Protokoll der Sitzung vom 08.07.2016

Ich rufe auf:

7 Abschlussbericht der Kommission zur Reform

der Nordrhein-Westfälischen Verfassung (Ver- fassungskommission)

Abschlussbericht der Verfassungskommission Drucksache 16/12400

Zu dem Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion der CDU, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Fraktion der FDP und der Fraktion der PIRATEN Drucksache 16/3428 – 2. Neudruck

In Verbindung mit:

Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, der Fraktion der CDU, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und

der Fraktion der FDP Drucksache 16/12350

erste Lesung

Zuallererst erteile ich mit großer Freude dem Vorsitzenden der Verfassungskommission, Herrn Kollegen Prof. Dr. Bovermann, das Wort zu einer mündlichen Berichterstattung.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Innenminister Willi Weyer leitete 1964 die Einbringung eines Gesetzentwurfs zur Verfassungsänderung mit folgenden Worten ein – ich zitiere –:

„Wenn man die Urschrift der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen in einem gläsernen Schrein auf Samt gebettet in der Eingangshalle dieses Hohen Hauses öffentlich zur Schau stellen würde, so würden neben den zahlreichen Schulklassen nur wenige Aktivbürger dieses Landes an diesem Schrein vorbeidefilieren, und kaum einer von ihnen würde den ehrwürdigen Schauer empfinden, der heute noch die Besucherströme kennzeichnet, die in Washington an der 175-jährigen Verfassungsurkunde der Vereinigten Staaten von Amerika täglich vorüberziehen.

Gleichwohl oder gerade deshalb ist es ein außergewöhnlicher, ja sogar besonderer Tag, an dem der Landtag sich daran begibt, die Verfassung des Landes zu ändern, und damit das Podium des Verfassungsgebers betritt. Dies gilt zunächst einmal ohne Rücksicht auf Rang und Umfang der in Betracht gezogenen Verfassungsänderung; dies gilt mit Rücksicht auf den Rang, der der Lex fundamentalis dieses Landes gebührt.“

Meine Damen und Herren, Herr Weyer spricht nicht nur die geringe Bekanntheit der Landesverfassung an, die im Schatten des Grundgesetzes existiert, sondern auch den Ausnahmecharakter von Verfassungsänderungen in Nordrhein-Westfalen.

In der Tat sind Verfassungsänderungen hier eher selten. Insgesamt ist die Verfassung bisher nur in 20 Fällen geändert worden. Das liegt sicher auch daran, dass man Bewährtes nicht verändern muss; denn – darin sind wir uns doch alle hier in diesem Hohen Hause einig, meine Damen und Herren – NordrheinWestfalen hat eine gute Verfassung.

(Beifall von Georg Fortmeier [SPD])

Gleichwohl sind Verfassungen nicht auf Ewigkeit und in Stein gemeißelt. Nach heutigem Verständnis stehen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit in einem Spannungsverhältnis, das von Zeit zu Zeit Anpassungen erforderlich macht.

Bisher sind stets einzelne Änderungen vorgenommen worden – entweder solche, die durch die Regierung oder durch regierungstragende Fraktionen eingebracht wurden, oder solche, die durch die Opposition eingebracht wurden.

Nun hat der Landtag nach 60 Jahren einen neuen Weg beschritten. Die Kommission zur Reform der Nordrhein-Westfälischen Verfassung wurde von allen Fraktionen beauftragt, einen kompletten Teil der Verfassung – ca. 60 Artikel – zu überprüfen. Es wird noch zu zeigen sein, inwieweit diese Besonderheit auch die Arbeit der Kommission geprägt hat.

Meine Damen und Herren, die Verfassungskommission ist im Juli 2013 eingesetzt worden. Nun, nach drei Jahren Beratungen, liegt Ihnen der Abschlussbericht vor, der in der letzten Sitzung am 27. Juni dieses Jahres mit den Stimmen von SPD, CDU, Grünen und FDP verabschiedet worden ist.

Der Bericht dokumentiert erstens den Arbeitsprozess. Er präsentiert zweitens die Ergebnisse in Form von Änderungsvorschlägen. Der Bericht enthält drittens auch die Punkte, bei denen kein Konsens gefunden werden konnte.

Auf alle drei Aspekte möchte ich im Folgenden gerne eingehen, vorher aber noch einmal kurz den Einsetzungsbeschluss in Erinnerung rufen.

Die Verfassungskommission hatte den Auftrag, den dritten Teil der Landesverfassung zu überprüfen und dem Landtag Ergänzungs- und/oder Streichungsvorschläge für eine moderne, zukunftsfähige Verfassung zu unterbreiten.

Ähnlich wie bei Enquetekommissionen gehörten dem Gremium neben den Abgeordneten je ein Sachverständiger pro Fraktion als beratende Mitglieder an. Auch die Landesregierung und die kommunalen Spitzenverbände waren beratend vertreten.

Die Kommission sollte überparteilich, konsensual, transparent und ergebnisoffen arbeiten.

Die konsensuale Ausrichtung wurde dadurch verstärkt, dass Entscheidungen nur mit einer Zweidrittelmehrheit zu treffen waren.

Um die Transparenz zu gewährleisten, waren alle Sitzungen der Kommission öffentlich und wurden im Internet übertragen. Außerdem waren alle Dokumente frei einsehbar.

Schließlich sah der Einsetzungsbeschluss nicht nur die Information der Öffentlichkeit vor, sondern auch deren effektive und umfassende Mitwirkung. Die Bürgerinnen und Bürger konnten sich sowohl auf klassischem Weg als auch durch E-Mails und Blogeinträge direkt an die Kommission wenden.

Ich komme nun zum eigentlichen Arbeitsprozess der Kommission. In einem ersten Schritt mussten die im Einsetzungsbeschluss aufgelisteten Punkte in einen

sinnvollen Zusammenhang und eine zeitliche Abfolge gestellt werden. Dazu wurden vier Themenkomplexe gebildet:

1. Parlamentarismus und Landesregierung

2. Partizipation

3. Schuldenbremse

4. Kommunen und Verfassungsgerichtshof

Für den weiteren Verlauf der Kommissionsarbeit war entscheidend, die aufgeworfenen Fragen nicht Punkt für Punkt abzuhandeln, sondern nach dem Motto „Alles hängt mit allem zusammen“ in einem Gesamtzusammenhang zu verhandeln.

Das erforderte die Suche nach Kompromissen sowohl innerhalb der Themenkomplexe als auch übergreifend. Ein solches Verfahren birgt sowohl die Chance der großen Lösung als auch das Risiko eines Minimalkonsenses.

Die weitere Arbeit vollzog sich dann in drei Phasen.

In der Informationsphase fanden zu jedem Themenkomplex Anhörungen statt, die anschließend ausgewertet wurden. Darüber hinaus wurden zwei Gutachten zur Schuldenbremse in Auftrag gegeben.

Im Herbst 2015 schloss sich daran die Verhandlungsphase an, in der unter Beteiligung der Sprecher der Fraktionen, der Sachverständigen und teilweise auch der Fraktionsvorsitzenden die mehr als 30 Einzelpunkte beraten wurden.

In den meisten Fällen konnten ein Konsens erzielt und entsprechende Texte ausformuliert werden. Übrig blieb der sogenannte politische Korb mit den Punkten, für die keine Einigung gefunden wurde.

Schließlich umfasste die Entscheidungsphase die beiden letzten Sitzungen, in denen der Öffentlichkeit die Vorschläge der Verfassungskommission präsentiert wurden und abschließend beraten wurden.

Die Arbeit der Verfassungskommission wurde von einer Vielzahl von Zuschriften, E-Mails und Blogeinträgen begleitet, die vor allem den Themenkomplex „Partizipation“ betrafen. Ratsversammlungen und Integrationsräte forderten die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für alle. Eine Unterschriftenkampagne unterstützte die Forderung nach mehr direkter Demokratie.

Besonders zu würdigen sind die Vorschläge von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern. Nicht alle bezogen sich auf den Aufgabenbereich der Kommission, zum Beispiel die Forderung nach Errichtung eines Freistaates Nordrhein-Westfalen. Aber alle wurden zur Kenntnis genommen und geprüft. Der Vorschlag zur Einführung des Amtes eines Alterspräsidenten wurde auf Anregung eines Bürgers in unseren Änderungskatalog aufgenommen.

Insgesamt kann ich feststellen: Die Kommission hat intensiv und konstruktiv zusammengearbeitet und ihre komplexe Aufgabe bewältigt.

Die Ergebnisse umfassen einen Katalog von 16 Änderungsvorschlägen, die zugleich Gegenstand des von den Fraktionen eingebrachten Gesetzentwurfes sind.

Ein erster Teil der vorgeschlagenen Änderungen dient dazu, den Landesparlamentarismus zu stärken. Hintergrund sind der Funktionswandel der Landtage und die Kompetenzverschiebungen zugunsten des Bundes und des europäischen Mehrebenensystems.

Um dem entgegenzuwirken, sollen Parlamentsinformationsrechte Verfassungsrang erhalten und Beteiligungsrechte des Parlaments in EU-Angelegenheiten eingeführt werden, womit endlich auch Europa Eingang in die Landesverfassung findet. Auch die Wahl aller Verfassungsrichter durch den Landtag stärkt dessen Position und schafft eine einheitliche Legitimation für das dritte Verfassungsorgan.

Eine zweite Gruppe von Änderungen soll dazu beitragen, die Verfassung und das politische System für die Bürger verständlicher zu machen. Hierzu gab es in der Kommission unterschiedliche Meinungen. Während ein Teil der Sachverständigen keine Verfassung als „Volkslesebuch“ wollte, hob ein anderer die Integrationsfunktion der Landesverfassung hervor. Im Sinne der zuletzt genannten Position sollen in Zukunft die Funktionen des Landtags, die Rechte der Abgeordneten, die Rolle der Landtagsausschüsse und die Aufgaben der Fraktionen jeweils kurz benannt werden.

Der dritte Teil der Vorschläge zielt auf die Anpassung des Verfassungstextes an die Wirklichkeit und die Förderung eines modernen Verfassungsverständnisses. Hierzu gehören die begrifflichen Änderungsvorschläge zur Abgeordnetenentschädigung und zur Eidesformel der Landesregierung sowie Streichungen der Ministeranklage, des Gegenvorstellungsrechts der Landesregierung und des von der Landesregierung eingeleiteten Volksentscheids.

Dahinter steht der Gedanke eines modernen Parlamentarismus, der im Unterschied zur Verfassungslehre des 19. Jahrhunderts durch einen Dualismus von Regierung und regierungstragenden Fraktionen einerseits und Opposition andererseits geprägt wird.