Meine Damen und Herren! Ich heiße Sie zu unserer heutigen, 85. Sitzung des Landtags von NordrheinWestfalen herzlich willkommen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.
Für die heutige Sitzung haben sich 13 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.
Auch nach dem KMK-Beschluss weiter Chaos durch das G8-Abitur? NordrheinWestfalen muss seine hausgemachten Probleme selber lösen!
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mit Schreiben vom 10. März 2008 gemäß § 90 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.
In Verbindung damit gibt es eine Aktuelle Stunde der Fraktion der SPD. Die Fraktion der SPD hat ebenfalls mit Schreiben vom 10. März 2008 eine Aktuelle Stunde zum gleichen Thema beantragt.
Ich eröffne die Aussprache und gebe Frau Kollegin Beer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als Erster das Wort. Bitte schön, Frau Beer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste heute im Landtag! Ich will von vornherein ganz klar machen: Das schwarz-gelbe „G8“Desaster am Gymnasium, landläufig Turbo-Abitur genannt, die real existierende Schulzeitverkür
CDU und FDP haben mit allen Entwicklungsplänen für eine sinnvolle Schulzeitverkürzung gebrochen, die mit einem Ganztag in die Sekundarstufe I hineingewachsen wäre und von Rot-Grün so angelegt war. Im Gegenzug haben Sie den Schulen und den Schulträgern Ihre schwarz-gelbe Stümperei aufgezwungen. CDU und FDP tragen ganz allein die Verantwortung für das Chaos an den Gymnasien in NRW.
Ich werde Ihnen konkret aufzeigen, was Sie mit Ihrer fatalen Fehlentscheidung, das Gymnasium in der Sekundarstufe I zu stauchen, angerichtet haben – völlig verirrt in schwarz-gelber Ideologie: Durch erhöhten Druck könne man Leistung erzeugen, und wer die nicht bringt, der hat auf dieser durch CDU und FDP auf begabungsgerecht getrimmten Schule eben nichts mehr zu suchen. Das, was Sie mit Ihrem „G8“-Feldversuch tagtäglich anrichten, ist einfach nur grob fahrlässig gegenüber den betroffenen Schülerinnen und Schülern.
Lassen Sie mich kurz darstellen, was uns eine Kinder- und Jugendtherapeutin auf unserer Veranstaltung, dem Grünen-“G8“-Gipfel, eindrucksvoll vor Augen geführt hat. Das Alter von 10 bis 15 Jahren ist eine der größten physischen und psychischen Umbruchphasen im Leben mit Wachstumsschüben, die zu Ermüdung und Erschöpfung führen können, neuronalen Veränderungen, Hormonschüben, die Stimmungsschwankungen auslösen, neuartigen sexuellen Empfindungen, sozialen Prozessen, der nicht immer leichten Ablösung von den Eltern und Rollenherausforderungen. Es ist insgesamt eine Phase der Verunsicherung, eine Phase, die per se Ängste erzeugen kann.
Genau in dieser Lebensphase schlägt das schwarz-gelbe verkürzte Gymnasium, das „G8“, ohne Rücksicht durch. Der Alltag ist schulisch vollgestopft ohne Rücksicht auf den Biorhythmus, ohne Rücksicht darauf, was die Jugendlichen auch ohne die Schule im Inneren schon heftig bewegt. Kinder den ganzen Tag unterwegs, ohne eine vernünftige Mittagsversorgung, ohne Entspannung, ohne ausreichende Bewegung, Kinder
Dafür Kinder unter Druck, Eltern unter Druck, Lehrkräfte unter Druck – CDU und FDP haben den Schulkompressor angeworfen. Alarmzeichen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und diffuse Schulangst nehmen zu.
Die Flucht in die Nachhilfe wächst. – Das ist keine Dramatisierung. Das hätten Sie sich gestern in Dortmund mit mir in dem Gymnasium, in dem ich gestern Abend war, anhören können.
Sie haben den Schulen und den Schulträgern den Ganztag faktisch durch die Hintertür ohne die notwendige Ausstattung vor die Haustür gekippt.
Ich wünsche Frau Sommer von hier aus gute Besserung. Sie wird alle Kräfte brauchen. So tief ist der Karren in den schwarz-gelben „G8“-Sumpf gefahren.
Aber anstatt alle Kräfte zu mobilisieren, um den Karren wieder aus dem Sumpf zu ziehen, harken Sie mal ein bisschen den Weg rundherum und pflanzen ein paar Blümchen, damit es netter aussieht, wenn die Wellen über Ihnen zusammenschlagen.
In der KMK reden sich die CDU-Ministerinnen und -Minister die „G8“-Welt schön und die Probleme klein. Ministerin Sommer gibt in NRW die Losung aus: Don’t worry, be happy. 265 Stunden bis zum Abi bleiben ja als Rahmen. Ergänzungsstunden können flexibel genutzt werden. Die braucht schließlich nicht jeder. Übungsstunden sollen in die Stundenpläne eingerechnet werden.
Das sind schlichte Stundentricksereien. Schluss mit dem Märchen von der individuellen Förderung! Das haben Sie längst verspielt. Das glaubt Ihnen keiner mehr im Land. Übersetzt heißt die Botschaft der Ministerin, den Stoff in noch weniger Fachstunden unterzubringen. Individuelle Förderung kriegen längst nicht alle, Förderung aller Potenziale, auch herausragender Talente – Pustekuchen. Schwarz-Gelb pfeift darauf. Kein echter Ganztag für Schülerinnen und Schüler an Gymnasien, der auch eine andere Lernkultur ermöglichen würde.
Und schon zeichnen sich weitere Probleme im „G8“ ab: Schülerinnen müssen jetzt im siebten Schuljahr Entscheidungen für Wahlpflichtfächer im Jahrgang 8 treffen, und die Schulen wissen nicht, wie sie das Nebeneinander von „G9“ und „G8“ organisieren sollen. Sie haben gar nicht die notwendigen Fachlehrkräfte. Viele Wahlpflichtangebote werden deshalb schon jetzt schlicht gestrichen.
Schon dräut auch die neue Oberstufe, wie sie das Schulgesetz der Koalition der Stümperei vorsieht. Wenn die Schülerwahl noch mehr eingeschränkt wird und Grundfächer en bloc gesetzt sind, bindet das massenhaft Fachlehrkräfte, die es auf dem Markt gar nicht gibt, noch mehr. Auf das Schulzeitverkürzungsdesaster in der Sekundarstufe I folgt das Oberstufendesaster; das ist jetzt schon abzusehen.
Dann schauen wir doch mal in die Kernlehrpläne und darauf, was Sie unter Straffung verstehen. Es wird nicht öffentlich diskutiert, welche Kompetenzen unsere Kinder für eine zukunftsorientierte Bildung brauchen. Aber dafür gibt es das hier; ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Für Französisch in „G9“ gilt bisher – bitte hören Sie zu –: den Inhalt von Texten zusammenfassen, Textinhalte beurteilen und Ergebnisse mündlich und schriftlich darstellen. Neu für das „G8“ heißt das folgendermaßen: wesentliche Inhalte von einfachen Texten mündlich und schriftlich zusammenfassen.
Was Sie betreiben, ist Kompetenz-Dumping, und das hat überhaupt nichts mit exemplarischem Lernen zu tun.
Der Pressemitteilung des Ministeriums ist zu entnehmen: Entbehrlich bzw. deutlich reduziert sind demnächst: Grundlagen ökologischer Beziehungen in Lebensgemeinschaften, Leben und Wirtschaften unter verschiedenen soziokulturellen Bedingungen. Friedenssicherung ist kein eigenständiges Thema in Geschichte mehr, und dafür muss in der Neukonstruktion des Faches Politik die politische Bildung zugunsten des Feldes Wirtschaft zurückstecken. – Das nenne ich ideologisch motivierte Steuerung der Lehrplaninhalte.
Ganz oben auf der Liste der Koalition steht das Festhalten am vermeintlich begabungsgerecht gegliederten Schulwesen. Hier sieht die Bilanz 2008 für die Ganztagshauptschulen wie folgt aus: minus 42,4 % Anmeldungen in Dortmund, minus 13,5 % in Duisburg, minus 9 % in Aachen. Anstatt
die Mittel in den mitwachsenden Ganztag in der Sekundarstufe I für alle zu stecken und Schulformbarrieren zu senken, um damit endlich Schluss zu machen mit der Ausgrenzung der Bildungsbenachteiligten und Schluss zu machen mit der Bildungsapartheid in diesem Land, drehen Sie alle Schrauben in die falsche Richtung!
Wer die Ministerin in der letzten Woche in „Panorama“ gesehen und ihre Antwort auf die Probleme vernommen hat, der kann nur bestürzt und beschämt sein, welches Bild sie dort in Bezug auf die Problemlagen von Hauptschülerinnen und Hauptschülern geboten hat und welche Antworten sie parat hatte.