Protokoll der Sitzung vom 09.06.2016

Ich bitte um eine breite Unterstützung, damit die Verfassung heute und in dritter Lesung morgen geändert werden kann. – Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP hat Herr Kollege Wedel jetzt das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Stärkung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungen und des Ehrenamtes sind auch der FDP-Fraktion ein besonderes Anliegen. Gerade für eine funktionierende Demokratie auf kommunaler Ebene muss sichergestellt werden, dass kommunale Mandate für möglichst breite Bevölkerungsschichten attraktiv bleiben. Auf diese Gesichtspunkte wird mein Kollege Höne in seinem morgigen Redebeitrag umfassend eingehen.

Der Gesetzentwurf betrifft indes vor allem eine ganze Reihe bedeutsamer verfassungsrechtlicher Fragen.

Kommunale Sperrklauseln sind nach der bisherigen Rechtsprechung der Verfassungsgerichte zu einfachgesetzlichen Regelungen dieser Art nur dann gerechtfertigt, wenn den kommunalen Vertretungen strukturell und nicht nur in einer einzelnen Stadt oder Kommune die Funktionsunfähigkeit droht.

Der Gesetzentwurf stellt in seiner Begründung im Wesentlichen denn auch auf die aus einer Vielzahl von Mandaten von Einzelbewerbern und Kleinstparteien resultierende abstrakte Gefahr der Funktionsbeeinträchtigung kommunaler Vertretungen ab.

Nach Auswertung aller zu diesem Gesetzgebungsverfahren gehörenden Materialien und Beratungsgegenstände steht für die FDP-Fraktion insoweit jedoch sicher fest, dass eine drohende Funktionsstörung kommunaler Vertretungen empirisch nicht belegt ist und somit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber objektiv auch nicht festgestellt werden kann.

(Beifall von der FDP und den PIRATEN)

Insgesamt verbleiben danach eine ganze Reihe von Zweifeln grundlegender Bedeutung, die ich aufgrund der Kürze der Redezeit nur anreißen kann.

Erstens. Aus Sicht meiner Fraktion ist es zweifelhaft, ob der Gesetzentwurf tatsächlich in erster Linie die Stärkung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungen und die Stärkung des Ehrenamts herbeizuführen beabsichtigt. Insbesondere, wenn man

sich die Ausführungen des einen oder anderen Praktikers in der Anhörung des Hauptausschusses vergegenwärtigt, bestehen doch gewichtige Zweifel daran, ob nicht doch Gesichtspunkte wie Besitzstandswahrung oder das Bestreben, „den Laden zukünftig möglichst einfach im Griff zu haben“, im Vordergrund stehen.

Wenn die Rede davon war, es sei jedem einsichtig, dass das Finden von Kompromissen zwischen zwei Personen einfacher sei als zwischen vier oder fünf Personen, man auf Kleinstgruppen oder Kleinstfraktionen zugreifen müsse, wenn mittlere Fraktionen – beispielsweise Grüne oder Linke – „ausfielen“ oder offensichtlich Probleme gesehen werden, „die Ernte“ am Ende der Wahlperiode einzufahren, dann scheinen mir das alles sachfremde Motive zu sein. Sie stehen auch nicht in irgendeinem Zusammenhang mit behaupteten Funktionsstörungen.

Zweitens. Zweifelhaft ist aus unserer Sicht ferner, ob der Wegfall der früher einmal bestehenden kommunalen Sperrklausel überhaupt ursächlich für die im Gesetzentwurf behaupteten Funktionsbeeinträchtigungen ist. Auch das war in der Anhörung nämlich umstritten.

Es gab auch Sachverständige, die der Auffassung waren, in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts – mit Sperrklausel – sei die Lage in den Kommunalvertretungen nicht wesentlich anders gewesen als heute.

„Ich kenne die Ratssitzungszeiten aus den 80erJahren, als die Grünen eingezogen sind. Die Ratssitzungen in Dortmund gingen über 24 Uhr hinaus.“

(Torsten Sommer [PIRATEN]: Nein! Super Mario!)

„Damals waren es drei Fraktionen, nämlich Grüne, SPD und CDU.“

Im Kommunalausschuss am 8. April 2016 haben Sie, Herr Krüger, darauf wieder Bezug genommen. Insofern könnten auch ganz andere Faktoren als der Einzug von Einzelbewerbern oder Kleinstparteien in die Räte ursächlich sein. Ich nenne den Umstand, dass es schlicht und ergreifend mehr und andere Wählergruppen gibt, die sich zur Wahl stellen. Dadurch gibt es mehr „Neulinge“ in den Räten, die in der Ratsarbeit – wie die Grünen in den 80er-Jahren – erst Routinen entwickeln müssen. Hinzu kommen sinkende Bindungskräfte der Volksparteien.

Diese Gesichtspunkte haben im Gesetzgebungsverfahren allerdings überhaupt keine Rolle gespielt. So

mit erscheint ebenfalls zweifelhaft, ob die vorgeschlagene Verankerung einer kommunalen Sperrklausel in der Verfassung überhaupt geeignet ist, den behaupteten Funktionsbeeinträchtigungen entgegenzuwirken.

Drittens. Zweifelhaft ist darüber hinaus, ob die vorgeschlagene Verankerung einer kommunalen Sperrklausel in der Verfassung zur Stärkung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungen sowie des Ehrenamts erforderlich ist oder ob nicht mildere, gleichermaßen effektive Mittel zur Erreichung der genannten Ziele zur Verfügung stehen.

Derartige Mittel hat die Anhörung durchaus aufgezeigt. Regelungen in der Geschäftsordnung wie etwa Redezeitbegrenzungen oder die Festsetzung verbindlicher Schlusszeiten für die Debatte im Rat, wie seinerzeit von Herrn Kollegen Krüger als Best Practice empfohlen, könnten die Funktionsfähigkeit der Räte ebenso steigern wie gar deren Verkleinerung. Es stünde eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Verfügung. Doch die den Gesetzentwurf tragenden Fraktionen haben genau denjenigen Weg gewählt, der verfassungsrechtlich im Zweifel das größte Konfliktpotenzial aufweist.

Viertens. Dieses Konfliktpotenzial manifestiert sich nämlich in der Frage, ob die getroffene Regelung – auch wenn sie auf der Ebene der Landesverfassung und nicht des einfachen Rechts erfolgt – mit dem Homogenitätsgebot aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz vereinbar ist.

In der Anhörung ist vereinzelt der Standpunkt eingenommen worden, die Verfassungsautonomie der Länder begründe wohl ein Hemmnis für das Bundesverfassungsgericht, eine Sperrklauselregelung auf der Ebene der Landesverfassung für verfassungswidrig zu erklären. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einfachgesetzlichen Sperrklauseln soll nach dieser Auffassung schlicht keine Rolle spielen. Dem liegt nach unserer Ansicht ein problematisches Verständnis des Homogenitätsgebots zugrunde.

Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2001 genießen die Länder innerhalb des von Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz gebildeten Rahmens Autonomie.

Das Bundesverfassungsgericht hat sodann in einer Entscheidung von 2008 noch einmal ganz deutlich auf die Parallele von Art. 28 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz zu dem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz hingewiesen und ausdrücklich ausgeführt, dass die Wahlrechtsgrundsätze auf Bundes- und Landesebene inhaltlich identisch sind.

Zudem hat das Bundesverfassungsgericht Sperrklauseln gerade nicht als bloße Ausgestaltung des

Wahlrechts, sondern als rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit qualifiziert, der daran zu messen ist, ob er einen legitimen Zweck verfolgt, und insbesondere an den Voraussetzungen der Geeignetheit und Erforderlichkeit zu messen ist.

(Unruhe – Glocke)

Nach dem Sinn und Zweck des Homogenitätsgebots kann es keine Abstriche an der grundgesetzlichen Gewährleistung der Wahlrechtsgrundsätze geben, nur weil diese durch den verfassungsändernden Gesetzgeber eines Landes vorgenommen werden.

Zu einer Änderung der Reichweite des Homogenitätsgebots wäre allenfalls der verfassungsändernde Gesetzgeber des Bundes und nicht der eines Landes berufen. Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit können dann aber nicht unter Rückgriff auf die Verfassungsautonomie der Länder, sondern eben allein unter Beachtung der bundesverfassungsrechtlichen Vorgaben gerechtfertigt werden. Erforderlich ist dann aber wieder der Nachweis der drohenden Funktionsstörung, den Sie, meine Damen und Herren, nicht erbracht haben und auch nicht gesetzlich fingieren können.

Mit Rücksicht auf diese doch erheblichen Zweifel und mit Blick auf die Vereinbarkeit einer auf Ebene der Verfassung verankerten kommunalen Sperrklausel mit dem Grundgesetz wird sich meine Fraktion bei der heutigen Abstimmung enthalten. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und Torsten Sommer [PIRATEN])

Vielen Dank, Herr Kollege Wedel. – Für die Piraten spricht Herr Kollege Sommer.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucher und Besucherinnen auf der Tribüne und im Livestream! Ich habe hier vieles gehört, was wir im Ausschuss schon besprochen haben und in der Anhörung bereits erfahren haben.

Mir hat aber eine Kleinigkeit, die Kollege Mostofizadeh genannt hat, besonders gefallen. Er hat berichtet, dass es im kommunalen Bereich immer mehr auf Große Koalitionen hinausläuft, und hat dann den Vergleich zur Bundesebene gezogen, wo wir inzwischen mehrfach Große Koalitionen hatten.

Wenn ich mir das ansehe, stelle ich fest, dass wir auf Bundesebene sogar eine 5-%-Sperrklausel haben. Selbst das hat anscheinend nicht dazu beigetragen, die Anzahl an Großen Koalitionen zu verringern.

(Beifall von den PIRATEN)

Eine Sperrklausel scheint also völlig unwirksam zu sein.

Gehen wir noch einmal ins Detail ihres Demokratieabbaugesetzes. Aktuell gehören viele Ehrenamtler nicht mehr den großen Parteien, sondern vielen kleinen Parteien oder auch Initiativen an. Herr Nettelstroth hat gerade gesagt: Die sollen sich doch gefälligst vorher zusammentun. – Was ist das für ein Demokratieverständnis?

(Zuruf von den PIRATEN: Gar keins!)

Ich muss mich doch nicht erst mit jemandem, mit dem ich nicht völlig auf einer Linie bin – zumindest nicht bei allen Punkten –, zusammensetzen, um zu sagen: Mit dir zusammen will ich eine komplett eigene Initiative machen oder eine eigene Partei gründen. – Das ist doch eben nicht damit gemeint, dass ich hinterher gemeinsame Fraktionen bilde. Das genau ist doch nicht der Punkt.

(Hans-Willi Körfges [SPD]: Gemeinschaften sind keine Fraktionen, Herr Kollege!)

Ich muss es doch schaffen, unterschiedliche Interessenlagen einzubringen, die vielleicht einen großen Teil Überschneidungen haben, aber in verschiedenen Bereichen trotzdem unterschiedlich ausgeprägt sind. Das ist doch der Punkt, den ich schaffen muss.

Herr Wedel, übrigens vielen Dank für Ihre Rede. Ich kann mich vollumfänglich anschließen. Sie haben zu 100 % gegen den Gesetzentwurf gesprochen. Wie kommen Sie auf eine Enthaltung? Wenn man Ihrer Logik folgt, dann muss man dagegen stimmen.

(Michele Marsching [PIRATEN]: Das haben wir im Ausschuss schon nicht verstanden! – Zurufe von der CDU)

Die Conclusio? Der Rest? Wunderbar.

(Michele Marsching [PIRATEN]: Wir sind da- gegen, also enthalten wir uns!)

Was mir besonders gefallen hat, ist Folgendes: Viele haben hier das Verfassungsgerichtsurteil von 1999 angesprochen. Es muss eine strukturelle Arbeitsunfähigkeit vorliegen, die nicht nur geschätzt ist oder bei Gelegenheit eintreten könnte; sie muss wirklich da sein und darf nicht nur wahrscheinlich sein.

Auch die kommunalen Spitzenverbände haben während der Anhörung gesagt: Ja, wir haben eine Mehrbelastung. – Allerdings hat niemand gesagt – niemand, auch kein Einzelkommunalvertreter, der geladen war –, dass sein Rat, seine Bezirksvertretung oder sein Ausschuss auch nur einen Beschluss nicht hätte fassen können. Nichts!