vor, genau dieses Modell sei sozial ungerecht, es schrecke Jugendliche aus wirtschaftlich schwächeren Familien ab und beeinträchtige damit die Chancengleichheit. Peer Steinbrück hatte neulich im „Kölner StadtAnzeiger“ wohl Recht, als er sagte, dass seine NRW-SPD nicht auf der Höhe der Zeit sei, meine Damen und Herren.

(Beifall von FDP und CDU)

Die Diskussion über Bildungsgerechtigkeit verdient nämlich mehr Differenziertheit, als Sie ihr zugestanden haben. Sie verkürzen das in einer fast schon fahrlässigen Art und Weise. Sie betreiben hier eine Desinformationspolitik, die dazu geeignet ist, Studierende zu verunsichern. Deshalb ist es notwendig, hier Klartext zu sprechen. Ich verstehe ja vor der Bundestagswahl Ihre Motive, aber edel sind diese nicht.

Wir müssen deutlich machen, dass Bildung eine Investition ist. Gerade deshalb ist es unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit angezeigt, dass diejenigen einen verstärkten Beitrag leisten, die profitieren. Wer studiert hat, verdient besser und ist oft weniger lange und generell weniger häufig ohne Arbeit. Selbst wenn berücksichtigt wird, dass Bezieher höherer Einkommen auch höhere Steuern bezahlen, bleibt eine beachtliche Nettorendite übrig. Nach Berechnungen des Sachverständigenrates beim BMF beträgt die Nettoertragsrendite eines Hochschulabschlusses für Frauen rund 7 % und für Männer sogar 8 %. Das ist die Rendite, die die Krankenschwester für das Studium der Chefarztkinder zahlt, meine Damen und Herren.

(Beifall von FDP und CDU)

Studienbeiträge verhindern, dass Kosten vollständig sozialisiert, aber Erträge vollständig privatisiert werden. Genau auf diesem Zusammenhang hat bereits Karl Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms 1875 hingewiesen. Karl Marx schreibt wörtlich:

„Wenn in einigen Staaten … auch ‚höhere’ Unterrichtsanstalten unentgeltlich sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel zu bestreiten.“

Hier sollten Sie einmal Karl Marx ernst nehmen, meine Damen und Herren.

Herr Lindner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jäger?

Herr Jäger, ich bin immer noch nicht am Schluss meiner Ausführungen. Ich wette, Ihre Frage beantwortet sich noch. Ich hatte Ihnen das eben schon gesagt. Insofern jetzt nein, aber gerne gleich.

(Zuruf von Marc Jan Eumann [SPD])

- Herr Eumann, ich will noch einen Punkt nennen, der gerade für Sie in Köln wichtig ist, in einer Stadt, in der 40 % der türkischen Jugendlichen ohne Schulabschluss bleiben.

(Zuruf von Hannelore Kraft [SPD])

Auf diesen Punkt will ich zu sprechen kommen. Wir sollten in den Blick nehmen, dass die wichtigste Voraussetzung dafür, um in Deutschland ein Studium zu beginnen, nicht viel Geld ist, sondern das Abitur. Darin liegt die eigentliche Herausforderung. In den letzten Jahren besuchten in Nordrhein-Westfalen im Schnitt weniger als 20 % der Kinder aus einkommensschwachen Familien das Gymnasium. Die anderen hatten damit überhaupt keine Chance, die Zugangsvoraussetzungen für ein Studium zu erwerben. Das zeigt sich analog an den Studierendenzahlen. Im Jahr 2003 besuchten nur 13 % der Kinder aus einkommensschwachen Familien eine Hochschule, und das nach 40 Jahren sozialdemokratischer Bildungspolitik. Was für eine verheerende Bilanz.

(Zuruf von der FDP: Das ist Ihre Bilanz, Frau Kraft! - Zuruf von Hannelore Kraft [SPD])

Frau Kraft, das betrifft auch Ihre Verantwortung. Während der Anteil der Kinder aus einkommensschwachen Familien an der Studierendenschaft in anderen Bundesländern in der Zeit von 1997 bis

2003 stagnierte oder sich leicht verbesserte, sank der Anteil in Nordrhein-Westfalen während der Zeit der rot-grünen Regierung von 16 auf 13 %. Was für ein desaströses Zeugnis.

Wir haben es Ihrer verfehlten Schulpolitik zu verdanken, dass immer weniger Arbeiterkinder dazu in der Lage sind, ein Studium zu beginnen. Wer mehr Kindern aus benachteiligten Familien ein Hochschulstudium ermöglichen will, muss dafür sorgen, dass die Verflechtung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufgelöst wird. Da leistet das Stipendienprogramm für Kinder mit Zuwanderungsgeschichte, das die Schulministerin am Montag vorgestellt hat, einen besseren und größeren Beitrag als die Diskussion, die Sie heute angezettelt haben.

Dies hat jedenfalls nichts mit Studiengebühren zu tun. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass die Abschaffung der Studiengebühren in Deutschland und Österreich zu Anfang der 70er-Jahre bis heute keinerlei Auswirkungen auf den Anteil der Studierenden aus der sozialen Unterschicht hatte. Auch was die Gesamtzahl der Studierenden betrifft, scheinen Gebühren keineswegs die Studienfreudigkeit zu hemmen, wie alle internationalen Beispiele, zuletzt auch Österreich, belegt haben.

Ich will gerade aus Nordrhein-Westfalen noch ein konkretes Beispiel nennen, das Sie sich genauer ansehen sollten. Studienbeiträge haben keinen Effekt auf die soziale Zusammensetzung der Studierendenschaft. Das belegt die private Universität Witten/Herdecke in Nordrhein-Westfalen. Dort müssen die Studierenden für ein Studium insgesamt 15.000 € entrichten. Dort stammen aber 41 % der Studierenden aus niedrigen und mittleren Einkommensschichten. An den staatlichen Hochschulen sind es auch nur 42 %. Das ist der Beleg dafür, dass für Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit auch Studienbeiträge eingeführt werden können, wenn sie tatsächlich der Lehre und der Verbesserung der Ausbildung zugeführt werden. Die Praxis widerlegt Ihre polemische Kampagne, die Sie im Wahlkampf versuchen.

(Beifall von FDP und CDU]

Ziel einer Bildungspolitik muss es sein, dass der Anteil der Studierenden aus allen Bevölkerungsgruppen ungefähr gleich groß ist. Deshalb begrüße ich, dass die Landesregierung mit dem Pinkwart-Modell für Studienbeiträge ein Konzept vorgelegt hat, das allen Abiturienten unabhängig von ihrer sozialen Herkunft ein Studium ermöglicht.

Von besonderer Bedeutung ist die Darlehensobergrenze in Höhe von 10.000 € für BAföGEmpfänger. Durch diese Deckelung wird gewähr

leistet, dass die Bezieher von höheren BAföGLeistungen keinen Studienbeitrag entrichten. Auch hier gilt das, was die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn in der Debatte über die letzte BAföG-Novelle am 7. Dezember 2000 vor dem Deutschen Bundestag ausführte - ich zitiere -:

„Wir begrenzen die Gesamtdarlehensbelastung für die Jugendlichen auf höchstens 20.000 DM. Wir tun dies, weil wir nicht wollen, dass gerade Jugendliche aus den einkommensschwächsten Familien am Ende ihres Studiums mit dem größten Schuldenberg dastehen. Ich denke, dass dies auf breite Zustimmung stößt. In Zukunft werden junge Menschen nicht mehr durch die Höhe der drohenden Schuldenlast von einem Studium abgehalten. Es ist für sie kalkulierbar. Sie können einschätzen, wie viel Schulden sie am Ende haben werden, wenn sie Mittel in Anspruch nehmen.“

Genau diese Grenze haben wir bestätigt. Genau diese Einschätzung von Rot-Grün haben wir uns in Nordrhein-Westfalen zu Eigen gemacht. Hören Sie auf, dagegen wider besseren Wissens zu polemisieren, meine Damen und Herren.

(Beifall von FDP und CDU]

Durch die Studienbeiträge wird nicht ein einziger Studierender einen Nachteil erleiden. Im Gegenteil. Die Studierenden sind künftig nicht mehr länger wehrlose Konsumenten, die widerstandslos hinnehmen müssen, was ihnen von den Hochschulen serviert wird. Sie werden zu Investoren. Damit haben sie künftig ein ganz anderes Interesse, auf die Qualität ihrer Ausbildung zu achten. Sie werden von den Hochschulen Höchstleistungen einfordern. Das erhöht im Übrigen auch den Druck auf die Hochschulen, sich stärker als bisher dem Wettbewerb zu stellen. Es ist einsehbar, dass das nicht jeden Rektor freut.

Die Hochschulen stehen allerdings auch unter dem Druck, den Studierenden optimale Studienbedingungen zu bieten. Der internationale Vergleich zeigt, dass Studienbeiträge in der Regel zu kürzeren Studienzeiten führen.

Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. Seit dem Wintersemester 2001 wird in Österreich ein Studienbeitrag in Höhe von 363 € pro Semester erhoben. Die durchschnittliche Studienzeit ist seitdem um ca. zwei Semester gesunken. Das bedeutet, dass die Studierenden ein Jahr früher in das Berufsleben eintreten können. Bei einem durchschnittlichen Nettolohn für Akademiker in Höhe von 1.800 € entspricht dies einem Mehrverdienst von 21.600 € im Jahr gegenüber 2.904 €

an Studiengebühren. Gleichzeitig hat sich in Österreich die Bildungsqualität verbessert, wie internationale Studien zeigen.

Am Ende des Tages sind es also die Studienbeiträge, die sich für die Studierenden als rentabel herausstellen. Die Studierenden sind die großen Gewinner dieser Regelung, auch wenn es - auch wegen der Desinformationspolitik der Opposition - noch eine Zeit beanspruchen wird, die Studierenden für diese Regelung zu gewinnen.

(Zuruf von der SPD)

Es ist das Ziel dieser Koalition, den Studierenden in NRW die gleichen Chancen zu eröffnen wie ihren Kommilitonen in Österreich, Neuseeland oder den Niederlanden. Die Hochschulen in NRW verfügen nach wie vor über ein großes Potenzial. Dieses Potenzial muss aber stärker als bisher genutzt werden, damit alle Studierenden beste Chancen auf eine exzellente Ausbildung haben. Dazu leistet das Pinkwart-Modell einen Beitrag. Sie wollen den Studierenden diese Chancen aus wahltaktischen Gründen vorenthalten. Deshalb hat Ihre Politik ihre innere Legitimation in Nordrhein-Westfalen verloren und wird sie auch in Berlin am kommenden Wochenende einbüßen. - Vielen Dank.

(Beifall von FDP und CDU - Zuruf von der SPD: Keine Frage beantwortet! Wendehals- politik nicht erläutert!)