Protokoll der Sitzung vom 15.09.2016

(Beifall von der FDP)

Wir werden den Antrag ablehnen. – Schönen Dank.

Vielen Dank, Herr Kollege Alda. – Der nächste Redner ist der fraktionslose Abgeordnete Schwerd.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Sozialpolitik klaffen Worte und Taten immer besonders weit auseinander. Mich erinnert das an das Buch „1984“. Orwell beschreibt, wie man mit „Zwiesprech“ und „Zwiedenk“, also mit Sprache, die Realität nach seinen Wünschen formt. Die tatsächlichen Gegebenheiten nimmt man einfach gar nicht zur Kenntnis.

So ist das auch bei uns. Seit 2010 zieht die Ministerpräsidentin durch das Land und lässt keine Gelegenheit aus, zu verkünden, dass „wir in NRW“ solidarisch leben und hier „kein Kind zurückgelassen“ wird, so zuletzt am 2. Juni, als Frau Kraft in der Staatskanzlei mit Brigitte Mohn von der Bertelsmann Stiftung den Abschlussbericht des Modellprojektes „Kein Kind zurücklassen! – Kommunen in NRW beugen vor“ vorstellte. Ich glaube, wir haben einen Kubikmeter Hochglanzpapier dazu bekommen.

Und jetzt meldet dieselbe Stiftung, dass die Kinderarmut weiter gewachsen ist – und zwar auf Rekordhöhe vor allem in NRW. So leben beispielsweise in Gelsenkirchen nahezu 40 % der Kinder von Sozialhilfe. Wir machen sie zu Menschen dritter Klasse – ohne Zukunftschancen, ohne Perspektiven.

Hartz IV bedeutet für ein Schulkind 270 € im Monat. Ich frage Sie: Wie soll das gehen? Überlegen Sie doch mal, was allein ein Paar Schuhe oder eine Jeans kostet, wie schnell die Kinder da herausgewachsen sind oder wie schnell sie eine Kühlschrankfüllung verputzen. Wollen Sie diese Realität nicht langsam zur Kenntnis nehmen?

Arme Kinder werden zu armen Erwachsenen, die dann wiederum arme Kinder bekommen.

In unserem Land ist das besonders ausweglos.

Wir sehen seit Jahren eine offenkundige Spirale der Armut. Die Landesregierung wie auch die Bundesregierung wissen das sehr wohl. Sie versucht uns, und ich fürchte auch sich selbst, mit Realitätsverweigerung und orwellschem Zwiesprech darüber hinweg zu täuschen.

Und was fällt jetzt der GroKo zu dieser unstrittigen Diagnose ein? – Vom gleichen Gift immer noch mehr. Jetzt sollen es mal wieder Sanktionsverschärfungen richten. Glauben Sie, dass dadurch ein einziger Mensch in Lohn und Brot gebracht werden wird? – Ich bitte Sie! Wovon träumen Sie nachts? – Was machen denn Sanktionen bis unter das Existenzminimum mit den Menschen? Wie sieht es da mit der Menschenwürde aus?

Und zum Kindergeld: Niedrigverdiener sollen also jetzt ganze zwei Euro mehr Kindergeld erhalten, während Gutverdiener mehr als hundert Euro Steuerfreibeträge dazu bekommen. Für Hartz-IV

Bezieher werden selbst diese zwei Euro natürlich sofort wieder verrechnet. Für die bleibt nichts. Wie wirkt denn das auf die Betroffenen? – Das ist doch an Verachtung kaum noch zu überbieten.

(Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Nehmen Sie sich bitte einmal ein Beispiel an Frau Landtagspräsidentin Gödecke. Sie hat Courage bewiesen. Sie hat in einem Interview die Fehler der Schulpolitik mit dem G8 angeprangert. Sie hat endlich einmal die Dinge bei ihrem wahren Namen genannt. Sie sagte: „Wir Erwachsene versündigen uns an euch.“

Die Redezeit.

Und recht hat sie.

(Heiterkeit)

Wir versündigen uns an den Schulkindern. Wir lassen sie in Schulgebäuden sitzen, in die es reinregnet und bei denen die Fenster herausfallen.

Wenn das Bankensystem in Schieflage gerät, nehmen wir Millionen und Milliarden in die Hand. Wenn aber das Bildungssystem in Schieflage gerät, stehen wir an der Seitenlinie und schauen zu.

Die Redezeit.

Und genauso versündigen wir uns auch an den 500.000 Kindern und ihren Eltern, die in NRW in Armut leben – ohne reelle

Chance. Ich verstehe, dass das alles unangenehm zu hören ist, …

Herr Kollege

Schwerd.

…aber vielleicht müssen wir das jetzt mal zu Ende hören.

(Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Nein, nein, nein. Auf keinen Fall. Herr Kollege Schwerd, ihre Redezeit ist bereits erheblich überschritten.

Hartz IV muss weg. Wir brauchen menschenwürdige Lebens- und Arbeitsverhältnisse.

Vielen Dank, Herr Kollege Schwerd.

Wir brauchen ein sanktionsfreies Teilhabe- und Existenzminimum …

(Die Präsidentin schaltet das Mikrofon des Redners aus. – Beifall von den PIRATEN)

Ich mache das ja nicht oft, aber man muss schon die Regeln einhalten. Das ist ja auch häufig genug gesagt worden.

Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Schmeltzer.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die Argumentation, die ich gerade von den Kolleginnen und Kollegen von SPD, Grüne, CDU und FDP gehört habe, die sich mit den Inhalten dieses Antrages der Piraten auseinandergesetzt haben, bin ich dabei, zu 99 % zuzustimmen. Die Erwiderungen auf diesen Antrag waren alle durch die Bank richtig.

Bereits in der Debatte zum 9. Änderungsgesetzes des SGB II Anfang Juli wurde auch das Thema „Sanktionen“ angesprochen. Damals habe ich bedauert, dass es zu keinen Änderungen bei den Sanktionsvorschriften gekommen ist.

Dabei hatte ich betont, dass die Landesregierung im Gesetzgebungsverfahren stets eine Reform der Sanktionen im SGB II über den Bund angemahnt hat und – das darf ich Ihnen versichern – auch in Zukunft anmahnen wird.

Ziel der Landesregierung ist und bleibt, das grundgesetzlich geschützte Existenzminimum auch im Sanktionsfall zu gewährleisten. Insbesondere vor dem Hintergrund dieser Debatte kann man nicht, wie in diesem Antrag, von Sanktionsverschärfungen sprechen. Denn die Sanktionen wurden gerade nicht durch das 9. Änderungsgesetz zum SGB II geändert, sodass es weder zu Lockerungen noch zu Verschärfungen kommen kann.

Die kürzlich veröffentlichten sogenannten fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit, auf die Sie sich beziehen, Herr Sommer, sind nicht neu. Sie sind eine gesetzliche Klarstellung. Sie wurden aktualisiert, und es wurden Regelungsbeispiele ergänzt, Herr Kollege Kerkhoff hat bereits darauf hingewiesen.

Auf eines dieser Regelungsbeispiele beziehen Sie sich: Ersatzansprüche gegenüber Müttern, die den Vater des Kindes nicht nennen. Die Beispiele sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Jobcenter bei ihrer Arbeit unterstützen, das Verwaltungshandeln vereinfachen und beispielhaft deutlich machen, was der Gesetzgeber mit abstrakten Rechtsbegriffen meint.

Der § 34 SGB II, um den es in diesem Zusammenhang geht, wurde inhaltlich nicht geändert, sondern es gab nur eine Klarstellung. Die BSG-Rechtsprechung – darauf wurde hier schon hingewiesen – hatte den Wortlaut der Norm sehr eng ausgelegt.

Eine derartig enge Auslegung war aber seitens des Gesetzgebers nie vorgesehen, zumal auch im § 34 SGB II weiterhin der Satz zu finden ist, dass von einem Ersatzanspruch abzusehen ist, wenn er eine besondere Härte bedeuten würde.

Meine Damen und Herren, in den fachlichen Hinweisen heißt es konkret zu dem Beispiel, Herr Sommer, was Sie in Ihrem Antrag angesprochen haben, ich zitiere:

Die Weigerung einer Mutter eines nichtehelichen Kindes, den Vater zu benennen, kann im Einzelfall sozialwidrig sein. Hierbei ist eine Abwägung der Interessen der Mutter und des Kindes einerseits und der der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler andererseits vorzunehmen. Es ist nicht sozialwidrig, den Vater nicht zu nennen, wenn mit Gefahr für das Leben der Mutter oder des Kindes zu rechnen ist.

Es geht also immer um den konkreten Einzelfall und ein Abwägen der Interessen. Eine Namensnennung des Vaters durch die Mutter ist unzumutbar, wenn dadurch Gefahren für das Leben des Kindes, aber auch der Mutter ausgehen könnten.

Es geht außerdem darum, dass Väter ihren Unterhaltsverpflichtungen nachkommen sollen, und nicht der Steuerzahler für sie einspringen muss. Das Geld, das hier ausgegeben wird, wird in unserem Sozialsystem an anderen Stellen dringend gebraucht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auch noch einen weiteren, aus meiner Sicht, sehr ernsten Punkt ansprechen, insbesondere was die Wortwahl des Antrags angeht. Sie sprechen von Sanktionen, die für – ich zitiere – „Druck- und Konfliktsituationen teilweise für körperliche Auseinandersetzungen im Jobcenter sorgen.“

Sie steigern sich noch, auch hier zitiere ich:

„Diese Situation noch weiter anzuheizen, ist nicht nur fahrlässig, sondern ein vorsätzliches In-KaufNehmen von weiteren Auseinandersetzungen, die bis zu Amokläufen führen können.“

Ich halte diese Wortwahl, Herr Kollege Sommer, für wenig gelungen und kontraproduktiv. Ich hoffe, dass diese Worte den falschen Leuten nicht genau dafür eine Rechtfertigung bieten, was Sie eigentlich verhindern wollen.

Als Politiker haben wir sowohl eine Verantwortung für Leistungsberechtigte, die durch eigene Kraft ihr Existenzminimum nicht sicherstellen können, aber wir haben auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern eine Verantwortung, die jeden Tag schwierige Aufgaben bewältigen müssen. – Herzlichen Dank.