Protokoll der Sitzung vom 19.06.2008

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie zu unserer heutigen, 95. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen herzlich willkommen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich 18 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Wir treten in die Beratung der heutigen Tagesordnung ein.

Ich rufe auf:

1 Aktuelle Stunde

Das Krisenmanagement beim Zentralabitur offenbart Führungsschwächen im Schulministerium

Antrag

der Fraktion der SPD und

der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Drucksache 14/7015

Die Fraktion der SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben mit Schreiben vom 16. Juni 2008 gemäß § 90 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin Frau Schäfer das Wort. Bitte schön, Frau Schäfer.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich bei diesem Tagesordnungspunkt vorab eines sagen: Wir alle im Landtag drücken den Abiturientinnen und Abiturienten, die die zweite Chance nutzen konnten, die Mathematikklausur nachzuschreiben, ganz fest die Daumen. Ich glaube, die bangen jetzt gerade um ihre Zensuren.

(Beifall von der SPD)

Man kann mit Fug und Recht sagen: Was diese Landesregierung allen Betroffenen in den Schulen dieses Jahr beim Zentralabitur 2008, bei diesem Pannenabitur, zugemutet hat, ist bundesweit einmalig.

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Zurufe von der CDU: Ach!)

Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass Frau Ministerin Sommer bis zum heutigen Tag nicht die Größe hatte, sich zu entschuldigen.

(Klaus Kaiser [CDU]: Meine Güte!)

Stattdessen haben Sie uns, Frau Ministerin, in langen Berichten vorgelesen, was alles erfolgreich gelaufen sei. Sie steigerten sich sogar zu der Aussage, das Zentralabitur 2008 sei eine Erfolgsgeschichte. Lesen Sie eigentlich keine Zeitung? Sprechen Sie nicht mit Schülerinnen und Schülern? Sprechen Sie nicht mit Lehrerinnen und Lehrern? Das, was Sie uns hier vorgelesen haben, steht in krassem Widerspruch zu der Realität in unseren Schulen.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Kennen Sie eigentlich die Panik, wenn man gelernt hat, sich angestrengt hat, geübt hat, relativ sicher ist und dann mit einer Aufgabe konfrontiert wird, die man rechnerisch oder vielleicht auch zeitlich – das schien ja diesmal der Punkt zu sein – nicht lösen kann? Können Sie den Zorn und die Angst von Schülern und Schülerinnen nachvollziehen, die durch diese Aufgabenstellungen in einigen Fächern ihren Notendurchschnitt „versaut“ haben? Erahnen Sie, was es heißt, wenn die anderen ihre Abschlusszeugnisse bekommen, beim Abi-Ball feiern und man selber noch einmal in den Prüfungsstress gehen muss? Wissen Sie, was das heißt?

Im gesamten Pannenszenario beim Abitur 2008 beobachten wir eine mit nichts zu begründende Arroganz des Schulministeriums. Da werden schnell Lehrerinnen und Lehrer als Verantwortliche für das Debakel ausgemacht. Sie haben die Schüler und Schülerinnen nicht vernünftig vorbereitet; sie haben die Aufgaben nicht richtig ausgewählt. Die jüngste Entlastungsstrategie halte ich für die perfideste: CDU und FDP machen das Ganze schnell als ein Problem der Gesamtschulen aus – so im letzten Schulausschuss zu hören.

(Beifall von der SPD – Lachen von der CDU – Hans-Theodor Peschkes [SPD]: Ja, das ist ja klar!)

Frau Ministerin, die Stichprobe, die dieser oberflächlichen Begründung von CDU und FDP zugrunde liegt, hat zwei eklatante Schwächen:

Erstens ist sie viele Wochen zu spät erhoben worden. Sie hätten nach den ersten Beschwerden ohne große Mühe, ohne viel Arbeit eine Stichprobe in den Schulen erheben können. Sie haben es nicht getan.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Zweitens. Niemand kann diese Ergebnisse der Gruppen richtig einordnen, weil Sie den Schulen gar keine Standorttypen zugeordnet haben, die deutlich machen, unter welchen Rahmenbedingungen die Kurse, die Sie ermittelt haben, in den Schulen eigentlich arbeiten, wie das bei jeder Lernstandserhebung völlig normal ist, wenn man zentrale Vergleiche anstellt.

(Beifall von der SPD)

Sie haben kostbare Zeit verstreichen lassen, weil sie gedacht haben, Sie kämen mit einer Verharmlosungsstrategie über das Problem hinweg. Als Sie endlich reagiert haben, haben Sie wiederum heilloses Chaos angerichtet. Sie fordern am 6. Juni alle Schülerinnen und Schüler öffentlich auf, Widerspruch einzulegen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Aber Stunden später kassiert Ihr Pressesprecher diesen Vorschlag wieder ein und spricht davon, Sie hätten einen hypothetischen Fall durchdekliniert. Sind Sie eigentlich sicher, dass Sie noch das richtige Personal haben?

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Meine Nachfrage in der Sondersitzung dazu haben Sie nicht beantwortet und abschließend etwas wie „Wir sind ja hier nicht im Kindergarten“ gesagt. Ich habe den Eindruck, dass Sie die Dimension dessen, was Sie öffentlich anrichten, schlicht und einfach ausblenden. Das kann man getrost Realitätsverlust nennen und führt unmittelbar zu Autoritätsverlust. Genau das ist inzwischen Ihr Problem. Aber mittlerweile ist es nicht mehr Ihr Problem alleine, es ist auch ein dickes Problem des Ministerpräsidenten geworden.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Sie haben das Angebot des Philologenverbandes und der Landeselternschaft missachtet, die Bewertungsgrundlagen für die Aufgaben so zu verändern, dass den Schülern und Schülerinnen daraus kein Nachteil entsteht. Sie haben es missachtet. Aber die Maßstäbe, die Sie tagtäglich an unsere Schülerinnen und Schüler und an die Lehrerinnen und Lehrer anlegen, können Sie nicht in Ansätzen selber erfüllen. Das ist nicht allein die Meinung der SPD, das ist auch die Meinung der Eltern.

Es gibt eine Broschüre von der Landeselternschaft der Gymnasien, die seit vorgestern auf dem Tisch liegt. Die titelt auf der ersten Seite „Prüfung nicht bestanden: Das Zentralabitur 2008“. Weiter heißt es darin:

„Die LE (Landeselternschaft) und die Schülervertretung haben lange vor der Bekanntgabe

der Prüfungsresultate den Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellung, die unpräzisen Formulierungen der Aufgaben und der Aufgabenanweisungen und – im Fach Biologie – die zu sichtende Materialfülle vehement beanstandet. Folgerichtig forderten wir die landesweite Absenkung der Bewertungsmaßstäbe vor der Zweitkorrektur. Eltern und Schüler wollen keine Absenkung des Niveaus, sondern faire und gerechte Prüfungsbedingungen. Das Ministerium hat die Beschwerden und Sorgen aus den Schulen nicht ernst genommen“

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

„und stattdessen mitgeteilt, die Aufgaben hätten allgemein Anklang gefunden.“

Auf die Frage nach dem Aufgabenumfang in der Sondersitzung des Schulausschusses haben Sie uns geantwortet – man kann es im Protokoll nachlesen –, manchmal seien die Bilder einfach größer geworden.

Und jetzt die vorerst letzte Panne in der Serie 2008: Bei der Wiederholungsklausur waren offensichtlich die Aufgaben stimmig, aber es gab Fehler im Bewertungsbogen für die Lehrer. Für einen zu lösenden Teil der Aufgaben waren überhaupt keine Punkte vorgesehen. Das ist den Lehrern während des Nachschreibetermins aufgefallen. Sie haben den Fachdezernenten angerufen und dann wurde das geheilt. Vielleicht ist das in dem gesamten Pannenszenario eine Petitesse. Aber es passt ins Bild.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Ihr Krisenmanagement ist auf ganzer Linie gescheitert – zulasten vieler junger Menschen in Nordrhein-Westfalen und auf dem Rücken vieler Lehrerinnen und Lehrer. Das Pannenabitur, das Sommerabitur 2008, was Sie uns beschert haben, ist an Peinlichkeiten, meine ich, nicht zu überbieten.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Ich stehe mit meiner Meinung auch nicht allein; denn man konnte auch gestern in der Zeitung lesen, dass sogar Herr Pinkwart, Ihr Kabinettskollege, Ihnen das im Kabinett bescheinigt, harsche Kritik geäußert und Konsequenzen gefordert hat. Zumindest in dem Punkt können wir ihm zustimmen. – Danke schön.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Danke schön, Frau Schäfer. – Für die CDU-Fraktion spricht der Kollege Solf.

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um wichtige Fragen geht, dann neige ich dazu, den Konsens auch über die politischen Schützengräben hinaus zu suchen. Sie wissen das. Einige von Ihnen werfen mir das manchmal auch vor.

Heute allerdings will ich den Konsens nicht suchen. Denn das, was zurzeit in der Diskussion um das Zentralabitur geschieht, ist in Teilen wirklich widerwärtig.

(Beifall von CDU und FDP)

Es spiegelt die Verlogenheit, zu der der öffentliche und auch der politische Diskurs in unserem Land leider immer noch fähig sind, wider.

(Zustimmung von der FDP)