Protokoll der Sitzung vom 14.11.2007

Herr Rüttgers, Sie können es noch so oft anders behaupten: Wir Grüne wollen Schulentwicklung von unten. Wir wollen die Schulen von innen heraus entwickeln. Dazu brauchen wir strukturelle Veränderungen, die das allen Schulen möglich machen. Ihr ganzes Gerede von Schließen und Abschaffen geht ins Leere, weil wir einen Entwicklungsprozess von unten in Gang setzen wollen.

(Helmut Stahl [CDU]: 20 Jahre!)

Dafür braucht man keine 20 Jahre. Man kann heute anfangen! Man kann mit Horstmar und Schöppingen anfangen!

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Das werde ich Ihnen heute noch oft sagen, meine Damen und Herren! Damit kann man anfangen! Und das blockieren Sie!

Ich finde es bezeichnend, dass Sie so viel von den Schulformen sprechen. Wir sprechen von den Kindern und den Jugendlichen, die in den Schulen sind.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dass Sie bei dem Gestümper, das Sie da anrichten, in Ihrer Regierungserklärung heute von einer Schulreform sprechen, das ist ein Hohn.

Meine Damen und Herren, unser Schulsystem ist ungerecht und unsozial, weil es eben nicht von der Leistungsfähigkeit eines Kindes abhängt, ob

es zu einem hohen Abschluss kommt, sondern von der sozialen Herkunft. Sie, Herr Rüttgers, mit Ihrer Bildungspolitik, mit den Weichenstellungen, die Sie vorgenommen haben, machen dieses System noch ungerechter und noch unsozialer.

(Beifall von GRÜNEN und Edgar Moron [SPD])

Es muss doch jeden Menschen nachdenklich stimmen, wenn weltweit von 17 Ländern mit mehrgliedrigem Schulsystem 16 deutsche Bundesländer sind. Wenn das kein Beleg ist, meine Damen und Herren, dass da bei uns irgendetwas nicht stimmt, dann weiß ich nicht, was man Ihnen noch vorlegen soll.

Wir werben dafür, umzudenken, sich auf den Weg zu machen, und haben Sie immer eingeladen, diesen Weg mitzugehen. Je mehr die Zustimmung dafür wächst – die Zustimmung wächst überall –, umso mehr mauern Sie sich ein. Gefangen in dieser Festlegung haben Sie einen Koalitionsvertrag formuliert, der, statt auf die Überwindung des Aussortierens zu setzen, deren Perfektionierung betreibt, weil Sie am Irrglauben eines begabungsgerechten Schulsystems festhalten. Immer mehr Menschen, immer mehr Verbände merken: Das geht so nicht weiter, das ist eine Sackgasse. Sie sind in der Sackgasse und verdoppeln das Tempo. Das kann nicht gut gehen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ihre eigene kommunalpolitische Basis, besonders im ländlichen Raum, baut Ihnen pragmatische Brücken. Aber all das blenden Sie aus.

Nun hat am Montag – Sonntag konnte man es auch schon lesen – kein Geringerer als der stellvertretende Ministerpräsident und FDP-Landesvorsitzende Pinkwart festgestellt, dass man auf Dauer so nicht weitermachen könne. Da hat er recht.

(Beifall und Zurufe von den GRÜNEN)

Ich habe allerdings selten, Herr Pinkwart, jemanden so schnell aus einem Schützengraben hinausspringen und wieder hineinspringen sehen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Um Ihre Jugendorganisation, Herr Pinkwart, sind Sie wirklich auch nicht zu beneiden. Die wollen Sie jetzt als „Einheitsschultypen“ in die Phalanx der Schrecklichen mit aufnehmen.

(Dr. Gerhard Papke [FDP]: Sie haben doch gar keine!)

Doch, wir haben eine! Über 3.000 junge Leute! Die haben von Anfang an mit uns für „Eine Schule

für Alle“ gekämpft. Da haben wir immer gut zusammengearbeitet.

Und was passiert gestern, was passiert heute? Da wird das gegliederte Schulsystem einmal mehr basta-mäßig proklamiert. Aber, Herr Ministerpräsident, dieser wirklich sehr kurze Lichtblick Ihres Stellvertreters sollte Ihnen zu denken geben. Die Entwicklung Ihrer Ministerpräsidentenkollegen in anderen Bundesländern – Hamburg, SchleswigHolstein – sollte Ihnen zu denken geben. Nicht zuletzt sollte Ihnen die schon genannte Entwicklung Ihrer eigenen kommunalen Praktiker zu denken geben.

Weil das alles nicht so gemeint war, weil Herr Pinkwart nur gerade die Gesetzeslage nicht so richtig präsent hatte, fragt man sich jetzt schon, ob die FDP-Kongresse abgesagt werden oder ob man doch weiter darüber nachdenken will und darf.

Aber, meine Damen und Herren, alles Zurückpfeifen, alle Glaubensbekenntnisse, die jetzt abgegeben werden, alle Basta-Beschlüsse und Beteuerungen können nicht darüber hinwegtäuschen: Die Front der Anhänger des gegliederten Schulsystems bröckelt. Sie bröckelt auch in diesem Parlament.

Wenn Sie ehrlich mit sich sind, Herr Rüttgers, wissen Sie – ähnlich wie es der SPD beim Steinkohlesockel und bei der Steinkohlefrage gegangen ist –, dass es in diesem Parlament für das bestehende Schulsystem keine Mehrheit mehr gibt. Das wissen wir seit gestern und vorgestern.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sie haben die Frage der Kohle eben zu Recht als eine Lebenslüge der Sozialdemokraten bezeichnet, aber die Frage des Schulsystems ist Ihre Lebenslüge,

(Beifall von den GRÜNEN)

und sie droht immer mehr zu Ihrer ganz persönlichen Lebenslüge zu werden. Ich empfehle den Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Dass Sie sich nicht bewegen, dass Sie Teile der eigenen Leute wider besseres Wissen in Abstimmungen zwingen, ist schlimm genug. Ganz schlimm ist es aber für die Kinder und Jugendlichen, denen Sie mit dieser Blockade Lebens- und Bildungschancen vorenthalten.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sie vergeuden wichtige Zeit für innovative Schulentwicklung, und Sie schaden damit auch – der

Zusammenhang ist offenkundig – der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes.

Herr Pinkwart, wenn Sie nicht dranbleiben – wenn Sie sich jetzt zurückpfeifen lassen – an dem Ansatz, den Sie für richtig halten, dann haben Sie den Titel des Innovationsministers wirklich verwirkt. Dass ein gewesener Zukunftsminister als Ministerpräsident dermaßen in der Vergangenheit verharrt, kann auch nicht oft genug wiederholt werden.

(Beifall von den GRÜNEN)

In ihrer Hilflosigkeit und Isolation versucht die Landes-CDU auf Teufel komm raus ein System zu retten, das nicht mehr zu retten ist. Was passiert stattdessen in unseren Schulen – angeblich ist ja alles wunderbar -? – Unsere Schulen erleben im Moment – ich mache viele Termine vor Ort, und die Klagen nehmen zu – einen Bürokratiewahn, eine Erlass- und Vorgabewut sondergleichen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Von wegen Bürokratieabbau! Kopfnotenexzesse, Samstagsunterricht, Abschaffung der Grundschulbezirke – das hat auch Folgen, was die Verwaltungsvorgänge angeht –, absurder Prognoseunterricht, völlig überzogene Testverfahren – das müssen im Moment die Schulen vor Ort ausbaden, meine Damen und Herren. Und die FDP, immer vorneweg! Deren ideologische Bildungsfundamentalisten haben an diesem Schulmausoleum NRW mächtig mitgebaut.

Insofern frage ich mich schon, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, wie Sie sich gefühlt haben, als Sie am Montagmorgen die Zeitung aufgeschlagen haben und Ihnen Minister Pinkwart mit der Mittelschule im Mund entgegengegrinst hat. Denn manche von Ihnen wissen doch schon länger, dass es mit unseren Schulen so nicht weitergehen kann, und jetzt macht er sich „einen schlanken Fuß“.

Ja, meine Damen und Herren, Herr Ministerpräsident, in der Schulpolitik sind eine Neuaufstellung und ein Neuanfang – programmatisch und personell – überfällig. Denn das Ganze wird pro forma von einer Ministerin geleitet, die keinen bildungspolitischen Kompass hat, so nett sie auch sonst ist.

Herr Ministerpräsident, fällt Ihnen folgender Widerspruch eigentlich nicht auf? Am 30. Oktober steht in der „WAZ“, dass Sie gesagt haben sollen, Japan habe eines der besten Bildungssysteme der Welt; daher sei Japan für Sie Vorbild zur Verbesserung des deutschen Schulsystems.

(Horst Becker [GRÜNE]: So, wie China Vor- bild für die Menschen ist!)

Da doch bekannt ist, dass in Japan Kinder länger gemeinsam lernen als bei uns, hätte ich erwartet, dass Sie die Japaner wegen ihrer integrativen Schule mindestens genauso zur Schnecke machen wie Sie das mit der hiesigen SPD getan haben. Oder hatten Sie Angst, dass Ihnen Ihre Ehrendoktorwürde nicht erteilt wird, und hatten Minister Pinkwart vor Augen, dem man in Monheim buchstäblich das Goldene Buch der Stadt unter der Feder weggezogen hat?

(Beifall von GRÜNEN und Gisela Walsken [SPD])

Dann hätte es nicht wieder so ein schönes Bild gegeben, das so gut für das Image ist.

Im gleichen Artikel werden Sie mit dem Satz zitiert – der ist richtig; den unterstreiche ich ausdrücklich, Herr Ministerpräsident –:

„Die Gesellschaft darf sich nicht spalten in diejenigen, die mit dem neuen Wissen umgehen können, und die, die damit überfordert sind.“

Genau, Herr Rüttgers. Warum fangen Sie mit diesem Spalten schon nach der vierten Klasse an, wenn Sie diese Spaltung doch eigentlich gar nicht wollen? Das ist politische Schizophrenie.

Wir fühlen uns durch den Besuch des schwedischen Bildungsexperten Mats Ekholm in unserer Fraktion in unserer Auffassung bestätigt, als dieser in großer Klarheit gesagt hat – ich zitiere –:

„Es ist ein Irrglaube, dass wir Kinder in drei Begabungsschubladen stecken können: technisch begabt, theoretisch begabt, praktisch begabt. Jedes Kind hat so viele verschiedene Talente, die wir alle wecken müssen.“